Billions in grants intended to help member states after COVID-19 emanate from the EU’s Recovery and Resilience Facility. But potentially fraudulent use of funds and concerns about transparency bring the integrity of the RRF – and the EU itself – into question.
If you want to change the world, you must change the economy
“Every day of crisis is a day of learning, a window of opportunity, but this window will get smaller and smaller unless rapid and fundamental changes take place in the economy.” 95 year-old political economist Kurt Rothschild in interview with “Wespennest”.
Walter Famler und Erich Klein: Es gibt die schöne Geschichte, wo ein Student zu Karl Kraus kommt …
Kurt Rothschild: … und er ihn fragt: Wollen Sie Wirtschaftsethik studieren?
WF & EK: … und Kraus anfügt: Da werden Sie sich entscheiden müssen.
KR: Da hat der Karl Kraus natürlich Recht gehabt. Wirtschaft hat mit Ethik nichts zu tun. Ich hätte nach der Mittelschule gerne Physik studiert, aber das war aussichtslos. Also habe ich Jus gewählt. Ich hatte da etwas idealisierte Vorstellungen. Die Strafprozesse damals waren ja große Dramen. Die Auseinandersetzungen zwischen Staatsanwalt und Verteidiger, über die seitenlang in den großen Blättern berichtet wurde, das war wie heute in den Filmen. Im Jus-Studium hatte man damals auch Nationalökonomie, das hat mich sehr interessiert, weil es wissenschaftlich interessanter war. Es war aber auch meinem politischen Bewusstsein als Sozialist näher: Wenn man die Welt ändern will, muss man die Wirtschaft ändern.
Knapp bevor ich mit dem Studium fertig war, ist der Hitler gekommen. Ich konnte mich für ein Stipendium in Schottland bewerben. Das war ausgeschrieben für Studenten aus Wien, die ihr Studium noch nicht abgeschlossen hatten. Ich war einmal durchgefallen, erfüllte also diese Voraussetzung. Knapp nach dem Einmarsch gab es für jüdische Studenten, die nur noch eine Prüfung vor sich hatten, jedoch noch einmal die Möglichkeit, anzutreten. Jetzt war ich plötzlich Doktor und musste befürchten, dass ich die Voraussetzung für das Stipendium nicht mehr erfülle. Ich habe ein bisschen geschwindelt und gesagt, dass ich auch mein Studium der Nationalökonomie noch abschließen möchte, und bekam das Stipendium. Das war mein Glück und hat mein ganzes Leben beeinflusst. Ob Wirtschaft etwas mit Ethik zu tun hat, war nicht die Frage für die Entscheidung, Ökonomie zu studieren.
WF & EK: Woher kam Ihr Interesse am Sozialismus?
KR: Mein Interesse am Sozialismus bestand lange, bevor ich wusste, was Nationalökonomie ist.
Das war schon in der Mittelschule vorhanden, mit Nationalökonomie bin ich ja erst auf der Universität in Berührung gekommen. Ich war in der Vereinigung Sozialistischer Mittelschüler. Man war ja sehr politisiert, in der Klasse hat man politisch diskutiert, das war alles noch vor Dollfuß. Das rote Wien war ja etwas Großartiges. Innerhalb einer feindlichen Umgebung war es der Versuch zu zeigen, dass es eine Alternative gibt – im Gegensatz zu Thatchers späterem “There is no alternative”. Und es ging ja nicht nur um Sozialismus, es ging auch um moderne Musik, Literatur, Wissenschaften – all das, was die bürgerliche Welt überhaupt nicht angefasst hat, hat man entwickelt, auch wenn es über die rein sozialistische Politik hinausging. Wir hatten im VSM auch einen langen Kurs über die Französische Revolution, das wurde sehr dramatisch vorgetragen, es war sehr lebendig.
WF & EK: Napoleonverehrer waren Sie aber keiner?
KR: Er hat zwar nach Deutschland einiges Fortschrittliches gebracht, das habe ich schon gesehen, aber Napoleonverehrung war bei mir nicht vorhanden. Ich habe aber eigentlich erst in England gelernt, was für ein Gauner Napoleon war.
WF & EK: Wie beurteilen Sie denn retrospektiv den Ständestaat mit seinem Korporatismus und halbvölkischen Sozialismus, wie ihn Leute wie Spann entwickelt haben?
KR: Ich sehe kein sozialistisches Element im Ständestaat, ein gemeinschaftliches vielleicht. Othmar Spann war ein Wirrkopf. Ich war nur ein oder zwei Mal in seinen Vorlesungen, das war ein dumpfes Gerede mit großen Begriffen. Ich studierte bei seinem Gegner, Hans Mayer, das war der letzte Vertreter der Wiener Schule. Spann und Mayer, das war eine enorme Gegnerschaft. Den Spann können Sie als Philosophen behandeln, unter Philosophen gibt es ja mehrere, die so wollig sind, aber als Ökonom ist er uninteressant.
WF & EK: Was hatten Sie für ein Bild von Otto Bauer?
KR: Otto Bauer war der große marxistische Theoretiker. Ich habe ihn nur einmal bei einem Vortrag gesehen, da hat er mich sehr beeindruckt. Ich habe zwar die Arbeiterzeitung nicht regelmäßig gelesen, denn meine Eltern hatten das Neue Wiener Tagblatt abonniert – das eigentlich der Hauptgrund war, dass ich Sozialist wurde, weil es so voll bürgerlicher Vorurteile war – aber die Artikel von Bauer in der Arbeiterzeitung habe ich gekannt. Das war schon eine bemerkenswerte Person.
WF & EK: Ein Vorwurf, der immer wieder gegen die Sozialisten der Ersten Republik erhoben wurde, ist, dass sie einen unglaublichen Verbalradikalismus pflegten. Otto Bauer benutzte ja jenseits austromarxistischer Theoreme eine weltrevolutionäre Rhetorik, im Rahmen derer die Grenzen zur Sowjetunion durchaus verschwammen. Auch Renner hat sich um reale Verbindungen zu den Sowjets bemüht. Die Frage ist im Hinblick auf die Zweite Republik interessant mit ihrem so genannten Lagerstraßenkonsens und der damit verbundenen Beilegung der ideologischen Konflikte, woraus ja dann die Sozialpartnerschaft geworden ist. Wie sehen Sie diesen Weg von der Ersten in die Zweite Republik?
KR: In der Ersten Republik war die Frage Sozialismus oder Kapitalismus eine echte Frage. Es hat einen sozialistischen Sektor gegeben und der stalinistische Terror war noch kein Thema. Kommunisten und auch rechte Sozialisten waren sich eigentlich einig, dass man einen sozialistischen Staat will. Das ist ja heute keine Frage, wer redet denn heute noch von einem sozialistischen Staat. Ich gebe zu, dass es heute schwer ist davon zu reden, aber es will ja auch keiner. Natürlich waren die Fragen nach dem Weg zum Sozialismus auch schon Thema in den Debatten zwischen Trotzki und Bernstein einerseits, Lenin und Bernstein andererseits. Die Frage nach einem revolutionären oder einem demokratischen Weg zum Sozialismus wurde also schon länger und dann auch in der österreichischen Sozialdemokratie diskutiert. Bauer hatte den Standpunkt: Revolution nur dann, wenn die andere Seite ihre Vorherrschaft gewaltsam durchsetzen möchte.
Formal hat sich der Stil in der Zweiten Republik sehr stark geändert, sowohl in Worten als auch in der Präsentation. In der Emigration kam der Vorwurf häufig von den Kommunisten, dass die Sozialisten die Revolution nur am Sonntag gepredigt hätten. Heute erscheint mir das rote Wien immer mehr in einem besonderen Glanz. Es war eine Alternative, die wir wollten, und man hat ziemlich starke politische Eingriffe vorgenommen. Damals wurde eine Politik realisiert, die sich heute kein Sozialdemokrat auch nur ansatzweise zu propagieren getraute. Nehmen Sie das Beispiel der Erbschaftssteuer. Es ist absurd, dass Sozialdemokraten die Erbschaftssteuer abschaffen. Wir hatten damals das Gefühl, die Sozialdemokraten wollen unbedingt etwas anders machen und sehen dabei auch die Grenzen. Wenn man die vom damaligen Finanzstadtrat Hugo Breitner in Wien eingeführten Steuern anschaut: Dienstmädchensteuer, Rennpferdsteuer et cetera – da hat man gesehen, der will die großen Vermögen angreifen. Natürlich waren das auch symbolische Steuern, aber etwas Geld haben sie schon gebracht. Das war nicht so blöd wie bei den heutigen Sozialdemokraten, die sagen, die Erbschaftssteuer bringt nur 150 Millionen – na dann bringt sie halt nur 150 Millionen, so what, besser wie nix. Auch die Wohnbaupolitik im roten Wien war ideal. Das war ja der Traum eines jeden Kapitalisten, ein Haus zu haben, mit dem man viel Geld verdienen kann. Dagegen mit der Mietkontrolle anzukämpfen, das war eine mutige Politik. Es stimmt natürlich, das Gerede am Sonntag hat nicht zu dem gepasst, was unter der Woche geschehen ist, aber wir Jungen haben gesehen, dass es eine Alternative gibt und die Partei auch etwas in diese Richtung tut. Die, denen das zu wenig war, die sind zu den Kommunisten gegangen, die anderen sind in der SP geblieben. Nach dem Februar 1934 gab es dann innerhalb der Sozialisten die Abspaltung der Revolutionären Sozialisten, die den Kommunisten sehr nahe waren und die Idee der Volksfront verfochten. Ich würde sagen, an der Kritik ist etwas dran, aber wenn man die Umstände betrachtet, bekommt man einen anderen Blick auf den Gegensatz zwischen revolutionärem Bewusstsein und angepasster Politik.
WF & EK: 1944 erschien in den USA Friedrich August Hayeks Weg zur Knechtschaft. Wie haben Sie das Buch aufgenommen?
KR: Das war ein politisches Pamphlet und alle Keynesianer waren zu hundert Prozent gegen den Hayek. Wie das Nachkriegseuropa ausschauen wird, war ja unsicher. Die Angst, dass es zum Kommunismus kommt, war groß. Für die rechten Konservativen war dieses Buch die Bibel, um zu zeigen, der Kommunismus ist der Weg in die Knechtschaft. Hayek hat ja sogar gesagt, dass, wenn die Labour Party siegt, dies der erste Schritt zum Kommunismus ist. Für den späteren Labour-Premier Clement Attlee war August Hayek – wenn er über ihn gesprochen hat, hat er immer den August ganz besonders betont – das große Feindbild. Auch die Liberalen haben den Hayek abgelehnt – seinen Antisozialismus haben sie zwar akzeptiert, aber seine Anti-Labour-Haltung haben sie abgelehnt. Zu Hayeks Ehrenrettung muss man sagen, dass an seinen philosophischen Positionen manches dran ist. Ein Mann wie Egon Matzner, der ein verlässlicher Linker war, hat große Bewunderung für Hayek gehegt und an seinen Erkenntnisfragen ist ja auch einiges dran. Man muss auch sagen, dass Hayek ein echter Liberaler war, indem er bereit war, auch andere Positionen zu akzeptieren. Ich bin mit einer Empfehlung von ihm auf Postensuche nach Wien zurückgekommen, obwohl er keinen Zweifel hatte, dass ich politisch anderer Meinung war.
WF & EK: Die Wirtschaft hat in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur im Gegensatz zum 19. Jahrhundert einen geringen Stellenwert.
KR: Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Für mich ist schöne Literatur ein Gegengewicht zu dem, was meine Frau die fade Nationalökonomie nennt. Aber mir ist schon klar, dass Lukacs¹ Forderung nach der realistischen Literatur schwer umzusetzen ist. Unter den Schriftstellern, die bewusst versucht haben, die Arbeitswelt literarisch zu bearbeiten, gibt es nur wenige Beispiele, wo das gelungen ist. Ein Roman, der mich, als ich jung war, sehr beeinflusst hat, war Feuchtwangers Erfolg. Ich weiß nicht, ob ich heute noch die Geduld hätte, das ganze Buch zu lesen. Die Zeit ist schnelllebiger geworden, und damit ist vielleicht auch die Zeit der großen Romane vorbei.
WF & EK: Sie haben die wirtschaftliche Depression der Zwanzigerjahre miterlebt, die Kriegswirtschaft und das so genannte Wirtschaftswunder. Wie beurteilen Sie die jetzige Wirtschaftskrise?
KR: Die aktuelle Krise ist ein Thema für sich. Man hat offensichtlich gelernt aus der Krise der Dreißigerjahre. Was diese Krise sicher bestätigt, ist, dass der Kapitalismus störungsanfällig ist, falls dieser Beweis überhaupt noch einmal nötig war.
Ich erinnere mich an eine große Wirtschaftskonferenz 1968 unter dem Thema “Ist der Krisenzyklus obsolet?” – das haben damals viele geglaubt. Auch im 29er-Jahr haben ja viele geglaubt, dass das goldene Zeitalter ohne größere Störungen angebrochen sei. Gelernt hat man, dass man größere Bankzusammenbrüche nicht zulassen darf, weil ein großer Vertrauensbruch nicht mehr aufzuhalten ist. Das ganze Geldsystem beruht ja darauf, dass man bei einem relativ kleinen Bestand von Bargeld einen enormen Geldbestand in den Banken deponiert, die Konten sind ja das eigentliche Geld. Der Großteil aller Zahlungen läuft über Konten und nicht mittels Bargeld. Die Banken brauchen natürlich Reserven, damit jemand, der Bargeld benötigt, sein Konto in Bargeld tauschen kann, darauf beruht das System. Wenn aber das Vertrauen, dass man Bargeld für sein Konto kriegen kann, weg ist, kommt der große Crash, weil die Leute sofort alles Geld abheben wollen. Die Banken müssen Reserven halten, um das gelegentliche Verlangen nach Bargeld zu erfüllen. Wenn bei einer Bank die Bargeldnachfrage kurzfristig über das übliche Maß steigt, erhält sie im Zuge des Interbankenverkehrs Geld von einer anderen Bank. Wenn aber dann eine Bank wie Lehman Brothers pleite ist, bricht der Interbankenverkehr zusammen und in der Folge das ganze Geldsystem. Der große Auslöser 1929 war die Creditanstalt, bei der war die Hälfte aller österreichischen Konten, und die Kontoinhaber wollten plötzlich alle ihr Geld, was nicht möglich war. Dass man eine solche Vertrauenskrise durch staatliche Garantien verhindern muss, das hat man gelernt, und das ist der Unterschied zu 1929.
Die Ursachen für die Krise sind dieselben, aber der ganz große Crash ist verhindert worden, indem man versucht hat, die Liquiditätsprobleme in Schach zu halten. Die enormen hier eingesetzten Geldmengen sehe ich als etwas Positives. Manche Ökonomen malen jetzt das Gespenst der Inflation an die Wand. Aber es kommt nicht zur Inflation, weil die Banken keine neuen Kredite geben, da sie ihre Eigenkapitalbasis stärken wollen. Alle diese Maßnahmen dienen dazu, den Leuten das Gefühl zu geben, dass eine Zahlungsunfähigkeit der Banken nicht auftreten wird. Das Malheur ist ja, dass die Nationalbank laut Verfassung nicht direkt Kredite an die Wirtschaft geben darf. Die Nationalbank kann den Banken nur billige Kredite zur Verfügung stellen, damit die Banken Kredite vergeben können. Jetzt sind die Banken aber so ängstlich, dass sie das Geld für einen lächerlichen Zinssatz wieder bei der Zentralbank anlegen. Das führt dazu, dass in den USA und Deutschland bereits direkt vom Staat Geld an die Wirtschaft gegeben wird. Es ist ein Gemisch von wirklichen Problemen und einer Vertrauenskrise.
WF & EK: Im Gegensatz zu 1929 gibt es aber heute auch keinen starken und formierten Gegenentwurf zum kapitalistischen System. Die Sowjetunion hatte ja als Alternative in den Zwanzigerjahren das System der Planwirtschaft eingeführt.
KR: Die Diskussion um die Planwirtschaft war ja zunächst eine Diskussion zwischen Hayek und Neurath, später zwischen Hayek und einem polnischen Ökonomen, Oskar Lange, der ein Modell sozialistischer Planwirtschaft geschaffen hat und der übrigens auch ein großer Bewunderer Otto Bauers war. Man muss unterscheiden, die frühe Sowjetunion war ja ein relativ unterentwickeltes Land, wo große Projekte durchzuführen waren, da ist Planwirtschaft tatsächlich relativ leicht umzusetzen. Es ging um große Entscheidungsblöcke und die Sicherstellung von Lebensnotwendigkeiten auf einem vielleicht unbefriedigenden Niveau. Das haben Sie auch in einer Kriegswirtschaft. Auch die Kriegswirtschaft ist eine Planwirtschaft. Soldaten sind – ökonomisch gesehen – Arbeitskräfte, die im Krieg unter Vollbeschäftigung arbeiten. Die Kriegswirtschaft hat in England fantastisch funktioniert, es gab auch viel länger als überall sonst Rationierungen, weil es so gut funktioniert hat.
Wenn Sie gewisse große Projekte haben, die beschäftigungsintensiv sind, erreicht Planwirtschaft vieles, was am freien Markt gar nicht zu Stande kommen würde. Weil man ja etwas schafft, was momentan keine Gewinne bringt, aber letzten Endes für die Gesellschaft wichtig ist. Das Problem in der Sowjetunion war, dass es dort, erstens, nie eine reine Planwirtschaft gab und dass, zweitens, mit wachsender Differenzierung der Nachfrage die Detailplanung immer schwieriger wurde. Wie immer die Einkommensverteilung im Kapitalismus hingegen ist, der Markt erzeugt hier für die kaufkräftigen Bevölkerungsteile, aber eben auch nur für diese, das, was diese wollen. Bei all seinen Nachteilen erhält das den Kapitalismus lebensfähig und weist ihn als besseres System aus. Wobei es immer Mischungsverhältnisse gab, also Planung im Kapitalismus und Märkte in der Sowjetunion.
Aber im Wesentlichen ist der Kapitalismus eine Marktwirtschaft und der Kommunismus eine Planwirtschaft. Das Malheur in der Sowjetunion war aber auch, dass ein starres System dogmatisiert wurde. Es war auch eine Frage der Demokratie, dass sich die sowjetische Planwirtschaft nicht an ihre wirtschaftliche Entwicklung anpassen konnte, die sie in den ersten Jahren ja gehabt hatte. Ob es funktioniert hätte, wenn man Reformen zugelassen hätte, kann man nicht sagen. Man hätte es probieren müssen. Auch der heutige Kapitalismus schaut anders aus als vor fünfzig Jahren. Die Sowjetunion war das Experiment einer alternativen Wirtschaftsform, das abgewürgt wurde.
WF & EK: Welchen Wert hat das Geld eigentlich und was wäre die Utopie der Ökonomie?
KR: Weich definiert ist die Utopie eine gerechte Einkommensverteilung. Man muss unterscheiden zwischen reiner Utopie und realistischer Utopie. Eine reine Utopie ist eine paradiesische Wunschvorstellung. Das Wichtigste wäre die Sicherheit aller Menschen, und das wäre ja, zumindest in der entwickelten Welt, heute schon eine erreichbare Utopie. Das Grundeinkommen wäre der realistische Schritt in diese Richtung.
Ralf Dahrendorf hat richtig gesagt, dass das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der Sozialdemokratie war, denn da ist einiges geschehen, um die Sozialpolitik in die Politik stärker einzubinden. Die Sozialdemokratie war der Versuch, die ärgsten Nachteile des Kapitalismus in den Griff zu bekommen. Das ist zum Teil, leider nur in der entwickelten Welt, gelungen und wird leider jetzt auch dort wieder rückgängig gemacht. Die Marx¹sche und übrigens auch die Keynes¹sche Utopie sind allerdings weit über das Grundeinkommen hinausgegangen. Auch Keynes hat einmal einen Aufsatz mit dem Titel “Ökonomie für meine Enkel” geschrieben, in dem er argumentierte, dass ab dem Jahr 2000 so viel produziert wird, dass die Menschen zwar weiter arbeiten müssen, aber genug Zeit haben werden für Kunst und Kultur. Auch Keynes hat gedacht, dass ab einem gewissen Wohlstand die Lebensqualität im Vordergrund steht. Im Kapitalismus lässt sich das aber offensichtlich nicht realisieren, denn die Kapitalisten wollen, dass die Menschen unzufrieden sind, sie sollen ja kaufen wollen. Das Hauptproblem mit der kapitalistischen Ökonomie ist, dass sie keine Sättigungstendenzen kennt. Wenn ein Mobiltelefon gut ist, muss ein besseres erfunden werden, damit die Leute das alte wegschmeißen und ein neues kaufen. Man müsste eine Geschichte der Werbung schreiben. Wie ich jung war, hat eine Firma damit geworben, dass sie hundert Jahre alt ist und verlässliche Produkte herstellt. Heute tanzen drei schöne Mädchen herum und es steht: Machen Sie Ihre Versicherung bei der Wiener Städtischen. Man weiß allerdings nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat. Für die armen Leute, die auf die Filmakademie gehen, sind solche Werbespots jetzt die einzige Möglichkeit, ihre Künste anzubringen.
Im Kapitalismus ist die Idee, dass es Ziel der Wirtschaft sein soll, die ökonomische Basis für die ganze Bevölkerung sicherzustellen, also Grundbedürfnisse wie Essen, Wohnen, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, und die eigenen Fähigkeiten einigermaßen zu entwickeln, schwer durchzusetzen. Gerechtere Einkommensverteilung, das wäre eine reale Utopie. Eine bescheidenere Vorstellung ist die des amerikanischen Sozialpsychologen John Rawls, die auch unter Ökonomen eine Zeit lang diskutiert wurde, der sagt, Verbesserungen werden immer erreicht, wenn die Lage der am schlechtesten Gestellten verbessert wird. Das ist eine sehr bescheidene Forderung, und nicht einmal die wird erfüllt. Und der Wert des Geldes? Der ist sowieso immer relativ.
WF & EK: Die 35-Stunden-Woche war in den Achtzigerjahren ja schon greifbar nahe. Dann kam 1989 und mit dem Mauerfall ist das alles aus dem Feld der Aufmerksamkeit verschwunden. Auch die Umweltfrage ist heute eher zur Sonntagsspaziergängerdebatte verkommen, und nicht nur die Sozialdemokratie scheint nach dem totalen Triumph des Kapitalismus atomisiert zu sein. Wie sehen Sie denn die Zukunft, wenn man bedenkt, dass öffentliches Interesse und Engagement keine Motive mehr sind?
KR: Man muss einfach sehen, dass durch die technologischen Entwicklungen enorme strukturelle Änderungen passiert sind. Die mikroelektronische Revolution hat ja alle Wirtschaftszweige durchgeschüttelt und diese enormen transnationalen Strukturen und Fusionen geschaffen. Die weltweit operierenden Finanzkonzerne zusammen mit der neoliberalen Philosophie der Deregulierung haben die Handelsstrukturen enorm verschoben zugunsten dieser großen ökonomischen Konglomerate, die heute einen viel stärkeren Einfluss haben sowohl auf die Arbeitsbevölkerung als auch auf die Politik. In früheren Zeiten gab es ein anderes Kräfteparallelogramm, in dem auch die großen Monopole infrastrukturell und zollpolitisch eine Staatsabhängigkeit hatten und damit auch gegenüber Gewerkschaften verhandlungsbereiter waren. Dazu kursieren spekulative Theoreme, die so genannte effiziente Finanztheorie zum Beispiel, die behauptet, Finanzspekulationen helfen das System zu stabilisieren. Die beiden Ökonomen, die ein herrliches Modell ausgearbeitet haben, wie man an der Börse erfolgreich agiert, haben dafür den Nobelpreis bekommen und eine Firma gegründet, die jetzt als eine der ersten an der Börse zu Grunde gegangen ist. Aber diese Ideologie passt eben genau zu den kapitalistischen Interessen.
Das Kapital hat heute eine Mobilität, mit der weder die Arbeiter noch der Staat auch nur ansatzweise konkurrieren können. Das hat den Einfluss der Konzerne enorm vergrößert.
Letztendlich ist ein demokratisch-partizipatorischer Anspruch immer auch eine Frage der Machtverhältnisse. Und man muss in der Öffentlichkeit einfach den Sinn bewahren, dass eine Alternative möglich ist, und gegen den Glauben antreten, dass der Kapitalismus die einzige Option ist. Wenn ich pessimistisch bin, sage ich, dem Kapitalismus ist gelungen, was der Sowjetunion nicht gelungen ist, nämlich den neuen Menschen zu erschaffen. Ich habe das Gefühl, der Kapitalismus hat den neuen Menschen erschaffen, der eher unpolitisch ist und versucht zu überleben und sich zu bereichern, so gut es eben geht. Meine weniger pessimistische Aussicht ist die Hoffnung, dass vor der ganz großen Katastrophe eine Reihe kleinerer Katastrophen stattfindet und dass diese kleineren Katastrophen eine Bereitschaft erzeugen, gewisse Dinge zu ändern. Jeder Tag Krise ist ein Tag des Lernens, ein window of opportunity, aber dieses Fenster wird immer kleiner, wenn nicht rasch grundsätzliche Veränderungen in der Finanzwirtschaft stattfinden.
Die Geschichte zeigt leider, dass Krisen zunächst ein Reformbewusstsein erzeugen, die Spekulationen gehen zurück, bis wieder die Gier nach höheren Renditen durchschlägt und das System in die nächste Krise kommt. Die andere Frage ist, ob es nicht doch möglich ist, durch Aufklärung ein Bewusstsein zu schaffen, das es politisch ermöglicht Reformen einzuführen, die Fortschritte in Hinblick auf eine gerechtere Ökonomie ermöglichen. Aber allein die Tatsache, dass wir zweihundert Jahre Fortschritte in der Verkürzung des Arbeitstages hatten, während man jetzt über eine Verlängerung diskutiert, ist ja absurd. Und die Entpolitisierung ist leider so enorm fortgeschritten, dass man die Menschen für diese Fragen leider momentan nicht wirklich interessieren kann.
Published 18 November 2009
Original in German
First published by Wespennest 157 (2009)
© Klaus Gestwa/ Walter Famler / Erich Klein / Wespennest
PDF/PRINTNewsletter
Subscribe to know what’s worth thinking about.
Related Articles
As the EU confronts external challenges – including the war in Ukraine, rising geopolitical tensions, and potential shifts in US policy – will its internal politics align to meet these crises, or will the growing influence of the far right impede progress on the continent’s most pressing issues?