Industrieforschung und/oder Grundlagenforschung?

Interview mit Rainer Metternich und Helmut Schwarz

Es sollte ein Streitgespräch zwischen Rainer Metternich und Helmut Schwarz werden. beide haben wichtige Funktionen im Wissenschaftsbetrieb. Rainer Metternich war zum Zeitpunkt des Interviews Leiter des Schering Research Center Europe, ab 1. Januar 2006 ist er zuständig für den Bereich Forschung und Leiter des Corporate Research Management Board bei Schering. Helmut Schwarz ist Professor für organische Chemie an der Technischen Universität Berlin, in vielen Gremien als wissenschaftlicher Berater tätig, unter anderem Vizepräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und Mitglied der BBAW. Beide Herren sind sehr gefragt. So war es unmöglich, einen gemeinsamen Termin zu finden, so dass die Redakteurin zwei Gespräche mit ähnlichen Fragen geführt hat.

Interview Prof. Metternich

Hazel Rosenstrauch: Was sind Ihres Erachtens die Vor- oder auch Nachteile des Forschens in einem Industrieunternehmen gegenüber der akademischen Forschung?

Rainer Metternich: Die Vorteile und die Unterschiede zur akademischen Forschung sind, dass es sich bei der industriellen Forschung um eine zielorientierte Forschung handelt, die im Rahmen eines bestimmten Portfolios stattfindet – in der Pharmaforschung etwa bezüglich der Indikationen, zum Beispiel Onkologie, Gynäkologie und Andrologie. Wir haben bei Schering Behandlungsparadigmen innerhalb der Indikationsgebiete definiert, innerhalb derer bestimmte molekulare Targets identifiziert werden. Von da leitet man die entsprechenden Forschungsprojekte ab. Das Ganze ist sehr zielgerichtet, und zwar immer mit dem Ziel, am Schluss Entwicklungskandidaten zu identifizieren.

HR: Ist das nur ein Vorteil, oder hat diese Anwendungsorientierung auch Nachteile?

RM: Die zielorientierte Forschung hat natürlich Konsequenzen für die Lebensdauer von Projekten, weil man sich neben den konkreten inhaltlichen Zielen auch konkrete zeitliche Ziele setzt. Wenn man in einem bestimmten, wenn auch flexiblen Zeitfenster die gesetzten Ziele nicht erreicht, gibt man konsequenterweise auch Forschungsprojekte schneller auf als in der Akademie. Das ist natürlich ein großer Unterschied zur akademischen Forschung, in der man den sehr viel längeren Atem hat. Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass man in der industriellen Forschung sehr viel stärker von markt- und firmenpolitischen Entwicklungen abhängig ist.

HR: Was bedeutet das für den Forscher in Bezug auf mögliche Entdeckungen?

RM: Es bedeutet, dass wir in bestimmten, langwierigen Forschungsfeldern auch in Zukunft noch stärker auf Kooperationen mit der Akademie1 angewiesen sind.

HR: Das ist derzeit ein zentrales Thema. Wie könnte so etwas ausschauen, oder wie ist das bisher gelaufen?

RM: Wir sprechen jetzt vor allem über die Beziehung Industrie/ Pharmaindustrie zur Akademie, damit meine ich die Universitäten, Forschungsinstitute wie zum Beispiel Max-Planck-Institute usw. Ganz grundsätzlich würde ich mir wünschen, dass wir uns in Zukunft beidseitig stärker öffnen – die Akademie stärker gegenüber dem Industriepartner und der Industriepartner stärker gegenüber der Akademie. Wir sollten auch über das Thema Think-Tanks nachdenken, wo Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus der Industrie für eine bestimmte Zeit in die Akademie gehen und umgekehrt. Zusammen mit dem Max-Planck-Institut für molekulare Physiologie in Dortmund haben wir ein solches Modell entwickelt. Es handelt sich dabei um den Aufbau eines so genannten Chemical Genomic Centers, mit dem sich Schering, Merck Darmstadt und Organon zum Ziel gesetzt haben, über eine Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut in Dortmund die Forschung in Deutschland zu stärken. Es geht darum, auf Gebieten wie zum Beispiel der Protein/ Protein-Interaktion verstärkt zusammenzuarbeiten und die Grundlagenforschung in Deutschland von Seiten der Industrie zu unterstützen. Sobald das Ganze etabliert ist, gibt es später auch die Möglichkeit, Forscher aus der Industrie für eine bestimmte Zeit in das Dortmunder Institut zu senden. Umgekehrt soll sich auch die Möglichkeit eröffnen, dass Wissenschaftler/-innen aus Dortmund für einen Forschungsaufenthalt zum Beispiel hierher nach Berlin zu Schering kommen können. Eine richtig befruchtende Interaktion, ein bisschen nach dem Vorbild des ISIS-Instituts der Universität Straßburg von Professor Lehn, an dem die Firma BASF ganz Ähnliches schon vor einigen Jahren erfolgreich und beispielhaft gemacht hat.

HR: Wie kann das finanziell ausschauen? Der akademische Bereich wird mit öffentlichen Geldern finanziert, die zunehmend knapper werden. Die Industrie gewinnt natürlich auch durch diese Kooperation. Welche Perspektiven gäbe es für einen finanziellen Ausgleich?

RM: Das Finanzierungsmodell, das wir jetzt in dem konkreten Fall im Chemical Genomic Center realisiert haben, sieht so aus, dass es eine Co-Finanzierung von Seiten der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) und der Industrieunternehmen gibt. Das Geld geht in einen zentralen Topf, und von da werden dann Gelder ganz spezifisch für eine zum Beispiel Schering-Forschungsgruppe dort am Institut verwendet. Die Rechte für IP-relevante Resultate aus den Forschungsaktivitäten erhält zuerst einmal die MPG. Jeder der Industriepartner kann für einen festgelegten Aufschlag Rechte erwerben. Allerdings ist das ausgesprochen moderat, weil wir uns auch über fünf Jahre zur Co-Finanzierung des Chemical Genomic Centers verpflichtet haben.

HR: Nun sagen überzeugte Grundlagenforscher wie Helmut Schwarz, dass die Grundlagenforschung eine langfristige Angelegenheit ist, die nicht zielorientiert sein kann, weil man die wichtigen Dinge eigentlich immer zufällig oder nebenher entdeckt. Bei dem Modell wird zwar Grundlagenforschung unterstützt, aber die Frage, ob längerfristig gesehen die Grundlagenforschung verdorrt, stellt sich trotzdem.

RM: Das glaube ich nicht. In Bezug auf akademische Forschung – an der Universität, bei der MPG, den Fraunhofer- Instituten oder wo auch immer – würde ich mich immer von dem Satz leiten lassen: Forschung kann man planen, aber was man nicht planen kann, sind die Forschungsergebnisse. Das ist der Punkt, den Herr Schwarz anspricht. Es werden sich während des Forschungsunterfangens auch Ergebnisse einstellen, die man überhaupt nicht angedacht hat oder die man sich vorher überhaupt nicht vorstellen konnte. Das ist übrigens auch ein Charakteristikum der industriellen Forschung. Weil wir größtenteils auf ganz neuen Gebieten arbeiten, erleben wir auch hier bei Schering, dass wir immer wieder überraschende Entdeckungen machen. Das sind oftmals dann tatsächlich die Dinge, die uns ganz maßgeblich nach vorne bringen und die uns auch einen kompetitiven Vorteil bringen. Es sind Entdeckungen, die man nachher auch patentrechtlich entsprechend nutzen kann.

HR: Nun sind Fraunhofer- und Max-Planck-Institute manchmal der angewandten Forschung schon recht nahe. Wie ist es mit Forschungen, wie sie an Universitäten oder Instituten ‘aus reinem Forschertrieb’ praktiziert werden?

RM: Wie Sie richtig sagen, ist zum Beispiel Max-Planck da schon wesentlich weiter, übrigens auch bezüglich der interdisziplinären Forschung. Es gibt dort schöne Beispiele: Forschungsgruppen aus der Biologie, aus der Medizin, aus der Chemie, die miteinander arbeiten. Der Großteil der Universitäten hat hier aus meiner Sicht einen erheblichen Nachholbedarf. Es gibt nach wie vor an Universitäten noch oft ein sehr stark spartenorientiertes Denken. Ich sage das bewusst etwas überspitzt, und das ist übrigens nicht nur ein deutsches Phänomen. Wir beobachten das auch an amerikanischen Universitäten, auch an Top-Universitäten, dass relativ wenig Interaktion zwischen verschiedenen Arbeitsgruppen, vor allem verschiedenen Disziplinen, stattfindet. Das ist an Institutionen wie denen der Max-Planck-Gesellschaft bereits sehr viel stärker ausgeprägt, weil es darum geht, Dinge auch anzuwenden. Anwendung heißt immer auch, dass man Partner aus anderen Fachgebieten braucht. Diese Partner holt man sich mit dem Ziel, eine Entdeckung auch so weit zu bringen, dass man sie anwenden kann.

HR: Hat unter diesen Umständen eine Grundlagenforschung noch Zukunft, die nicht zielorientiert ist, die interdisziplinär sein kann und den Geist frei schweifen lässt, um vielleicht ganz neue Dinge zu entdecken?

RM: Sie hat auf jeden Fall eine Zukunft. Eine Grundlagenforschung, die an ganz neuen Dingen arbeitet und sich nicht unbedingt ein klar definiertes Ziel gesetzt hat, hat aber nur dann eine Zukunft, wenn sie auch gut geplant ist. Aus meiner Sicht ist Forschungsplanung ein sehr wichtiger Aspekt. Dabei spielen Ressourcen und Zeit eine ganz große Rolle. Ganz ohne Ziele wird man nie arbeiten. Auch ein reiner Grundlagenforscher/eine reine Grundlagenforscherin wird immer zielorientiert vorgehen. Diese Forschung bringt uns neue Ideen und ganz neue Innovationen. Darum sollten wir diese unter allen Umständen auch weiterhin fördern.

HR: Wie könnte sie gefördert werden, wenn die öffentliche Hand keine Mittel mehr hat und die Industrie sagt, wir sind auch daran interessiert. Gibt es Modelle über diese direkten Kooperationen hinaus?

RM: Man kann sich vorstellen, dass man von Seiten der Industrie sagt, wir finanzieren zum Beispiel entsprechende Stiftungsprofessuren, oder wir unterstützen eine bestimmte Arbeitsgruppe auf einem bestimmten Gebiet durch eine großzügige Spende.

HR :Wenn dann nach fünf Jahren nichts rausschaut, was ist dann?

RM: Dann muss entweder nach einem neuen Sponsor Ausschau gehalten werden, oder aber, wenn das Ganze nachvollziehbar und begründbar ist, kann es zutreffen, dass eine Firma wie Schering, die fünf Jahre gesponsert hat, sagt, die Arbeit ist an und für sich sehr gut, sie hat zwar noch nicht das gesetzte Ziel erreicht, aber trotzdem finanzieren wir weiter.

HR: Nur Top-Ansätze in der Forschung? Es gibt Leute, die sagen, wir brauchen den Breitensport, damit wir Spitzenleistungen bekommen. Das ist auch in der Forschung ein Problem. Nicht alle können top sein, und die, die top sind, können es vielleicht nicht sein, wenn sie keine Basis haben. Welche Perspektive sehen Sie für Finanzierung und Organisation einer breiten Forschung, die entsprechend den neuen Anforderungen interdisziplinär und international sein soll.

RM: Das Thema fängt im Grunde genommen mit der Förderung von jungen Nachwuchswissenschaftlern an. Das ist das eigentliche Problem. Hier in Deutschland ist es nach wie vor so, dass ein junger Professor/eine junge Professorin, wenn sie dann eine C3-Stelle hat, im Grunde genommen noch nicht wirklich ernst genommen wird. Auch die Mittel fehlen, damit diese Personen einen schnellen Start mit einer kritischen Masse von Mitarbeitern haben können. Er oder sie ist immer noch abhängig von einem C4-Professor. Das ist in den USA ganz anders. Dort werden junge Leute, die viel versprechend sind, erst einmal gefördert: Sie bekommen eine ausreichende finanzielle Startbasis, können eine große Forschergruppe mit 10 oder 15 Leuten etablieren und können zeigen, was sie können. Das ist nicht nur privates Geld: Da stehen auch sehr viel NIH-Gelder zur Verfügung. In den USA hat man eine ganz andere Philosophie bezüglich der Förderung junger Nachwuchswissenschaftler.

HR: Wie ist das hinsichtlich des Nachwuchses? Konkurriert die Industrie mit dem akademischen Betrieb?

RM: Natürlich konkurrieren wir. Ich bin selbst ein Beispiel dafür. Ich hatte am Ende meiner Postdoc-Zeit ein Liebig- Stipendium und war fest entschlossen, in Deutschland zu habilitieren. Damals kam eine Schweizer Pharma- Firma auf mich zu. Man besuchte mich in Harvard, lud mich ein, und eine Woche später war ich in Basel zu einem Vorstellungsgespräch. Sie haben mir ein außerordentlich interessantes Forschungsprojekt vorgestellt, wo ich all das, was ich vorher gelernt hatte, einbringen konnte. Was will ein junger Forscher mehr: eine fantastische Gruppe hoch motivierter Kollegen und Kolleginnen, interessante wissenschaftliche Inhalte und eine tolle Zielsetzung, in dem Falle einen Blutdrucksenker zu entwickeln. Das war ein sehr attraktives Ziel. Außerdem waren die finanziellen Rahmenbedingungen lukrativ, und dann überlegt man sich so ein Angebot.

HR: Man könnte meinen, die Perspektive für die öffentlich finanzierte akademische Forschung sei sehr schlecht. Schaut es also, wenn nicht die Industrie einspringt und die jungen Leute anheuert und forschen lässt, für den Nachwuchs schlecht aus?

RM: Aus meiner Sicht muss man fragen, was wollen wir eigentlich? Wollen wir in Zukunft in Deutschland Durchschnitt bleiben, oder wollen wir tatsächlich schauen, dass wir wieder an die Spitze kommen? Dazu gehört dann eben auch, dass man vermehrt Gelder in die Talente hineinsteckt. Die Talente muss man identifizieren und gezielt fördern, so dass man dann auch in der Lage ist, Leute mit dem Kaliber von Harvard- der MIT-Professoren zu etablieren. Nur so kann die akademische Forschung in Deutschland wieder kompetitiver werden. Wenn sie solche Talente hat und wenn man das erkennt, dann wird es zusätzliche Anreize für die Industrie geben, hier aktiv zu werden, damit diese Talente zusätzlich zu den staatlichen Mitteln durch Industriemittel gefördert werden.

HR: Das Stichwort dieses Jahres heißt Exzellenzcluster- Wahnsinn. Es wird sehr viel Zeit und viel Energie von hoch qualifizierten Wissenschaftlern für die Etablierung von Exzellenzclustern abgezogen. Einige wenige junge Menschen bekommen sehr viel Geld. Die Skeptiker befürchten, dass zwar ein paar junge Leute wunderbare Chancen haben, aber der Unterbau wegbricht.

RM: Der Unterbau wird sich an diesen Leuten orientieren. Das heißt, wenn man vermehrt solche Leuchttürme in Deutschland hat, wird es aus meiner Sicht automatisch – und so ist es auch in den USA – die anderen stimulieren und Anreize schaffen, noch besser zu werden, sprich: auf dieses Level zu kommen. Wenn man diese Leuchttürme gar nicht hat, oder man hat sie, aber sie können nicht leuchten, weil die Mittel nicht da sind, um sie zum Leuchten zu bringen, haben wir ein massives Problem. Momentan können wir nicht wirklich mit der Spitze mithalten, also mit den USA, mit England und teilweise auch mit Japan, nicht zu vergessen China, wo atemberaubende Entwicklungen stattfinden. Wir müssen hier ganz gezielt in diese guten Leute investieren. Das müssen wir mit staatlichen Geldern machen, und das müssen wir mit industriellen Geldern, mit privaten Geldern machen. Natürlich darf man nicht die Förderung des zweiten Levels vernachlässigen. Es geht auch um Ausbildung auf breiter Basis. Da muss man eine vernünftige Balance finden. Aus meiner Sicht haben wir in der Vergangenheit zu wenig getan, um unsere wirklichen Talente schneller in die Position zu bringen, wo sie selbständig wissenschaftliche Ergebnisse produzieren können, wo sie dann auch auf sich aufmerksam machen können. Da müssen wir etwas ändern.

HR: Welche Rahmenbedingungen würden Sie als Professor Metternich sich in dieser Hinsicht wünschen?

RM: Ich würde mir wünschen, dass Wissenschaft und Forschung ein Top-Thema einer zukünftigen Regierung ist. Dass sich die zukünftige Regierung dieses Thema auch wirklich auf die Fahne schreibt, und zwar ganz weit oben, denn das ist das, wodurch das Land in Zukunft überleben wird. Innovation ist das, was uns in Deutschland nach vorne bringen wird, konkurrenzfähig machen wird, das müssen wir fördern.

HR: Das hat sich Frau Bulmahn auch schon auf die Fahne geschrieben.

RM: Nur hatte sie nicht die nötige Rückendeckung und Unterstützung, und der Kanzler hatte auch nicht die Durchsetzungskraft, hier ein Machtwort zu sprechen. Bulmahn hat gute Ansätze vorgegeben, die ich absolut unterstütze. Aber Querschläger haben die Sache teilweise torpediert. Ich hoffe, dass es in Zukunft entsprechende Ausschüsse bei dem neuen Forschungsminister/der neuen Forschungsministerin geben wird. Die Industrie sollte sich noch stärker als bisher engagieren, und dann aber auch dafür sorgen, dass solche Task Forces nicht Debattierclubs sind, sondern mit konkreten Ergebnissen aufwarten können. Da ist bisher einiges suboptimal gelaufen: wo einfach oft und sehr viel geredet und diskutiert wurde, aber man hat sich nicht wirklich zu Ergebnissen durchringen können, geschweige denn, dass man diese dann umgesetzt hätte.

Interview Prof. Schwarz

Hazel Rosenstrauch: Was sind die Vorteile einer Forschung an der Universität?

Helmut Schwarz: Ich sehe den wichtigsten Vorteil darin, dass eine funktionierende Universitätsforschung im Gegensatz zu einer Forschung, beispielsweise in Industrielaboratorien, eine Langzeitperspektive haben darf und haben muss. Die Zeitskala und nicht der Scheinkonflikt ‘angewandte versus Grundlagenforschung’ ist für mich der entscheidende Unterschied: Grundlagenforschung hat lange Zeitskalen, 10 bis 20 Jahre, während jede Industrieforschung aus nachvollziehbaren ökonomischen Gründen auf kurze Zeitskalen eingestellt ist. Universitäts- oder Max-Planck-Institute, also diejenigen Institutionen, die der Grundlagenforschung verpflichtet sind, dürfen nicht kurzatmig agieren.

HR: Und wie steht es in puncto Vor- und Nachteile mit dem Geld?

HS: Das könnte leicht zum Hauptproblem werden, da wir in den Universitäten zusehends unter dem Druck stehen, die Verwertungsinteressen, also den unmittelbaren Nutzen, in den Vordergrund zu stellen. Meine Befürchtung ist, dass man durch eine solche Haltung zwar kurzfristig einen Vorteil erzielen kann, aber langfristig ein Kollateralschaden eintritt, einfach deshalb, weil bereits bei der Forschungsplanung die Verwertungsfrage eine zu starke Rolle spielt und der Forscher verführt wird, nicht mehr über das zu forschen, was ihn vielleicht interessiert und was er oder sie am besten kann, und auf Gebieten, auf denen möglicherweise Erkenntnisse gewonnen werden könnten, sondern er oder sie das erforscht, wofür es Geld gibt.

HR: Wie sieht es mit den Übergängen zwischen angewandter und Grundlagenforschung aus?

HS: Die – auch von mir erwünschten – Übergänge sehe ich am ehesten in den Bereichen, in denen Forschungsprojekte angesiedelt sind, die sowohl die Expertise einer akademisch orientierten Forschung benötigen als auch eine klare Zielvorgabe – etwa bei vielen thematisch aufregenden und gesellschaftlich wichtigen Themen aus den Lebenswissenschaften. Es sind dies oftmals Projekte, die Zeitskalen von fünf bis zehn Jahren haben. Was deutlich kürzer als fünf Jahre ist, sollte die Industrie überwiegend allein erforschen und dafür auch Wegmarken definieren. Aber Universitätsforschung, wie ich sie verstehe, hat, wie Mittelstraß einmal feststellte, “Schneisen ins Unbekannte zu legen”. Projekte, von denen man nicht wissen kann, was bei ihrer Bearbeitung herauskommt, von denen nicht erkennbar ist, wo sie hinführen, kann hingegen keine Industrie fördern. Das kann nur die Hochschule oder ein Max-Planck-Institut leisten.

HR: Wie schaut es unter den gegebenen Bedingungen mit den jungen Leuten aus, die zum Beispiel Chemiker werden möchten und quasi zwischen Industrie und Universität zu wählen haben?

HS: Der überwiegende Teil der Chemiker ging ja schon immer in die Industrie, obwohl die Ausbildung primär für eine akademische Laufbahn organisiert war. In den letzten Jahren hat aber auch in der universitären Chemieausbildung der Aspekt ‘verbesserte Berufschancen’ an Bedeutung gewonnen. Die ganze Diskussion, die wir derzeit über das Thema Bachelor/Master führen, oder die Forderung, eine Doktorarbeit in maximal drei Jahren abschließen zu können, wird leider vor dem Hintergrund des Berufsmarktes geführt. Ich selber halte diese Diskussion nicht für günstig und bin überzeugt, dass die zu beobachtende Ökonomisierung der Universitäten falsch ist. Eher sollte man sich eine verstärkte Akademisierung der Industrieforschung wünschen.

HR: Ein wichtiges Stichwort. Es gibt ja Bereiche, in denen die Industrie selber angefangen hat, langfristige Forschung zu machen, bei der es auch einen Austausch zwischen den Forschern gibt. Wie sieht das aus?

HS: Das war und ist ein nicht uninteressantes Wechselbad: Wenn man zum Beispiel an die Bell-Laboratorien in den USA denkt, in denen in den sechziger Jahren Grundlagenforschung auf höchstem Niveau betrieben wurde – Stichworte: Transistor oder Laser. Nobelpreise sind aus dieser oder anderen Industrieforschungsstätten hervorgegangen! Und dann, fast plötzlich, verschwand die Grundlagenforschung innerhalb von zehn Jahren, weil das Management realisierte, dass diese Bereiche mit viel zu vielen Fragezeichen hinsichtlich der Kommerzialisierung von Produkten versehen waren – und Risikoforschung dieser Art kann sich keine Industrie erlauben. Industrie muss Forschung betreiben, die unmittelbar in ein marktfähiges Produkt führt. Also erneut: Die unterschiedlichen Zeit- und Zielvorgaben dürfen nicht vergessen werden. Trotz dieser ‘Konfliktsituation’ kann die Wechselwirkung produktiv sein, und ein Beispiel hierfür stellt die Chemie dar, bei der – zumindest in Deutschland – die Zusammenarbeit der beiden Seiten gut, wenn nicht gar ausgezeichnet war und ist. Die Haltung der Industrie ist von einem früheren Forschungsleiter einmal zutreffend zusammengefasst worden: “Universitätsforschung sollte im Hinblick auf eine Anwendungsoffenheit ‘ja’ sagen, der Anwendungsbezug sollte erwünscht sein, wird die Hochschulforschung allerdings zu stark anwendungsorientiert, dann könnte es für sie kritisch werden, und wenn der Anwendungsaspekt gar dominiert, dann wird es tödlich enden.”

HR: Es gab im letzten Jahr viele Versuche der Bundesregierung, durch Innovationsinitiativen, Transferinstitute usw. Verbindungen herzustellen, die von den Forschern nicht immer goutiert wurden. Wo liegt da die Problematik?

HS: Eine Analyse erscheint mir ziemlich einfach, und man kann leicht verdeutlichen, warum ein Bottom-up-Prinzip besser ist als staatlich gelenkte Interventionen. In den USA gab es in den sechziger Jahren eine mit Milliarden Dollar initiierte Kampagne zur Krebsforschung. Beste Absichten waren zwar dabei, aber das Projekt ist trotzdem komplett gescheitert. Warum? Forschung lässt sich nicht planen. Die besten Ideen sind oft jene, die auf Neugier und Zufallserkenntnis basieren. Ein eng gezogener Forschungsrahmen stört, vor allem wenn wichtige Aspekte ungeklärt sind. Das US-Krebsforschungsprojekt war auch deshalb ein Reinfall, weil man zu der Zeit beispielsweise noch nicht wusste, was die molekularen Mechanismen der Krebsentstehung sind. Und als die Forschung plötzlich – nicht mit der Zielvorgabe, wie heile ich beispielsweise Brustkrebs, sondern auf einem gänzlich anderen Gebiet, nämlich der Frage des Mechanismus der Zellteilung bei der Fruchtfliege – sich um Themen kümmerte, die primär überhaupt nichts mit Krebsforschung zu tun hatten, entwickelte man Methoden, die 20 Jahre später in die medizinische Forschung eingingen und dann zu Problemlösungen führten. Deshalb bin ich extrem kritisch gegenüber einer zu starken Top-down-Forschung und plädiere für neugiergetriebenes Arbeiten. Wenn das Ziel zu eng vorgegeben ist, kann man einfach nur über Dinge arbeiten, die relativ bekannt sind, und man weiß, in welche Richtung zu marschieren ist. Aber der Grundlagenforschung muss zugestanden werden, das Ziel eben nicht genau kennen zu müssen. Dies zu gewähren, ist zunächst eine genuin öffentliche Aufgabe, die keiner Industrie zugemutet werden darf. Aber umgedreht sollte von der Universität auch nicht verlangt werden, nur noch das zu erforschen, was in einer Zeitskala von drei bis vier Jahren ‘marktfähig’ gemacht werden kann.

HR:Wir haben ja nun das Problem, dass die öffentliche Hand zum Teil das Geld für die Grundlagenforschung nicht hat. Diese Initiativen sind ja auch mit der Hoffnung gestartet worden, man könnte auf diese Art Geld bekommen. Und die Industrieforschung ist doch auch auf die Ergebnisse der Grundlagenforschung angewiesen?

HS: Das ist sie auch. Aber diese Wechselbeziehung geschieht mit einer großen Zeitverschiebung. Zeitverschoben schätzen wir als Konsumenten vieles in unserer technisierten Hochkultur – den Kaffee, den wir jetzt trinken, das Aufnahmegerät, das wir hier benutzen, den Fernseher zu Hause, ja, fast die gesamte Welt, wie wir sie heute erfahren -, ohne zu wissen oder sich zu erinnern, dass diese Dinge Resultate einer nicht geplanten Grundlagenforschung sind, die Dekaden zurückliegt.

HR: Okay, aber je mehr die Wissenschaft in den Alltag hineingeht, desto problematischer wird es, wenn der Gewinn daraus privatisiert wird, die Investitionen aber von der öffentlichen Hand geleistet werden.

HS: Das ist der berühmte Normenkonflikt. Aber die Felder sind doch klar zu bezeichnen. Akademische Bereiche sind öffentliche Plätze im geistigen Sinne. Hier muss Offenheit als Handlungsprinzip gelten, das heißt, das Wissen und die Erkenntnis, die gewonnen werden, sind primär allen zugänglich. Umgekehrt muss ein Unternehmen aus sehr guten Gründen darauf achten, Know-how geschützt zu sehen. Denn wie sonst soll eine Firma ihren beträchtlichen Forschungs- und Entwicklungsaufwand finanzieren, wenn nicht in Form von Patenten, Lizenzen usw.? Hier könnte sich zwar ein Normenkonflikt anbahnen, der aber von Fall zu Fall lösbar ist.

HR: Ein Beispiel für solche Fälle sind Investitionen der Industrie in die Grundlagenforschung.

HS: Ja, aber die Summen selbst sind oft vergleichsweise klein […] Um ein Beispiel zu nennen: Die Universität Stanford hat ein Jahresbudget der Größenordnung von einer Milliarde Dollar, aber nur vier Prozent dieses Budgets stammen aus direkten Aufträgen der Industrie.

HR: Die Industrie muss an einer langfristigen Grundlagenforschung interessiert sein, die sie verwertet; die öffentliche Hand kann sich das nicht mehr leisten. Also betreibt die Industrie entweder selbst Grundlagenforschung…

HS: Ja, aber aus den oben angedeuteten Gründen nur noch eingeschränkt. Das Beispiel, das ich vorhin von der Physik gebracht habe, gilt genauso in den Bereichen der Chemie, der Kommunikations-, der Lebens- oder der Materialwissenschaften. Die Industrie hat Grundlagenforschung, die sie vor 30 Jahren noch betrieben hat, weitgehend aufgegeben. Sie betreibt diese nur noch in einer direkten Anbindung derselben an ein klar definiertes Unternehmensziel. Faktisch betreibt sie keine Grundlagenforschung mehr, und sie ist auch nicht die richtige Institution, dies zu tun.

HR: Man spricht in letzter Zeit viel von Kooperationen. Man leiht sich einen Professor aus, der Grundlagenforschung betrieben hat und der dann mitfinanziert wird von der Industrie. Oder die Industrie finanziert Lehrstühle…

HS: Die Beispiele fallen bisher zahlenmäßig kaum ins Gewicht und liegen manchmal in einer Grauzone. In dieser Grauzone kann es durchaus Überlappungen geben, die sinnvoll sind. Es kann aber auch die Gefahr bestehen, dass diese Kollegen ihren primären Auftrag vergessen: nämlich den Erkenntnisgewinn zu erhöhen. Bei den meisten Lehrstühlen, die wir heute in Deutschland als Stiftungslehrstühle finanziert bekommen, ist diese Gefahr vermutlich aber eher recht gering, da die Professuren beispielsweise auf fünf Jahre finanziert und die Motive der Stifter mäzenatisch sind. Etwas anders ist die Situation bei An-Instituten oder bei Einrichtungen der Fraunhofer-Gesellschaft; dort wird allerdings von Anfang an gar kein Hehl daraus gemacht, die Expertise aus den Hochschulen zu kombinieren mit klar definierten Erwartungen der Industrie. Es gibt viele Bereiche, zum Beispiel die Ingenieurwissenschaften, wo diese Absprachen und Aufgabenteilungen völlig sinnvoll sind. Aber wir sollten jene Bereiche schützen, die zunächst ausschließlich dem Erkenntnisgewinn zu dienen haben. Wir müssen sie auch deshalb schützen, weil dies vermutlich der einzige Bereich ist, in dem wirklich Neues erzeugt wird: Alle Innovation hat dort ihren Ursprung! Das Argument, das wäre alles zu teuer, lasse ich nicht gelten. Denn das, was vom Gesamtbudget für Forschung und Entwicklung für die Grundlagenforschung reserviert ist, sind Saatkörner – der Ertrag wird sich schon einstellen.

HR: Aber es bedarf offenkundig irgendwelcher Brücken, deshalb hat ja die Bundesregierung Transferstellen eingerichtet und Start-ups ermuntert, aber das ist wohl nicht von Erfolg gekrönt.

HS: Wenige ‘Erfolgsgeschichten’ gibt es wohl, aber generell ist bisher kein Durchbruch gelungen. Vielleicht sind wir auch nur zu ungeduldig. Aber ich selber bezweifle, ob ein glänzender Forscher zugleich ein erfolgreicher Kaufmann sein kann. Man kann einen Professor zwar ruhig einmal ein Sabbatical in der Industrie verbringen lassen oder Industrieleute in die Hochschulen schicken. Davon können beide Seiten vermutlich profitieren, aber ich selber habe den wirklichen Nutzen bisher noch nicht erkennen können.

HR: Einer der Streitpunkte ist, dass die Grundlagenforschung öffentlich finanziert wird und die Industrie die Ergebnisse verwertet und eventuell eben keine Arbeitsplätze hier schafft, sondern irgendwo anders.

HS: Darin sehe ich keinen wirklichen Konflikt, vorausgesetzt, dass die erkenntnisgetriebene Grundlagenforschung nicht einem ökonomischen Diktat unterworfen wird. Die Gefahr besteht eher darin, dass es zunehmend einflussreiche Personen gibt, die einfach behaupten, dass Grundlagenforschung, wie wir sie bisher verstanden und betrieben haben, obsolet sei und die Forscher besser das machen sollten, was übermorgen verkauft werden kann. Dagegen muss man sich wehren. Ich wehre mich überhaupt nicht dagegen, wenn aus der Grundlagenforschung heraus in zehn Jahren vielleicht ein Produkt entwickelt und damit Millionen Euro verdient werden. Das ist doch wunderbar, und es nutzt vielen. Gegenüber ungerechtfertigten Erwartungen der Industrie kann man sich übrigens erfolgreich wehren, und man muss nicht jedes Angebot für eine Zusammenarbeit annehmen. Das Problem entsteht eher dann, wenn die Politik versucht, ein Regelwerk aufzubauen, mit dem sie Universitäten gefügiger machen möchte – denn wie gesagt: Politiker verstehen gar nichts von den Regeln erfolgreicher Grundlagenforschung.

HR: Nehmen wir ein besonders heikles Beispiel, die Genforschung. Es sind lange Entwicklungszeiten nötig, um etwas zu erforschen. Es sind hohe Gewinne möglich, wenn man sie in Medikamente oder Therapien umsetzt. Die öffentliche Hand finanziert die langfristige Forschung, die Industrie macht Medikamente daraus. Der einzelne Forscher kann sich beteiligen, er kann wechseln, kann ein Start-up-Unternehmen gründen. Wie geht man dabei mit öffentlicher Finanzierung, Gewinnorientierung und Beteiligungen um?

HS: Das wird durch Verträge geregelt. Wenn ein Hochschullehrer mit einer Firma zusammenarbeiten will, meldet er dies seiner Universität, die die Zusammenarbeit zu genehmigen hat. Es wird festgelegt, wer der Eigentümer einer Erfindung ist, wie Nutzungsrechte aussehen usw. Das wird alles vertraglich geregelt. Ich sehe darin kein Problem, eher darin, wie eine finanziell attraktive Zusammenarbeit die Einstellung eines Forschers zu seinem Beruf zu verändern vermag, beispielsweise, dass er sich auf Projekte einlässt, die kurzfristig ‘Forschungsgelder’ liefern, obwohl der Gegenstand der Forschung eher von geringerem Interesse ist. Der entscheidende Punkt ist die schleichende Veränderung von Mentalitäten, Einstellungen oder Motivlagen der forschenden Akteure.

HR: Das ist eine moralische Forderung, die unter den heutigen Bedingungen manchem 30-Jährigen absurd erscheinen könnte.

HS: Ja, so sind Menschen – und deshalb wird sich auch die Hochschullandschaft in den nächsten Jahren dramatisch verändern. Ich selber bin davon überzeugt, dass die betriebene Ökonomisierung der Universitäten gravierende Spuren hinterlassen wird – ob immer zum Vorteil dieser Institution, darf bezweifelt werden, läuft es doch darauf hinaus, dass Universitätsinstitute im Prinzip zum verlängerten Arm von Auftraggebern werden können: Diese werden vermutlich bestimmen, was geforscht werden soll, und das kann nicht gesund sein. Es gibt ein berühmtes Beispiel: An der Universität Berkeley wurde die chemische Biologie von Novartis mit einem beeindruckend großen Forschungsbudget unterstützt; Berkeley blieb zwar der geistige Eigentümer von allen Erfindungen, aber Novartis hatte das Recht, als Erste gefragt zu werden, ob sie Lizenzen nehmen möchte. Ferner hatte Novartis das Privileg, alle Publikationen einzusehen, bevor diese veröffentlicht wurden. Kein Einwand dazu meinerseits, aber ich bin ziemlich sicher, dass selbst dann, wenn Novartis in der Projektbewertungs-kommission von Berkeley keinen Sitz gehabt hätte, man sich in der Universität sehr wohl überlegt hätte, Projekte zu fördern, die vielleicht nicht im Sinne von Novartis gewesen wären – wer will schon auf ein üppiges Mahl verzichten? Das ist der bedrohlichere Aspekt von Verwertungsinteressen, der für das Gesamtsystem schädlich werden könnte.

HR: Die Industrie muss also an Grundlagenforschung interessiert sein, weil ihr, wenn nur noch produktorientiert geforscht wird, quasi der Geist ausgeht, den sie braucht? Da müsste der Impuls also aus der Industrie kommen?

HS: Mir hat hierzu vor wenigen Jahren ein Forschungsleiter aus der Industrie gesagt: “Das große Problem in der Industrieforschung besteht darin, dass heute in den Vorständen zu viele Kaufleute sitzen. Und falls ein Forschungsleiter überhaupt noch Ähnlichkeit mit einem Forscher besitzt, oft verfügt er nicht über das Gewicht, Forschungsprioritäten durchzusetzen.” Noch einmal mein Credo: Die entscheidenden Durchbrüche verdanken wir der Kombination von Neugierde und Zufall. Ferner, Grundlagenforschung ist ein Kulturbeitrag, und es ist zu bedauern, wenn Grundlagenforscher zu sehr aus einer Defensivhaltung heraus argumentieren, als ob sie sich verteidigen müssten, und glauben, sie müssten den Nutzen ihrer Forschungen an den Beginn einer Argumentationskette platzieren. Selbst der große Michael Faraday war davon nicht frei, als er – vom Schatzkanzler auf den Sinn seiner (teuren!) Forschung angesprochen – resignierend feststellte: “My Lord, one day you will tax it”.

HR: Das Selbstbewusstsein hat vielleicht auch etwas mit der Finanzierung zu tun. Woher sollen sie es nehmen?

HS: Ich bin seit 30 Jahren in der Grundlagenforschung tätig, auf Finanzierungs-möglichkeiten habe ich bei der Auswahl der Themen nie Rücksicht genommen. Und ich bin bisher gut damit gefahren. Die sehr guten Forscher bekommen übrigens in Deutschland die Mittel, die sie benötigen. Wir sind in Deutschland noch eine Insel der Seligen. In den USA wäre meine eigene Forschung nach wenigen Jahren deshalb zusammengebrochen, weil dort die Programmforschung dominiert. Wer nicht hineinpasst in Energieforschung, in die Materialwissenschaften Im Gespräch und welches andere Kapitel auch immer, kriegt oft nicht genügend Geld.

HR: Aber trotzdem ist offenbar die amerikanische Wissenschaft konkurrenzfähiger als die deutsche.

HS: Das hat viele Gründe, von denen das Gesamtvolumen der Forschungsgelder nur einer ist: Die ‘National Institutes of Health’ haben ein Jahresbudget von 27 Milliarden Dollar. Die DFG und die Max-Planck-Gesellschaft zusammen erhalten pro Jahr weniger als 4 Milliarden Dollar. Aber mindestens so wichtig wie Geld sind andere Faktoren, für junge Wissenschaftler zum Beispiel ein funktionierendes Tenure-Track-System.

HR: Versteht die Industrie etwas von Grundlagenforschung?

HS: Ja, das glaube ich schon. Kluge Industrieleute wissen den Wert von Grundlagenforschung zu schätzen, auch wenn diese nicht zu ihrer Kernkompetenz gehört, so wie sie auch wissen, mit welchen Forschern man gerne zusammenarbeiten möchte.

HR: Wo könnte die Lobby aus kluger Industrieforschung und Grundlagenforschung entstehen?

HS: In einer Akademie – vielleicht.

'Akademie' hier jeweils verstanden im Sinne des englischen 'academia', also akademischer Forschung

Published 20 January 2006
Original in German
First published by Gegenworte 16 (2005)

Contributed by Gegenworte © Hazel Rosenstrauch / Rainer Metternich / Helmut Schwarz / Gegenworte / Eurozine

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