In der Ukraine geht es um Europa
Für den Februar dieses Jahres hatte ich eine Forschungsreise in die Ukraine geplant. Ich bin an einem interdisziplinären Projekt zu den Herausforderungen für die liberale Werteordnung beteiligt und untersuche deren Implikationen für die Grenzen und Grenzregionen der Ukraine. Ziel meiner Reise war Charkiw, die zweitgrößte Stadt des Landes, 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Ich wollte auch Interviews in kleineren Grenzstädten der Region durchführen. Eine Covid-Welle in der Ukraine vereitelte den Plan, und ich hoffte, ihn im Frühjahr verwirklichen zu können.
Stattdessen sitze ich nun schon in der vierten Woche vor meinem Computer und verfolge den Krieg, den Putins Russland gegen die Ukraine entfesselt hat und der unendliches Leid über Millionen ukrainischer Familien bringt. Charkiw, ein blühendes Zentrum kulturellen und akademischen Lebens, eine Großstadt, deren Bevölkerung mehrheitlich russisch spricht, mein Geburtsort und die Heimat mehrerer Generationen meiner Familie, gleicht zunehmend Aleppo und ist nun halb leer. Allein per Bahn haben bis zum 8. März 600 000 Bewohner die Stadt verlassen.
Während ich nicht aufhören kann, die schrecklichen Bilder anzuschauen, die die Geschichten meiner Großmutter aus dem Charkiw des Zweiten Weltkriegs wiederaufleben lassen, versuchen mich Charkiwer Freunde und Kollegen aus Lwiw, Krakau, Joensuu, Berlin oder irgendwelchen Dörfern nahe der ukrainisch-ungarischen Grenze zu erreichen. Vovchansk und Kupiansk, die Städtchen in der Nähe von Charkiw, die ich besuchen wollte, sind nun von russischen Truppen besetzt. Vor ein paar Tagen gingen Aufnahmen von verzweifelten pro-ukrainischen Protesten in Kupiansk durch die sozialen Medien. Ähnliche friedliche Massenproteste unter ukrainischen Flaggen gab es in Cherson, Melitopol, Berdiansk und anderen Städten unter russischer Kontrolle. Mariupol, die ukrainische Bastion am Asowschen Meer, an der Kontaktlinie zu den sogenannten Volksrepubliken gelegen und ein Vorzeigebeispiel für die Reformen nach dem Maidan 2014, wird von der russischen Armee belagert und systematisch zerstört. Für die Ukrainer geht es in diesem ungleichen Kampf um die Existenz ihres Staates und das Überleben der Ukraine als unabhängiger Nation – einer Nation, die Präsident Putin wiederholt als „nichtexistent“ bezeichnet hat. In diesem Kampf geht es aber auch um die Verteidigung der liberalen Demokratie und um das Selbstbestimmungsrecht der Ukrainer, insbesondere um das Recht, zu entscheiden, wohin das Land gehört, nämlich in die Europäische Union.
Neue Herausforderung für die liberale Wertordnung
Für eben diese Werte protestierten tausende von Ukrainern bereits 2004 und 2013/14 auf dem Kiewer Maidan. Zweifellos hatte die postsowjetische Ukraine ihre Probleme mit Korruption und Populismus, es war eine Gesellschaft, die unter Spaltungen und unter Radikalisierung an ihren politischen Rändern litt – wie fast alle Länder in (Ost-)Europa. Aber diese inneren Herausforderungen für die liberale Demokratie können nicht die Tatsache verdecken, dass jetzt eine ungleich größere Herausforderung – nicht nur für die Ukraine, sondern für Europa – von Putins Russland ausgeht. Mit seinem Krieg gegen die Ukraine versucht er, die nach dem Kalten Krieg gestiftete europäische Friedensordnung und die liberalen Prinzipien, auf denen die europäischen Gesellschaften gegründet sind, zu zerstören. Pro-Putin-Stimmen in Russland beschwören schon lange einen Kampf der „Russischen Welt“ gegen die „westliche liberale Ordnung“. Gewiss ist die Ukraine kein perfektes Modell für diese Ordnung, aber sie bietet russischen oppositionellen Journalisten und Intellektuellen seit Jahren Zuflucht; und heute, selbst unter Kriegsbedingungen, ist sie immer noch freier und demokratischer als der Aggressorstaat, der inzwischen die letzten unabhängigen Medien unterdrückt und eine Emigrationswelle der gebildeten Klasse ausgelöst hat, die an den Exodus nach der Oktoberrevolution erinnert.
Noch einmal: Die Ukraine ist nicht das einzige und vielleicht nicht einmal das Hauptziel von Putins Russland. Dieser Krieg stellt eine seltsame Mischung aus altmodischen militärischen Gefechten einerseits und Schlachtfeldern und Fronten eines neuen Typs andererseits dar. Russland hat die Auswirkungen der Flüchtlingskrise von 2015 auf die Länder der Europäischen Union genau beobachtet und Putins Verbündeter Lukaschenko hat neulich den Einsatz von Flüchtlingen an der belarussischen-polnischen Grenze als Waffe getestet; nun versucht Russland, die Europäische Union zu destabilisieren, indem es Millionen Ukrainer aus ihrem Land vertreibt.
Die Zerstörung der Ukraine ist auch eine moralische Waffe: Moskau bestraft und demütigt die Europäische Union, indem es ihre Schwäche und ihren Mangel an Entschlossenheit bloßstellt. Denn wenn die westlichen Partner der Ukraine unfähig sind, die russische Aggression zu stoppen, verlieren sie ihre moralische Glaubwürdigkeit. Der Westen würde dann aus dieser Krise geschwächt hervorgehen, besonders in den Augen Osteuropas. Nicht zuletzt: Wenn die Kriegsverbrechen des russischen Regimes ungeahndet bleiben, würde das die für Generationen von Europäern geltende moralische Ordnung untergraben, die mit dem Sieg über Nazideutschland und den Nürnberger Prozessen etabliert wurde. Das wäre dann wirklich das Ende der Geschichte.
Fast täglich spreche ich mit meiner besten Freundin. Sie hat Charkiw noch nicht verlassen, auch weil sie in der Nähe ihrer Verwandten bleiben will, die in einem Städtchen im Verwaltungsbezirk (Oblast) Luhansk leben, das noch nicht okkupiert ist. Angesichts der russischen Forderung, das Territorium der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk auf die weiter gefassten Oblast-Grenzen auszuweiten, sind die Chancen, ihre Familie zu sehen, gesunken. Am 14. März rief sie mich ganz verzweifelt an. Ihre Verwandten hatten ihr erzählt, dass ihre Stadt von der ukrainischen Artillerie beschossen würde. Das hatten sie aus dem russischen Fernsehen. In Wahrheit kam das Feuer von der anderen Seite. Doch das wollen sie nicht glauben. „Das Einzige, was wir uns noch zu sagen haben, ist ‚Ich bin froh, dass ihr noch lebt‘, und ‚Ich bin froh, dass Du noch lebst‘.“
Die Wahrheit stirbt zuerst
Die Instrumentalisierung der Medien zu Propagandazwecken ist nichts Neues. Schon 2014 konnten wir beobachten, wie von russischen Medien produzierte und verbreitete verdrehte Narrative zur pro-russischen Mobilisierung im Osten der Ukraine beitrugen, die Annexion der Krim und den Separatismus im Donbas legitimierten, den militärischen Konflikt dort anheizten, Familien zerrissen und Freundschaften zerstörten. Heute macht Russland dasselbe, nur in einem viel größeren Maßstab. Ganz gleich, wie absurd die Behauptungen Moskaus sind, etwa dass in Kiew eine Nazi-Junta säße, die seit acht Jahren einen Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung im Donbas verübe, oder dass die Ukraine gemeinsam mit den USA biologische Waffen entwickele, die russischen Fake News finden ihr Publikum, zuhause und auch im Westen. Das Ziel ist nicht nur, Unwahrheiten zu verbreiten, sondern Wahrheit und Lüge ununterscheidbar zu machen.
Obwohl die Existenz der Ukraine in diesem Krieg auf dem Spiel steht, sind die ukrainischen Medien nach wie vor pluralistisch. Ukrainische und ausländische Journalisten können ihre Arbeit tun, oft unter Einsatz ihres Lebens. Auch die Ukraine führt selbstverständlich einen Informationskrieg, aber Kiew muss keine Fake News produzieren, die Wahrheit spricht für sich.
Anders in Russland. Bekanntlich bekämpft der Kreml den freien Journalismus im eigenen Land nicht erst seit gestern, aber mit dem Krieg hat die Unterdrückung eine neue Dimension angenommen. Die letzten kritischen Medien wurden gezwungen zu schließen oder entschuldigen sich für Selbstzensur, etwa wenn sie den verbotenen Begriff „Krieg“ durch den offiziellen Begriff „Spezialoperation“ ersetzen. Zugleich schränken russische Behörden den Zugang zu westlichen Medien ein, oder diese stellen ihre Arbeit wegen inakzeptabler Auflagen vorübergehend ein; der Zugriff auf Facebook und Twitter wurde kürzlich blockiert. So wird es für die Mehrzahl der Leser und Hörer immer schwieriger, alternative Quellen zur staatlich kontrollierten Information zu konsultieren. Eine Folge ist, dass viele Russen, die im Ausland leben, sich nicht mehr mit ihren Verwandten und Freunden daheim verständigen können – sie leben inzwischen in verschiedenen Wirklichkeiten. Der Zusammenbruch der Kommunikation ebenso wie die systematische Desinformation sind weitere Herausforderungen für liberale Demokratien, die der Wahrheit verpflichtet sind und vom freien Austausch von Informationen und Meinungen leben.
Was bedeutet all dies für die ukrainischen Grenzen, den Gegenstand und Ort meiner Forschungen? Auch diese Frage bedarf vorab einer Klärung. Im Budapest-Memorandum von 1994 verpflichteten sich die Unterzeichnerstaaten, darunter die Russische Föderation, die Unabhängigkeit und Souveränität der Ukraine in ihren existierenden Grenzen zu achten. Diese Verpflichtung hat Russland 2014 mit der Annexion der Krim, mit dem hybriden Krieg im Donbas und nun mit der Invasion des ganzen Landes gebrochen. Die Ukraine ist zum Schauplatz eines Krieges geworden, der Leib und Leben von Millionen Menschen bedroht – ein massiver Angriff auf elementare Grundrechte. Wenn die russische Armee im Osten und Süden des Landes im Namen angeblicher „humanitärer Hilfe“ zwangsweise Zivilisten aus Städten und Dörfern auf russisches Territorium „evakuiert“, so ist das nichts anderes als eine Vertreibung der Bevölkerung mit dem Ziel, die Voraussetzungen für eine radikale Neuziehung der Grenzen zu schaffen. Belarus im Norden bleibt eine Bedrohung, auch wenn es einstweilen ein eher zögerlicher Verbündeter Russlands ist. Moldawien ist inzwischen ein wichtiges Transit-Land für ukrainische Flüchtlinge, aber seine Grenze mit dem De facto-Staat Transnistrien im Südwesten kann jederzeit zu einer neuen militärischen Front werden.
Published 11 April 2022
Original in English
First published by Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2022 (German version) / Scripts Blog (original English version) / Eurozine (extended English version)
Contributed by Blätter für deutsche und internationale Politik © Tatiana Zhurzhenko / Blätter für deutsche und internationale Politik / Eurozine
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