Lieber in der Schweiz Ausländer sein als Zigeuner zu Hause
Die Roma, die grösste unbekannte Minderheit in der Schweiz
Das Bild der Zigeuner ist geprägt von Klischees: Entweder sitzen sie romantisch am Lagerfeuer, oder sie stehlen einem die Brieftasche. Die Zeitungen berichten von Gruppen aus dem Elsass, unterwegs auf Diebestour, und bestätigen mit diesen Meldungen alteingesessene Ängste. Doch es gibt auch die anderen, die nicht von sich reden machen. Sie sind zahlreicher. Und sie wohnen manchmal seit Jahrzehnten in der Schweiz.
“Wenn ich mich bei einem Chef vorstelle, sage ich lieber von Anfang an, wer ich bin”, erzählt Zivko. “Denn wenn ich mich als Serbe ausgebe, wie es in meinem Pass steht, sagen die Kollegen auf dem Bau bald einmal: Er ist kein richtiger Jugoslawe, sondern ein Zigeuner.” Zivko ist dunkelhäutig wie ein Inder. “Bei mir merken sie es sofort.”
Im Unterschied zu Zivko verbergen die meisten Zigeuner in der Schweiz ihre Identität. Sie reisen ein mit Papieren ihres Herkunftslandes, und kein Zöllner interessiert sich dafür, wer sie sind und warum sie kommen. Denn Zigeuner, das sind immer noch die mit Wohnwagen, meint man.
Dabei sind sie die grösste unbekannte Minderheit der Schweiz, sie leben in Wohnungen und arbeiten in Betrieben und Büros wie andere auch. Schätzungen der Roma selber besagen, dass sie zwanzigtausend zählen; vielleicht sind es doppelt soviel. Sie kommen in der alten Tradition ihres Volkes, das gewohnt ist an soziale Mimikry, an Pässe irgendwelcher Obrigkeiten, an Personennamen, denen man die Kultur nicht ablesen kann. Kemal ist gemäss Pass ein Makedonier, Jan ist Pole, Irena Bulgarin, Samir Serbe. Und Stefan ist Schweizer, er ist hier geboren.
Sie offenbaren sich nur untereinander und erkennen sich an ihrer wichtigsten Gemeinsamkeit, der Sprache. Ein Rom oder eine Romni aus dem südlichsten Makedonien und dem nördlichsten Polen vermögen ohne Dolmetscher miteinander zu sprechen, wenngleich sie einzelne Wörter so wenig verstehen wie ein St. Galler die Ausdrücke der Walliser. Doch die gemeinsame Grundlage ihrer Sprache liegt in der Grammatik, und diese beruht auf Sanskrit.
Kemal kommt aus der Dreiländerecke Makedonien/Bulgarien/Griechenland. “Wir Zigeuner lebten hier seit Jahrhunderten Haus an Haus mit Nichtzigeunern.” Seine Familie erhielt bei der Landverteilung unter Tito etwas Boden, der knapp für den Eigenbedarf reichte. Im übrigen arbeiteten die Männer im Tabakanbau oder suchten sich einen Verdienst als kleine Händler. Unter Tito, dessen Regierungszeit viele Roma zur goldenen Ära erklären, konnte Kemal studieren; er entschied sich für Soziologie, weil er sich davon Aufschluss über die sozialen Verhältnisse erhoffte, die er als Roma trotz aller Gleichberechtigung als ungleich empfand.
Als Jugoslawien auseinanderbrach und die Arbeitslosigkeit anstieg, folgte er seinen Verwandten, die als Saisonarbeiter in der Schweiz ein Auskommen gefunden hatten. Damals brauchte die Schweiz Arbeitskräfte. Bei der Privatschule Benedikt lernte Kemal schnell Deutsch.
Viele kamen wie er. Sie alle widersprechen den vorgefassten Bildern von Zigeunern. Sie haben nichts mit lustigem Zigeunerleben zu tun und nichts mit dem Zigeunerbild der Wiener Operetten. Sie spielen – von Ausnahmen abgesehen – keine Geigenmusik. Sie betreiben keine Wahrsagerei. Sie stehlen und lügen wohl nicht mehr als altansässige Schweizer auch. Sie sind keine Jenischen – diese in der Schweiz bekanntere Zigeunergruppe, deren Familien durch die Aktion “Kinder der Landstrasse” auseinandergerissen wurden. Von ihnen unterscheiden sie sich durch die Sprache und durch die ganze Lebensweise: Die osteuropäischen Roma fahren nicht, sie haben nie im Wohnwagen gelebt. Sie sind nicht auf der Durchreise, es sei denn, dass im Verständnis der Roma das ganze Leben eine Reise ist.
Ihre Heimat: die Sprache
Selbst wenn sie mit den Nachbarn in ihrem Herkunftsland in Frieden gelebt haben wie Kemal in Makedonien, der kulturelle Unterschied blieb stets bestehen. Flog irgendwo eine faule Geschichte auf, sprach der Lehrer von “Zigeunermachenschaften”, nicht ohne zu betonen, dass Kemal selbstverständlich “ein guter Zigeuner” sei. Wenn zwei Fussballmannschaften gegeneinander spielten, waren die bösen Gegner stets “Zigeuner”, mochte die Mannschaft nun “Dynamo” oder “Roter Stern” heissen. Und für die wirklichen Zigeuner blieben die Nichtzigeuner anders. “Gadsche” nennen sie sie, “aber ein Gadscho kann auch ein Freund sein”, sagt Kemal. Und er betont: “Ich habe dicke Freunde auch unter den Gadsche.”
Sie alle verstehen sich als Roma, als Nachfahren jenes Volkes, das einst aus Indien kam und im Spätmittelalter in vielen einzelnen Gruppen in Europa anlangte. Den ersten Zug von Zigeunern durch die Schweiz erwähnen Chronisten im Jahr 1418; die Tagsatzung zu Luzern erliess 1510 eines der frühesten Verbote in Europa gegen “Zyginer”.
Der Prozess der Staatenbildung in Europa war bereits abgeschlossen, als die Zigeuner kamen, die Landkarte ausgemalt, das Land verteilt, wenn auch die Staaten meist nicht sehr stabil waren. So war kein Palästina für dieses Volk zu finden, keine Heimstätte. Anderseits gab es auch noch keine Festung Europa, welche die illegalen Zuwanderer wirksam abwehrte. So entstand das Schillernde, das die Zigeuner bis heute prägt: Sie wurden zu einem europäischen Volk, ohne eine Heimat zu besitzen. Und ein Volk ohne Land ist ein Volk ohne Rechte.
Was sie zusammenhält, ist ihre Muttersprache: das Romanes. “Die Sprache ist unsere Heimat”, sagen sie alle. Der Rest ist Anpassung. Sie sind multikulturell und je nach Land katholisch, muslimisch, orthodox oder protestantisch.
“Wir sprachen zu Hause Romanes, in der Schule Makedonisch, und auf dem Heimweg wechselten wir hin und her wie in der Schweiz die Kinder von Einwanderern.” Das ist typisch für jeden Roma: Sie sind mehrsprachig. Der 42jährige Restaurantbetreiber Ismail im Kanton Solothurn spricht Spanisch und Italienisch – “wegen des Personals” -, darüberhinaus kann er Deutsch, Türkisch, Serbisch, Makedonisch und und seine Muttersprache Romanes.
In der Zigeunerkultur fehlt der Beruf des Dolmetschers. Sprechen können gehört zur Überlebensstrategie, genauso wie die berufliche Wandlungsfähigkeit. Seit der 34jährige Kemal vor 14 Jahren in die Schweiz kam, arbeitete er in einem Altersheim, in einer Papierfabrik, in Restaurants, in einer Werkstatt. Zigeuner und Zigeunerinnen finden sich in Spitälern wie in mechanischen Werkstätten, in Bankbüros wie Schallplattengeschäften, es gibt selbständige Inhaber von Elektronikfachgeschäften und sogar Ärzte. Sie tragen bei zum offiziellen Bruttoszialprodukt – und manchmal zum Reichtum der Schattenwirtschaft.
Offen und konservativ
Über alle Vielfalt hinweg lassen sich bei den Roma aller Länder doch einige Grundzüge ausmachen: Sie sind internationalistisch, ihre Stärke liegt im Handel, sie betonen den Unterschied zwischen Familie und Oeffentlichkeit.
Die Familie geht über alles, zu ihr zählen auch die Familien der Geschwister. “Den Ausdruck Cousin und Cousine habe ich erst in der Schweiz kennengelernt”, erklärt Zivko, “bei uns sind alle Brüder und Schwestern.” In der grossen Zigeunerfamilie zählt heute noch der Respekt vor den Älteren – und vor allem vor der Ältesten, die dank ihrer Weisheit und ihrer grossen Kinderzahl das Sagen hat. “Ich würde meine Eltern nie ins Altersheim schicken.”
Auch bei den Roma in der Schweiz sind noch strenge Heiratsbräuche zu finden; zwar wird nicht mehr das Entführungsritual durchgespielt, aber die Familie der Angebeteten ist von einer Verwandten anzufragen und mit Geschenken günstig zu stimmen, damit sie die heiratswillige Tochter freigibt. Und ist diese nicht mehr Jungfrau, kann sie zurückgeschickt werden. Erfahrene Frauen prüfen das Leintuch und wissen Hühnerblut von Menschenblut zu unterscheiden.
Ein Vergehen ist es, beim Begräbnis eines Familienangehörigen nicht anwesend zu sein. “Das Begräbnis wird aufgeschoben, bis alle da sind.” Zivko sagt: “Wenn du nicht gehst, gehörst du nachher nicht mehr zur Familie.” Die Familienangehörigen halten Totenwache.
“Zigeuner haben eine grosse Spiritualität”, meint Kemal. Die Katholiken unter ihnen nehmen an Wallfahrten teil, die Muslime feiern den Heiligen Vasilie mit Fest und Truthahn, alle wissen um den Geist der Toten. “In der 42. Nacht nach dem Tod einer Person kehrt sie zurück, man kann mit ihr reden”, bestätigt der eine. “Ich habe Angst vor bösen Geistern, den Vampiren”, gesteht der andere. Über den Tod darf eigentlich gar nicht gesprochen werden.
Roma sind bei aller Offenheit traditionell und konservativ. Werte gelten über Zeit und Länder hinweg und ändern sich nur langsam. Es gibt zwar kein Gesetz wie die Zehn Gebote der Bibel, aber ungeschriebene Gesetze: “Du sollst einen Rom immer unterstützen”, beispielsweise. Ein Zigeuner wird auf der Autobahn ausscheren, wenn er einen Wagen in Panne sieht, von dem er annimmt, seine Insassen seien Zigeuner. Gadsche aber bleiben stets Fremdlinge, so gastfreundlich sie auch empfangen werden. “Das hat mit der Diskriminierung zu tun”, sagt Kemal, “die Abgrenzung geht zuerst von der einen Seite aus.” Aufgrund persönlicher und kollektiver Erfahrungen sind viele Roma misstrauisch geworden.”
“Die wichtigste Frage haben Sie nicht gestellt”, sagt Zivko, der Bauarbeiter aus Serbien, im Anschluss an ein Gespräch über die Kultur der Roma. Er wirkt geradezu aufgebracht. Er zeigt auf sein Herz. Dann erläutert er: “Meine Grossmutter hat gesagt: Wenn zehn Roma einander schlagen, tun sie es mit Kraft und mit Herz. Wenn ein Serbe schlägt, tut er es ohne Herz und verursacht grosse Schmerzen.”
Dass die kulturelle Welt der Roma anders ist, bekommen sie im Kontakt mit den Behörden zu spüren, ohne dass diese indes davon etwas merken. Wenn der Flüchtlingsbetreuer fragt, wann dieser Fluss oder jene Grenze bei der Herreise passiert wurde und der Zigeuner in seiner Zeitlosigkeit nur die Wärme der Nacht anzugeben weiss, ist das für den Vertreter des Uhrenlandes Schweiz mehr als suspekt. Oder wenn der Rom, der sich ohne Beschäftigung im Asylbewerberheim langweilt, auf der Strasse alte Videoapparate findet, sie zurechtflickt und den Flüchtlingen für zwanzig oder dreissig Franken weiterverkauft, heisst es in der Boulevardzeitung “Blick”: Sie sind reich. Sie machen Geschäfte. Dabei betätigen sie sich nur in ihrer angestammten Händlerkultur.
In der Heimat verfolgt
“Es ist nur zum Teil wahr, dass die Roma aus wirtschaftlichen Gründen in die Schweiz kamen”, erklärt der 35jährige Stefan, der als Religionslehrer seine Leute kennt wie kaum einer. “Als Ceaucescu stürzte, gingen zuerst die Roma weg, während die Rumänen blieben, das hat einen Grund.” Der Grund heisst Rassismus. Im kleinen rumänischen Ort Bolintin Deal wurden im April 1991 in einer einzigen Nacht achtzehn von Zigeunerfamilien bewohnte Häuser niedergebrannt, nachdem ein Nichtzigeuner ermordet worden war. 1992 kam es in der Hauptstadt des Distrikts Harghita in Transsilvanien zu einer Säuberungswelle gegen Zigeuner. “In der Tschechischen Republik waren in den letzten Jahren Überfälle auf Roma an der Tagesordnung, meist wurden sie von Skinheads verübt”, erläutert Stefan, der sich dort aufhielt; “viele Roma haben schlicht Angst um Leib und Leben.” In Ungarn wie in der Slowakei gibt es Dörfer mit Ausgangssperren von abends sechs bis morgens sechs, ausschliesslich für Roma. In den Kriegen der exjugoslawischen Staaten wurden Zigeuner oft als erste zerrieben.
Fast alle erlebten sie Hindernisse auf dem Weg zu besseren Berufen. “Ich habe nach der Grundschule Schneiderin gelernt und wollte nachher eine Ausbildung als Krankenschwester machen”, erzählt die vierundvierzigjährige Irena, die 1981 aus Bulgarien in die Schweiz kam. “Doch gab mir die Parteisekretärin die Antwort, ich hätte ja schon einen Beruf.” Irena ist eben eine Romni. Eigentlich heisst sie Feruse mit Vornamen, aber in Bulgarien wurden die Roma gezwungen, landesübliche Ruf- und Familiennamen anzunehmen. “So heisse ich eben für die einen so und für die anderen so, ich kann damit leben.” “Roma bekommen keine Depressionen” bestätigt ihr Mann lachend, “und gehen nie zum Psychiater.”
“Ich war vor kurzem wieder in meiner Heimat, als meine Mutter starb.” fährt Irena fort. “Sie würden weinen, ich habe Kinder gesehen, die sich um eine halbvolle Tüte schlechter Milch gestritten haben. Der Staat tut nichts.” Irena möchte Ausbildungsprojekte für die Roma in ihrer Heimat in Gang setzen.
Die Diskriminierung der Zigeuner hat in Osteuropa Tradition, sie gelten als “Randgruppe”, nicht als “nationale Minderheit”. Ihrer dunklen Haut wegen werden sie schnell Zielscheibe rassistischer Übergriffe – wobei solche auch manchmal einen Nichtzigeuner treffen.
“Nur wenn die Gadsche unsere Musik brauchen, holen sie uns”, scherzt Irenas Mann bitter. “Wenn das Fest vorbei ist, heisst es: Bye-bye Zigeuner.” Und er fügt hinzu: “Zigeuner dürfen nur für die andern den Clown spielen.”
So sind viele aus den osteuropäischen Ländern fortgezogen, sobald sie ein Loch im Grenzzaun erblickten. Familienangehörige folgen ihnen. Für viele ist es Flucht vor Repression oder Hunger oder vor beidem zugleich.
In der Schweiz sind sie doppelt entwurzelt: Sie sind als Auswanderer ihres Heimatstaates ledig, und sie können ihre Kultur nur im Verborgenen leben.
Sie erfahren hier all die Diskriminierungen, die jeder Ausländer kennt. “Wir ziehen Schweizer vor”, heisst es bei der Stellenbewerbung. Irena hat als Krankenschwester in einer Geriatrieabteilung erlebt, wie eine ältere Frau sagte, sie wolle sich nicht von einer “Zigeunerin” pflegen lassen. Doch die Oberschwester deckte sie, “weil ich immer ausgezeichnete Zeugnisse erhielt.” Als die Kolleginnen fragten: “Bis du wirklich Zigeunerin?”, stritt sie es ab.
Isamil sagt: “Ich glaube, ich könnte Schwierigkeiten mit meinen Kunden bekommen, wenn sie wüssten, dass ich Zigeuner bin.” Er ist erfolgreicher Pächter eines Restaurants. “Aber wir Zigeuner sind immer schön angezogen”, fügt er lächelnd hinzu. Er widerspricht dem Bild vom schmutzigen Zigeuner und bleibt unerkannt.
Der Wunsch, anonym zu bleiben, kommt dem Wunsch der Schweizer und anderer Behörden entgegen, nichts wissen zu wollen. Solange die Roma in den anderen Passgemeinschaften untertauchen, kommt die Frage nicht auf, weshalb Zigeuner ihre Länder verlassen. Man würde politische Gründe finden. Und das könnte Konsequenzen für die Aufnahmeländer haben. Sie müssten den Asylgrund der rassistischen Verfolgung anerkennen. Sie müssten die Verhältnisse bei Ausweisungen genauer prüfen. Viele Roma sind unbesehen in die Gebiete des früheren Jugoslawien zurückgeschafft worden und gerieten dort in Schwierigkeiten.
Oft stimmen auch ihre Papiere nicht. Stefan fragt: “Wie können ihre Papiere stimmen, wenn sie aus einem jugoslawischen Nachfolgestaat schon in den anderen geflohen sind und keiner ihnen gültige Pässe ausstellt, weil eben keiner die Zigeuner haben will?”
Die Lage ist grotesk: Während viele Ausländer als Wirtschaftsflüchtlinge einreisen, aber politisches Asyl verlangen, flüchten viele Roma vor rassistischer Verfolgung und schlüpfen in die Rolle des Arbeitsmigranten, um unerkannt zu bleiben.
Für eine Zigeunerlobby
Da ist der Besitzer des einzigen Restaurants in einem Provinznest. Die junge Coiffeuse, die einen eigenen Salon aufgemacht hat. Der Pole, der in einem Dorf in der Ostschweiz wohnt und sich als Präsident eines Zigeunervolksrates vorstellt. Die Schülerin, die akzentfrei berndeutsch spricht und zu Hause Romanes. Sie sind in unterschiedlichem Mass zugleich Roma und Schweizer. Da ist der Rom, der in einem Seminarraum diszipliniert auf die Abschlussprüfung lernt und sich darüber beklagt, zu Hause sei die ganze Sippe zu Besuch; er ärgert sich bereits über die Unpünktlichkeit seiner Verwandten, und er mag gar nicht ans Heiraten denken, obgleich er nach den Vorstellungen der Familienältesten längst im heiratsfähigen Alter ist.
Sie alle haben sich in den letzten Jahren einander angenähert, kennen sich häufig, begegnen sich immer wieder an Anlässen und Festen. Die Öffnung der Grenzen in Osteuropa hat die kollektive Identität der Zigeuner in der Schweiz eigenartigerweise verstärkt. Der enge Raum bringt sie erstmals miteinander direkt in Kontakt und ermöglicht ihnen offenbar, sich der Gemeinsamkeit ihrer Kultur richtig bewusst zu werden. Da die Ereignisse im Osten sie ihrer einstigen staatlichen Heimat beraubt haben, wächst die Sehnsucht nach einer kollektiven Identität.
Dabei möchten sie Schweizer und Zigeuner zugleich sein. Schweizer im Alltag, Roma im Herzen. “Die Schweiz ist das toleranteste Land, das wir Zigeuner bisher erlebt haben”, sagt Branko, der kurz zuvor von Brüskierungen erzählte, die er hier erlebt hat, von Schweizern etwa, die sich Hitler zurückwünschen, damit er alle Zigeuner vergase. “Aber lieber Ausländer in der Schweiz sein als Zigeuner zu Hause”, fügt er mit einem Lachen hinzu, dem die düsteren Erfahrungen nicht anzumerken sind. Wenn ihm in der Schweiz etwas nicht gefällt, ist es der verschlossene Charakter der Menschen, der Kontakte so schwierig macht; er hält sich aus Höflichkeit lange zurück, bis er das eingesteht.
Denn sie alle möchten hierbleiben und sind bereit, sich anzupassen, was ihnen nicht schwer fällt. Viele haben mittlerweile B- und C-Ausweise, andere leben schon in der zweiten Generation hier und sind mit dem Schweizer Pass geboren. “Wir sind integriert”, sagt Branko; “wenn andere feiern, feiern wir auch. Wenn andere singen, singen wir auch. Aber wir weinen nicht, wenn andere weinen.”
“Unsere Kinder sollen es einfach einmal besser haben”, wünscht sich Irena. Ihre beiden Kinder gehen aufs Gymnasium. “Erst wenn Roma gesellschaftlich Erfolg haben, können sie sich auch für ihre Kultur einsetzen.” Doch es besteht die Gefahr, dass diese Kultur verlorengeht, wenn sie nicht offen gepflegt werden kann.
Eines schönen Tages – es war ein Entschluss, wie ihn vielleicht nur ein Rom fassen kann – beschloss Kemal, eine Radiosendung zu machen. Ohne dass er je in diesem Medium gearbeitet hätte; Zigeuner lernen alles. Er rief die Leute vom Zürcher Alternativradio Lora an. Etliche Jahre ist es her, nun führt er Woche für Woche jeden Freitagabend um 21 Uhr durch eine stündige Radiosendung, ohne Ausbildung, Geld und personelle Unterstützung. Seine Sendung, ein Mix aus Musik und Information, ist mehrsprachig. “Ich wollte eine Brücke schlagen unter den Roma und zu den Schweizern.” Das Interesse für Soziologie entpuppte sich als Suche nach der eigenen kulturellen Identität. Und eigentlich liegt es nahe, dass Roma ihren eigenen Radiosender eröffnen: Zigeunerkultur ist oral, geprägt von Erzählung und Musik.
Ein Bewusstsein der Roma-Minderheit in der Schweiz beginnt sich derzeit herauszukristallieren. Nicht dass sie sich in Parteien organisieren würden. “Roma sind unpolitisch”, sagt Branko, “weil wir sowieso nichts davon haben, ob rot oder grün.” Der Bauarbeiter Zivko ergänzt mit heiterem Gesicht: “Mich interessieren ein schönes Leben, Familie, Kinder, schicke Kleider und Autos.” Aber der Wunsch nach einer “Lobby”, die ihre Interessen vorantreibt, wird stärker.
Man trifft einander auf Hochzeiten und Taufen oder an Festen wie dem achten März, der vom kommunistisch inspirierten “Frauentag” kurzerhand in einen “Müttertag” umfunktioniert wurde. Die sich abzeichnende Zigeunerbewegung in der Schweiz hat auch schon ihre Idole . “Yul Brinner war ein Zigeuner”, heisst es, seine Mutter zumindest eine rumänische Zigeunerin. “Charly Chaplin” ebenfalls, so sagt das Gerücht weiter.
“Die Schweiz ist ein schönes Land mit schönen Bergen und schönen Flüssen wie in Bulgarien”, meint Irena am Schluss des Gesprächs. Sie hat gelernt, dass es für Zigeuner in der Schweiz besser ist, nicht nur Romanes und Deutsch, sondern auch diplomatisch zu sprechen. Auch wenn sie fast krank wird dabei. Dann sagt sie, was sie eigentlich sagen möchte, wie oft bei Zigeunern wird es erzählerisch verpackt: “Ich habe in Bulgarien immer offen geredet. So ist unser Volk eben: Was das Herz empfindet, kommt auf die Zunge. Aber das ist nicht immer gut.”
Dann erst wird sie deutlich: “Überall, wo wir zu Hause sind, sind wir nicht zu Hause.” Ihre Nachbarn ahnen nicht, dass sie eine Romni ist.
Published 12 March 2001
Original in German
First published by Weltwoche (April 16, 1998)
Contributed by Weltwoche © Willi Wottreng / Weltwoche / Eurozine
PDF/PRINTNewsletter
Subscribe to know what’s worth thinking about.