“Wenn unsere autoritäre Technik einmal mithilfe neuer Formen der Massenkontrolle, ihrem Spektrum von Tranquilizern, Sedativa und Aphrodisiaka ihre Macht konsolidiert, könnte die Demokratie dann in irgendeiner Form überleben?” – Lewis Mumford1
Während allerorten ernsthaft über die besondere Rolle von Netzwerktechnologien und Systemen diskutiert wird, befindet sich die Kultur in gespannter Erwartung von im Grunde sofort wieder veralteten technischen Neuerungen. Dabei ergeht sie sich in der rasant um sich greifenden Mutmaßung, Konnektivität sei zu einem sozialen Zirkulationssystem geworden, das alles und jeden in einer unangenehm virtualisierten Kopräsenz verbindet und Individuen durch Profile ersetzt. Die entsozialisierten Identitäten, die durch die sogenannten sozialen Netzwerke von Twitter, Facebook, Instagram, Tumbler etc. geistern, stellen einen grundlegenden Neuentwurf der zunehmend unbesetzten “Kollektivität” des öffentlichen Raums dar. Augenblickliches, reflexives und meist nichtssagendes “Instant Messaging” maskiert sich gewissermaßen als rapides (unmittelbares) Reaktionssystem, motiviert durch unvollständige und gebrochene Ereignishorizonte – Ereignisse, die sich noch vor oder in Erwartung irgendeiner Form von Abschluss dekonstruieren. All das geschieht in einer undifferenzierten Gegenwart, die durchdrungen ist von sofortigen Meinungsbekundungen, hektischen Status-Updates, kurzlebigen Bildern und Videos, ungefilterten Threads (mit allen Vor- und Nachteilen) von “Inhalten”, die einen alles verschlingenden, zunehmend wahlloser werdenden Mediensektor überschwemmen, der verzweifelt nach dem “Echtzeitspektakel” giert. Selbst gesellschaftliche Konflikte, politische Kampagnen, Kriegserklärungen und Schlachten vollziehen sich in der Flut des Unmittelbaren. Alles ist gleichermaßen präsent und wird nur selten überprüft.
In gewisser Hinsicht sind die sozialen Netzwerke zu einem Endlosreservoir obskurer Inhalte, variabler und virtueller “Identitäten” geworden, die den Niedergang der Reflexion zugunsten unvollständiger Momente begünstigen, die mit drohender Gefahr aufgeladen, aber sofort wieder vergessen sind. Ein erstaunliches System der Akkumulation, das im Grunde keinem anderen Zweck dient als der Brechung von Subjektivität bzw. der Reflexion. Slavoj Zizek schreibt: “Ich stolpere durch diesen grenzenlosen Raum, in dem Botschaften ohne bestimmtes Ziel frei zirkulieren, während sich das Ganze meinem Verständnis für immer entzieht. Die andere Seite des Cyberspace, direkte Demokratie, ist dieses chaotische und undurchdringliche Ausmaß an Botschaften, das mein Vorstellungsvermögen selbst nach größtmöglicher Anstrengung nicht erfassen kann.”2
Und in Vilém Flussers Augen zwingt uns unsere elektronische Erinnerungspraxis zur Aufgabe des “Selbst”.3
Gleichzeitig handelt es sich um ein System, das sich praktisch jede Form der Transaktion innerhalb alles fressender Erkennungsalgorithmen einverleibt und zu Geld macht, indem es “persönliche” Daten auf der Grundlage von Vorhersagemodellen auf verschwindend kleine (und kumulative) Verhaltensmuster absucht, was dann als sozial fortschrittlich, notwendig und förderlich beworben wird. Damit einher geht ein unaufhörlicher Strom innovativer Apparaturen, die für den sofortigen Konsum einer unausgereiften und ebenso unermüdlichen Flut sogenannter “Inhalte” konzipiert sind. Von jeglichem Kontext befreit – außer dem der Unmittelbarkeit – ist die Verbreitung von Informationen über uns selbst unsere unzulängliche Metapher für Gegenwart geworden. So schreibt Daniel Boorstin: “Das Vakuum unseres Daseins wird im Grunde nur noch leerer, wenn wir es in unserem Übereifer mit mechanischen Vorrichtungen überstrapazieren, um es künstlich aufzufüllen.”4 Der zerschlagene öffentliche Raum, die “virtuelle Gemeinschaft”, die Twitter-Sphäre – ein komplexes Vermächtnis der Entmaterialisierung entkörperter Präsenz, die von Apparaten zusammengehalten wird. So meint auch Giorgio Agamben: “Entscheidend für die Apparate, mit denen wir es in der derzeitigen Phase des Kapitalismus zu tun haben, ist, dass sie nicht mehr so sehr durch die Produktion eines Subjekts agieren als vielmehr durch einen Prozess, den man Entsubjektivierung nennen könnte.”5
Genau das geschieht in der Abfolge undifferenzierter “Präsenzen” auf Geräten, die selbst kaum in der Lage sind, die sich ständig verändernden Protokolle, Komprimierungsalgorithmen oder Bandbreitenanforderungen eines Systems zu bewältigen, das die Netzwerke zwanghaft mit gewaltigen, wenn auch kurzlebigen Archiven überflutet. Um diese vermeintlich technischen Defizite auszugleichen, nehmen die Geräte in immer neuem Gewand ständig zu. Aber wenn Veralterung und Unmittelbarkeit verschmelzen, sind alle Geräte und womöglich gar jegliche Identität sofort wieder so gut wie überholt.
Gewiss hat die Ideologie der “Neuheit” eine lange Beziehung zur Moderne. Sie war der Brennstoff der neuen Maschinen für den Konsum einer von ihrer Beständigkeit berauschten Kultur. Sie war der Brennstoff für die Konzeptualisierung des künstlerischen Avantgardismus. Adorno beschäftigte sich mit der Verbindung zwischen der im 19. Jahrhundert verbreiteten Faszination für das Neue (wie bei Baudelaire) und dem Faschismus und schrieb: “Selber unerreichbar, setzt es sich anstelle des gestürzten Gottes im Angesicht des ersten Bewußtseins vom Verfall der Erfahrung”. Neuheit repräsentiert “konvulsivische Augenblicke, in denen es zu leben wähnt”, und wird “das allgegenwärtige Medium der falschen Mimesis”.6 Später, das erkannte Hans Magnus Enzensberger zu Recht, musste die Avantgarde sich mit der Auslöschung ihrer eigenen Produkte zufriedengeben. Und die künstlerische Avantgarde wurde eindeutig von der unternehmerischen Avantgarde verdrängt.
Das sogenannte “Neue” zu fördern, ist zum Zwang einer Kultur geworden, die in ihrem eigenen aberwitzigen Mythos gefangen ist. Dabei steckt der Begriff “neu” so voller Prätentionen, dass er absurd und inhaltslos geworden ist.
Neu ist keine Bedeutungskategorie, neu kündet nicht von Kohärenz, neu ist eine hirnlose Illusion der Marketingleuten, neu ist die Ideologie der AbzockerInnen falscher gemeinschaftlicher Räume, neu ist der beliebteste Begriff jener Universitäten, die sich verzweifelt um Globalisierung bemühen, damit Studierende womöglich auch noch für das Studium auf ihren weltweiten Campusketten zu zahlen bereit sind, neu ist die Leere der Hybridisierung, neu ist eine Virtualität, die Ähnlichkeit mit, aber nicht notwendigerweise eine Beziehung zu irgendeiner existierenden Realität hat, neu ist die Verjüngung der “Gesellschaft des Spektakels” (oder, um es mit ADILKNO zu sagen, der “Gesellschaft des Debakels”), neu ist ein Symptom der Auflösung von Geschichte und Erinnerung, neu ist der Trugschluss der “relationalen Ästhetik” und ihres “operativen Realismus”, neu widersetzt sich der Auffrischung und fordert Veralterung, neu ist in seiner kontinuierlichen Selbstauflösung schamlos und zerstörerisch, neu ist schiefgegangenes Misstrauen, neu ist die hübsche verwundbare Stelle der Globalisierung und ein Zeichen präventiver Repression, neu ist eine praktische Trope für Komplizenschaft und Kompromiss, neu kapituliert vor den marodierenden Mythen über das Kapital und seine Entwertung der materiellen Ökonomie, neu macht uns zu Mitwirkenden einer nicht existenten Geschichte. Das Neue steht leer, ist soziale Amnesie, ist Niederlage, das Neue lehnt es ab zu tun, was am nötigsten ist – es lehnt es ab, sich einzumischen, es lehnt es ab, zu reflektieren, es lehnt es ab, Rechenschaft abzulegen, es lehnt es ab, in einen Wettstreit zu treten, es lehnt Unterschiede ab, es lehnt Transgression ab, es verachtet Andersartigkeit, es lehnt Meinungsverschiedenheit ab. Das Neue hat, notwendigerweise, kein Gewissen und ist von daher der unmoralische Vorbote der Leugnung von Vergangenheit.
Neu ist eine fortlaufende Präsenz ohne Erweiterung, neu ist Wiederholung ohne Differenzierung, neu wiederholt die Leere seines eigenen unaufhörlichen Nichts, neu ist zur Theologie erhobene Sinnlosigkeit, neu ist das Glaubenssystem der Einfältigen, das Neue homogenisiert und wird zum ultimativen Branding: BRANDNEU; das Neue ist rücksichtslos und heimtückisch, das Neue ist eine Unterwerfung unter die Sloganschöpfungen einer Geschäftemacherei, die auf Zurückweisung basiert, das Neue kapituliert vor dem Dogmatismus einer leeren Gegenwart, neu ist der Triumph der neoliberalen Medientheorie, die Wissenschaft nur zu gerne als Gelehrsamkeit des Vergessens abtut, neu ist die blanke Diktatur der Unmittelbarkeit, ein Propagandasystem ohne Ideologie, das Neue ist eine Unterwerfung unter das Diktat der Veralterung, neu ist das Zugeben von Niederlagen, die Kapitulation, alles einem hartnäckigen, momentanen Schwindel zu überlassen. Neu ist das unaufhörliche Ausschöpfen von Neuartigkeit, die dumpfe Routine eines Prinzips der unermüdlichen Preisgabe, neu ist die eigene Ästhetisierung aus keinem anderen Grund als dem, den eigenen zweifelhaften Status als relevant herauszustreichen, das Neue ist Eventualität als Horizont des Möglichen, das Neue hat keine Variablen, das Neue ist das Protokoll einer Kultur, deren Erinnerung geleert wurde, das Neue ist bedingungslos, neu ist seine eigene Vergessenheit, das Neue verkündigt das verzweifelte Gebot des Schwebezustands, das Neue ist das Angebot, das die Nachfrage schafft, das Neue verkündet lediglich seine eigene Ankunft und kollabiert noch im selben Moment.
Und mehr noch: Das Neue ist die Unabhängigkeitserklärung der Moral, neu ist das jämmerliche Warten auf Holperschwellen, Plug-ins und Upgrades, neu ist der ultimative Special Effect – es selbst! Neu ist die Obsoleszenz des kritischen Denkens, das Neue antizipiert lediglich seinen eigenen Untergang und feiert sich selbst als nicht mehr existent – von seiner eigenen Leere erschöpft, neu ist Zeit ohne Nachfolge, das Neue ist das triumphale Aufgeben von Erfahrung zugunsten von Sensation. Das Neue erschüttert die Koordinaten der Vernunft, subsumiert im kontinuierlichen Ansturm der Information, das Neue ist immer schon passé. Das Neue ist der durchsichtige Mythos der sozialen Gemeinschaften, die im Unbestimmten dahintreiben, das Neue steht Kritik gleichgültig gegenüber, das Neue ist die “Ungewissheit” ohne ein “Prinzip”, das Neue ist Komplizenschaft mit momentanen Einschätzungen und auf äußerst gefährliche Weise situationsbezogen. Neu ist zur Phantasmagorie einer Kultur geworden, die von Konsum fasziniert ist, das Neue ist Dringlichkeit minus Zweck, das Neue ist Zwang in seiner machtvollsten Form, das Neue hat sich der Verantwortung für alles entledigt, außer für seine obskuren Zusicherungen, das Neue löscht die Zeit aus und ist indifferent gegenüber Individuen, Kultur, Bedeutung.
Das Neue ist die triumphale tautologische Geste des Antihumanismus und die Ausweidung von Fantasie, Reflexion und Zeit.
Lewis Mumford, Authoritarian and Democratic Technics, in: Technology and Culture, Vol. 5, No. 1 (Winter 1964), S. 1-8.
Slavoj Zizek, Is this digital democracy, or a new tyranny of cyberspace?, in: The Guardian, 30. Dezember 2006; www.guardian.co.uk/commentisfree/2006/dec/30/comment.media
Vgl. Vilém Flusser, On Memory, in: Leonardo, Vol. 23, Nr. 4 (1990), S. 399.
Daniel Boorstin, The Image: A Guide to Pseudo-Events in America. New York 1962, S. 60.
Giorgio Agamben, What is an Apparatus? Stanford 2009, S. 20.
Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Berlin/Frankfurt am Main 1951, S. 141f.
Published 30 April 2013
Original in English
Translated by
Gaby Gehlen
First published by Springerin 1/2013 (German version); Eurozine (English version)
Contributed by Springerin © Timothy Druckrey / Springerin / Eurozine
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