Ist der Multikulturalismus ein Rassismus?

Dass mit den Kräften des Marktes auch die Kultur des Westens über die Erde stürme, gehört zu den weitverbreiteten Klagen über die Globalisierung. Viele machen sich Sorgen, dass wir schließlich, ob wir nun in New York, Rom, Peking oder Bombay sind, die gleichen Jeans im gleichen Einkaufszentrum, den gleichen überteuerten Espresso im gleichen Café kaufen und uns dieselben eintönigen Hollywoodkassenschlager anschauen. Die lokalen Kulturen werden verschwinden.

Aber der wichtigste Exportartikel des Westens sind nicht Disneyfilme oder Starbucks oder Tom Cruise, sondern ist eben diese Idee der lokalen Kultur. Eine Idee, die im Europa des späten 18. Jahrhunderts als Reaktion gegen die Aufklärung entstand, hält heute die ganze Welt in Bann. Jede Insel im Pazifik, jeder Indianerstamm im Amazonasbecken hat seine eigene Kultur, die gegen die Verheerungen des westlichen Kulturimperialismus verteidigt werden soll. Man muss nicht einmal Mensch sein, um eine Kultur zu haben. Von den Primatologen erfahren wir, dass verschiedene Schimpansengruppen jeweils ihre eigene Kultur haben. Bestimmt wird sich bald ein Schimpanse darüber beklagen, dass seine Traditionen von der Dampfwalze des menschlichen Kulturimperialismus erdrückt würden.

“Wir sind jetzt alle Multikulturalisten”, bemerkte der amerikanische Soziologe Nathan Glazer, der früher Kritiker dieses Pluralismus war. Und das sind wir tatsächlich. Die Feier der Differenz, der Respekt vor dem Pluralismus, das Bekenntnis zur Identitätspolitik – all das gilt als Erkennungszeichen einer progressiven, antirassistischen Einstellung und als Fundament einer modernen liberalen Demokratie.

Im Mittelpunkt fast aller multikulturalistischen Theorien steht die Ansicht, dass der kulturelle Hintergrund der Individuen deren Identität bestimmt und erklären hilft, wer sie sind. Wenn wir Individuen mit Achtung und Respekt behandeln wollen, dann müssen wir auch die Gruppen mit Achtung und Respekt behandeln, die sie mit ihrem persönlichen Lebensgefühl ausstatten. Mit anderen Worten, wir können Individuen nicht gleich behandeln, solange wir nicht Gruppen ebenfalls gleich behandeln. Und da, mit den Worten der amerikanischen Politologin Iris Young, “Gruppen nicht gesellschaftlich gleich sein können, solange ihre spezifische Erfahrung, Kultur und ihre Beiträge zur Gesellschaft nicht öffentlich bejaht und anerkannt werden”, muss die Gesellschaft die Kulturen schützen und fördern, ihr Gedeihen gewährleisten und natürlich auch ihr Überleben.

Eine Erscheinungsform solcher Gleichbehandlung ist die zunehmende Tendenz in einigen westlichen Ländern, dem religiösen Recht – der jüdischen Halacha und der islamischen Scharia beispielsweise – in Zivil- und gelegentlich in Strafsachen den Vorrang gegenüber dem weltlichen Recht einzuräumen. Eine weitere Erscheinungsform dieser Gleichbehandlung zeigt sich in Australien, wo die Gerichte sich immer häufiger damit abfinden, dass den Ureinwohnern das Recht eingeräumt wird, statt nach dem whitefella law – dem Recht des weißen Mannes – ihren eigenen Sitten und Gebräuchen gemäß abgeurteilt zu werden.

Laut Colin McDonald, einem australischen Anwalt und Experten in Gewohnheitsrecht, “sind die Menschenrechte im Wesentlichen eine Schöpfung der letzten hundert Jahre. Diese Menschen aber praktizieren ihr Recht seit Jahrtausenden.” Einige Multikulturalisten gehen noch weiter, wenn sie verlangen, dass der Staat das Überleben der Kulturen nicht nur für die Gegenwart, sondern auf Dauer sichern soll. Der Philosoph Charles Taylor schlägt vor, dass die Regierungen von Kanada und Québec Schritte unternehmen, um das Überleben der französischen Sprache in Québec zu garantieren, “unbefristet für alle künftigen Generationen”.

Die Forderung, dass eine kulturelle Praktik deshalb, weil es sie seit langem gibt, bewahrt werden sollte, ist eine moderne Version des naturalistischen Fehlschlusses – der Annahme, dass sich Sollen von Sein ableiten lässt. Für die Sozialdarwinisten des 19. Jahrhunderts entstammte die Moral (wie wir uns verhalten sollen) natürlichen Tatsachen (was die Menschen sind). Das wurde zu einer Rechtfertigung kapitalistischer Ausbeutung, kolonialistischer Unterdrückung, völkischer Barbarei und sogar von Genozid. Heute wird die Fehlerhaftigkeit dieses Arguments praktisch von jedem eingesehen, doch wenn anstelle der Natur von der Kultur die Rede ist, bestehen viele Multikulturalisten auch weiterhin darauf, dass das Sein das Sollen bestimmt.

Das Problem besteht zum Teil in der ständig vom Multikulturalismus vorgenommenen fälschlichen Gleichsetzung der Idee vom Menschen als einem Kulturwesen und der Idee, dass die Menschen Träger einer jeweils besonderen Kultur sind. Zweifellos kann kein Mensch außerhalb einer Kultur leben, und das tut ja auch niemand. Dass kein Mensch außerhalb einer Kultur leben kann, heißt jedoch nicht, dass er immer in der jeweiligen besonderen Kultur leben muss. Die Menschen als Kulturwesen zu betrachten, heißt sie als soziale Wesen zu betrachten und folglich als transformative Wesen. Daraus folgt, dass die Menschen die Fähigkeit zur Veränderung, zum Fortschritt und zur Schaffung universeller moralischer und politischer Systeme durch Vernunft und Dialog besitzen.

Die Menschen als Träger jeweils spezifischer Kulturen zu betrachten, heißt dagegen, eine solche Fähigkeit zur Veränderung zu leugnen. Es impliziert, dass jeder Mensch so durch eine besondere Kultur geprägt ist, dass eine Veränderung oder Schwächung dieser Kultur die Würde dieses Individuums verletzen würde. Die biologische Tatsache jüdischer oder pakistanischer Abstammung, so wird nahegelegt, erlaubt irgendwie diesen Menschen ein gutes Leben nur dann, wenn sie Angehörige der jüdischen oder pakistanischen Kultur sind. Eine solche Aussage wäre aber nur dann sinnvoll, wenn Juden oder Pakistaner rassisch verschieden wären – mit anderen Worten, wenn es bei kultureller Identität eigentlich um rassische Unterschiede ginge.

Die Beziehung zwischen kultureller Identität und rassischen Unterschieden wird noch deutlicher, wenn wir das Argument untersuchen, dass Kulturen geschützt und erhalten werden müssen. Der kanadische Philosoph Will Kymlicka vertritt die These, dass dann, wenn “das Überleben einer Kultur nicht garantiert ist und wenn sie von Entwürdigung oder Verfall bedroht ist, wir eingreifen müssen, um sie zu schützen”, denn Kulturen seien lebensnotwendig für die Menschen. Für Charles Taylor gilt, dass dann, “wenn es um Identität geht”, nichts “legitimer” sei als “das Streben danach, sie nie zu verlieren”.

Aber was bedeutet “Verfall”, wenn es sich um eine Kultur handelt? Oder “Verlust” im Fall einer Identität? Kymlicka macht einen Unterschied zwischen der “Existenz einer Kultur” und “ihrer ‘Eigenart’ zu einem gegebenen Zeitpunkt”. Die Eigenart der Kultur kann sich ändern, aber solche Veränderungen sind nur dann akzeptabel, wenn sie die Existenz einer Kultur nicht bedrohen. Aber wie kann eine Kultur existieren, wenn diese Existenz nicht in ihrer Eigenart verkörpert ist? Unter “Eigenart” scheint Kymlicka die empirische Wirklichkeit einer Kultur zu verstehen: Was die Menschen tun, wie sie ihr Leben leben, die Normen und Regeln und Institutionen, die ihre Existenz bestimmen. Mit seiner Unterscheidung zwischen “Eigenart” und “Existenz” scheint Kymlicka also nahezulegen, dass die jüdische, Navajo- oder französische Kultur nicht durch das definiert ist, was Juden, Navajo-Indianer oder Franzosen tatsächlich tun. Denn wenn die jüdische Kultur einfach das ist, was die Juden tun, oder die französische Kultur das, was die Franzosen tun, dann könnten Kulturen nie verfallen oder untergehen – sie würden immer in den Tätigkeiten der Menschen existieren.

Wenn eine Kultur nicht durch das definiert ist, was die Angehörigen dieser Kultur tun, was definiert sie dann? Die Antwort kann nur darin bestehen, dass sie durch das definiert ist, was ihre Angehörigen tun sollen. Und was sie nach Ansicht der Kulturschützer tun sollen, ist das, was ihre Vorfahren getan haben. Kultur wird hier durch biologische Abstammung definiert. Und biologische Abstammung ist eine höfliche Art, “Rasse” zu sagen. Wie es der amerikanische Anglist Walter Benn formulierte: “Damit eine Kultur verlorengeht . . . muss sie vom tatsächlichen Verhalten trennbar sein, und damit sie vom tatsächlichen Verhalten trennbar wird, muss sie in Rasse verankert sein.”

Der argumentativen Logik der Kulturschützer zufolge hat jede Kultur eine unverderbte Form, ihren ursprünglichen Zustand. Sie verfällt, wenn sie sich nicht länger in diesem Zustand befindet. Das erinnert an den Begriff des “Typus”, der im Mittelpunkt der Rassenkunde des 19. Jahrhunderts stand. All dem Gerede über die Veränderungen der Kultur und ihre flüssige Identität zum Trotz veranlasst der Multikulturalismus nicht weniger als der altmodische Rassismus die Menschen unweigerlich dazu, von menschlichen Gruppen in festen Begriffen zu denken. Beide Seiten der Rassismusdiskussion sprechen ihren eigenen Dialekt der Differenz. Die Rechte hat sich die Sprache der Diversität zu eigen gemacht, um ihre Botschaft rassischer Ausgrenzung zu propagieren. Die Liberalen bedienen sich oft der Mundart der Ausgrenzung, um eine pluralistische Idee von Kultur zu formulieren.

“Jede Gesellschaft, jede Nation ist einzigartig”, behauptete Enoch Powell, der lautstärkste Gegner der Immigration von Schwarzen in das England der Nachkriegszeit. “Sie hat ihre eigene Vergangenheit, ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Erinnerungen, ihre eigenen Sprachen oder Sprechweisen, ihre eigene – wenn ich es wagen darf, dies Wort zu benutzen – Kultur.” Deshalb, so sein Argument, könnten Einwanderer, die unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Traditionen angehörten, niemals vollständig Engländer werden.

In Frankreich hat sich die extreme Rechte die Idee der kulturellen Differenzen schlau zunutze gemacht, um ihre antimuslimische Botschaft zu propagieren. “Es ist eine tragische Illusion, in ein und demselben Land die Koexistenz von Gemeinschaften verschiedener Kultur verwirklichen zu wollen”, argumentierte der frühere gaullistische Minister Michel Poniatowski. “Ich liebe die Nordafrikaner”, erklärte Jean-Marie Le Pen, “aber ich liebe sie in ihrem Land.” Durch die Sprache der Diversität ist der Rassismus einfach in eine weitere kulturelle Identität verwandelt worden.

Wie die Rechte sich die Grammatik der Diversität aneignete, so erlernten die Liberalen die Mundart rassischer Identität. Will Kymlicka ist alles andere als ein Ausländerfeind, doch sein Pluralismus bringt ihn schließlich dazu, die Sprache der Ausgrenzung zu übernehmen. “Es ist nur recht und billig”, meint Kymlicka, “wenn der Charakter einer Kultur sich infolge der Entscheidungen der Angehörigen dieser Kultur verändert.” Aber, fährt er fort, “von der Welt jenseits der eigenen Grenzen zu lernen”, ist etwas ganz anderes, “als von ihr überschwemmt zu werden”. Was soll das bedeuten? Dass eine Kultur das Recht hat, Angehörige einer anderen Kultur von sich fernzuhalten? Dass eine Kultur das Recht hat, die Angehörigen dieser Kultur daran zu hindern, eine andere Sprache zu sprechen, ausländische Lieder zu singen oder ausländische Bücher zu lesen?

Kymlickas Warnung vor der “Überschwemmung” sollte uns aufhorchen lassen. Die Rechte hat sich schon seit langem Ängste vor einer kulturellen Überschwemmung zunutze gemacht, um die Idee zu propagieren, dass die Nationen des Westens die Zugbrücke vor Einwanderern hochziehen sollten, deren kulturelle Differenz sie als Einwanderer ungeeignet macht. Es ist ein Argument, das Kymlicka zweifellos verabscheut. Doch wenn es erst einmal zu einem Prinzip der Politik geworden ist, dass Kulturen von Außenstehenden nicht überschwemmt werden sollten, dann wird es schwierig, gegen solche Anti-Einwanderungsargumente vorzugehen.

Historisch betrachtet lehnten die Antirassisten sowohl den Rassismus wie auch die Rassifizierung ab, das heißt sowohl die Praxis der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Rasse wie auch die Theorie, dass ein Individuum durch die Gruppe, zu der es gehört, definiert werden kann. Die heutigen Multikulturalisten vertreten die These, dass man die Gruppenidentität feiern müsse, um den Rassismus bekämpfen zu können. Die Folge davon waren das Wiederaufleben von Rassetheorien und das Gefangensein der Menschen in ihren kulturellen Identitäten. Rassetheoretiker und Multikulturalisten, bemerkte der französische Philosoph Alain Finkielkraut, haben “einander entgegengesetzte Glaubensbekenntnisse, aber dieselbe Weltsicht”. Beide fetischisieren sie die Differenz. Beide sind sie bemüht, die Individuen auf ihre Herkunftsgruppe zu beschränken. Beide verhindern “jede Möglichkeit natürlicher und kultureller Gemeinsamkeit unter den Völkern”. Die Ablehnung dieser Politik der Differenz ist heute ebenso wichtig geworden wie die Ablehnung des Rassismus.

Published 5 November 2008
Original in English
Translated by Siegfried Kohlhammer
First published by New Humanist 4/2008 (English version); Merkur 11/2008 (German version)

Contributed by Merkur © Kenan Malik / Merkur / Eurozine

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