Impulse für Europa
Wer über das jüdische Leben und das jüdische Erbe spricht, darf von Osteuropa nicht schweigen. Die osteuropäischen Juden stellen ein Muster für Grenzüberschreitung, Transnationalität und den Transfer von Religion, Tra-dition, Sprache und Kultur dar. Vom 18. Jahrhundert an lebte die Mehrheit der jüdischen Weltbevölkerung in Osteuropa. Zwischen 1870 und dem Ersten Weltkrieg verließen etwa 3,5 Millionen jüdische Emigranten ihre Heimat, überwiegend das Russische Reich und das habsburgische Galizien. Diese Emigration war der Ausgangspunkt für die Gründung der neuen jüdischen Gemeinden in den USA, in Kanada, Südafrika, Argentinien und in Palästina. Die Mehrheit der amerikanischen Juden blickt auf osteuropäische Vorfahren zurück. In Israel ist es über die Hälfte der jüdischen Bevölkerung. Achtzig Prozent der heute weltweit lebenden Juden haben ihre Wurzeln in Osteuro-pa.
Trotz dieser Massenemigration blieb Osteuropa das Zentrum jüdischen Le-bens. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten die meisten europäischen Juden in Polen. In der Sowjetunion gaben bei einer Volkszählung 1939 über drei Mil-lionen Menschen an, sie seien “jüdischer Nationalität”. 3,5 Millionen jüdische Polen waren eng mit ihren nichtjüdischen Nachbarn in Wirtschaft, Gesell-schaft und Kultur verflochten.
Beinahe alle polnischen Juden wurden während des Holocaust getötet. Ihr Gedenken findet erst seit 1990 Eingang ins Bewusstsein der Polen und polari-siert die polnische Gesellschaft bis heute. Wie Katrin Steffen darstellt, wird die Erinnerung von einer “Opferkonkurrenz” einerseits und einer Art “virtuellen Judentums” andererseits dominiert.
Auch Litauen war ein lebendiges Zentrum der religiösen und säkularen jüdi-schen Kultur, diese reiche jüdische Kultur wurde durch den Genozid der Na-zis und ihrer Kollaborateure aber fast vollständig ausgelöscht. Heute wird der Auseinandersetzung mit der Mitverantwortung am Holocaust in Litauen mit politischem Widerstand begegnet, schreibt Vytautas Toleikis. Dennoch integriert sich das Erbe der litauischen Juden langsam ins kollektive gesellschaftliche Bewusstsein. Auch die offizielle Ukraine verschweigt das jüdische Erbe weiterhin, gleichzeitig versuchen aber Privatpersonen und Organisationen die jüdische Kultur und Geschichte in die Ukrainische Identität zu integrieren, wie Anatolij Podolskyi schreibt.
Bis heute prägt der Holocaust den Blick auf die jüdische Geschichte. In Deutschland wurden osteuropäische Juden jahrzehntelang nur als “tote Juden” wahrgenommen. Drastisch formuliert das François Guesnet. Eine solche Sichtweise be-deute implizit eine Fortführung der totalitären Perspektive der deutschen Herrenmenschen. Wahrgenommen werde lediglich der Völkermord, nicht jedoch das, was durch ihn an individuellen Existenzen, Hoffnungen und Lebensentwürfen ausgelöscht wurde.
Genau an diesem Defizit setzt diese Ausgabe von Osteurpa Impulse für Europa an. Er macht das jüdische Erbe in Euro-pas Gegenwart sichtbar. Die Geschichte der osteuropäischen Juden ist nicht die Geschichte einer exotischen, isolierten Minderheit. Juden und Nichtjuden beeinflussten sich gegenseitig. Die osteuropäisch-jüdische Geschichte ist un-auflöslich mit der Geschichte Europas verflochten. Doch diese Geschichte ist keine abgeschlossene Vergangenheit. Denken und Handeln osteuropäischer Juden wirken in der Gegenwart fort. Sie geben Impulse für die Musik, die bildende Kunst, die Philosophie, das politische Denken, die Jugendforschung oder das Völkerrecht. Die Denker Martin Buber, Joshua Heschel und Emma-nuel Levinas verbindet einerseits eine “ostjüdische” Erfahrung, andererseits aber auch ihre universalistische, auf unmittelbare menschliche Verantwortung zielende Ethik. Micha Brumlik stellt dar, dass wir vor allem Levinas eine Würdigung dessen verdanken, was man als “Ostjudentum” bezeichnen könnte. Den einflussrei-chen Unternehmer, Publizisten und Pazifisten Jan Bloch möchte Manfred Sapper mit seinem Beitrag ins kollektive europäische Gedächtnis rücken: Er gab nicht nur den An-stoß für die Haager Friedenskonferenz, sondern forderte schon früh Rüs-tungskontrolle und die Einrichtung eines internationalen Gerichtshof.
In diesen Texten geht es um mehr als um das Erbe. Sie hinterfragen verbreitete Topoi und Klischees, die über osteuropäische Juden kursieren. Trotz aller Widerstände und Brechungen wächst auch in Osteuropa die Bereitschaft, das jüdische Leben und Wirken in die eigene Erinnerungskultur zu integrieren. Soweit, dass man beinahe von einer Renaissance jüdischen Lebens in Osteuropa sprechen könnte.
Published 27 November 2008
Original in German
First published by Osteuropa 8-10 (2008)
Contributed by Osteuropa © Osteuropa / Eurozine
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