Wenn Polen in die EU aufgenommen wird, bleibt die Ukraine aussen vor

Ein Gespräch mit Taras Wozniak

Es klingt paradox: Die geplante Osterweiterung der Europäischen Union rückt Freiburgs Partnerstadt Lemberg weiter von Europa weg. Wenn Polen EU-Mitglied wird, dann wird die vergleichsweise durchlässige Grenze zwischen Polen und der Ukraine zur harten Ostgrenze der EU. Und nicht nur Lemberg bleibt dann aussen vor. Dass die Zukunft der Ukraine auch von Europa abhängt, ist seit langem Thema der Freiburger West-Ost-Gesellschaft (WOG), die nun ihr 20-jähriges Bestehen feierte. Eingeladen zum Jubiläum war auch Taras Wozniak, Leiter des Amtes fur Internationale Angelegenheiten der Stadt Lemberg. Mit Walter Mossmann, Publizist und WOG-Mitarbeiter, fuhrte er ein Gespräch über Grenzen für die Zeitung zum Zonntag.

Zeitung zum Zonntag: Was passiert in der Ukraine, wenn Polen EU-Mitglied wird?

Wozniak: Dann gelten an der polnisch-ukrainischen Grenze neue Spielregeln: Wenn wir Ukrainer dann nach Polen einreisen wollen, brauchen wir absurderweise ein Schengen-Visum. Wer dann noch von Lemberg in die polnische Grenzstadt Przemysl will, die 70 Kilometer entfernt ist, muss viel Geld ausgeben: 40 Dollar kostet das Visum selbst, dazu kommen zwei Reisen nach Kiew (Antrag abgeben, Visum abholen) – also 150 Dollar, das ist das Durchsnittseinkommen von drei Monaten – und das nur, um in eine Nachbarstadt zu kommen!

Zeitung zum Zonntag: Gibt es viel Grenzverkehr?

Wozniak: Das kann man wohl sagen – Mitte der 90er Jahre waren es täglich 40000 Grenzgänger, das sind viel mehr, als die polnische Botschaft in Kiew überhaupt Visa ausstellen kann.

Mossmann: Geöffnet wurde diese Grenze erst in den frühen 90er Jahren. Vorher verlief dort ja die Westgrenze der Sowjetunion, für die Bewohner der Region war sie nur schwer passierbar, für sie war schon diese Grenze zwischen der Sowjetukraine und Polen ein Eiserner Vorhang. Und an dem Bild einer neuen abweisenden Grenze zum privilegierten Euroland werden sich nun die postsowjetischen Frustrationen festmachen: Wie mit der Öffnung der Grenze zunächst ungeheure Hoffnungen wuchsen, die dann von Jahr zu Jahr schrumpften, weil es den meisten immer schlechter ging und ihre Arbeit keinen Wert mehr hatte. Und wie nun, Anfang des neuen Jahrtausends, diese Grenze wieder zugeht.

Wozniak: Die Sowjetunion, das war für uns ein Leben mit Grenzen. Es gab es ja so viele, ein ganzes System von inneren Grenzen. Manche Menschen mussten in bestimmten Regionen bleiben, es gab geheime Städte, in denen Raketen oder auch die Flotte stationiert waren. Da durfte niemand rein und niemand raus. Diese Städte waren auf keiner Landkarte verzeichnet. Heute hört sich das phantasmagorisch an. Aber eben darauf beruhte das System.

Mossmann: Und jenseits der ukrainischen Grenze begann dann sozusagen “der Westen”. Als ich 1992 das erste Mal in Lemberg war, sprach ich mit der Schwester des ennonieten Liedermachers Wolodymyr Iwasiuk. Sie erzählte mir von seinem Karrieresprung durch einen Auftritt “im Westen”. Ich fragte, wo denn, in San Remo oder Nizza vielleicht, und sie sagte: “Nein, in Sopot, in Polen…”

Wozniak: Heute ist es dieser Grenzverkehr, von dem unsere Wirtschaft lebt: 50 Prozent aller Waren, die in der Westukraine verkauft werden, kommen aus Polen. Wenn die Grenze geschlossen würde, bekämen viele Unternehmer enorme Probleme. Wir haben ein gemeinsames Kulturerbe, die Beziehungen zwischen den Universitäten und den Intellektüllen sind sehr eng. Auch die Polen werden etwas verlieren, wenn sie nicht mehr so einfach über die Grenze reisen können.

Zeitung zum Zonntag: Aus Sicht der Ukraine bedeuten die Fortschritte der EU Richtung Osten also einen gewaltigen Rückschritt?

Wozniak: Natürlich soll die EU erweitert werden. Aber man müsste nach Lösungen suchen, die die Grenzsituation nicht verhärten. Vor allem für Staaten, die wie die Ukraine ihren Wunsch nach Integration offen geäussert haben.

Mossmann: Die EU will sich gegen Migrationsströme aus dem Osten abschotten, und die aktuelle Brüsseler Strategie besagt eindeutig, dass die Ukraine auf keinen Fall ein Beitrittsland wird.

Wozniak: Die EU und die NATO tun nun alles Mögliche für Polen – die westlichen Investoren haben ihm zum Beispiel seine Schulden von 40 Milliarden Dollar, inklusive Altiasten, erlassen. Keiner aber ist wirklich daran interessiert, dass auch die ukrainische Industrie funktioniert, in die Ukraine wurden lediglich 3 Milliarden Dollar investiert. Doch dieses Desinteresse hat Konsequenzen fur die Wirtschaft, die der EU nicht gefallen dürften. Unsere Industrie bestand zu 60 Prozent aus Rüstungsindustrie. Und Fabriken, die auf Raketen spezialisiert sind, können nicht auf einmal Kochtöpfe produzieren.

Mossmann: Na, es gibt Gegenbeispiele, eine deutsche Röhren-Fabrik etwa, die vor und während der Kriege Kanonenrohre produzierte und nach dem Krieg halt Orgelpfeifen für das fällige Requiem – Konversion ist doch machbar …

Wozniak: Aber nur, wenn es eine Zusammenarbeit gibt. Die Ukraine hat sieben Jahre darauf gewartet, mit Hilfe des Westen eine Konversion in der Rustungsindustrie einzuleiten. Aber es passierte nichts. Heute gehören wir faktisch zu den zehn grössten Waffenexporteuren der Welt. Wenn der Westen nicht will, dass wir Waffen an den Irak verkaufen, soll er uns bitte sagen, an wen denn.

Zeitung zum Zonntag: Klingt ziemlich bedrohlich.

Wozniak: Es gibt tatsächlich eine Gefahr. Wenn die Ukraine nicht in europäische Prozesse einbezogen wird, was bleibt ihr dann anderes übrig, als eine andere Richtung zu nehmen? Heute erleben wir eine Wirtschaftskrise, da wird schnell der Ruf nach einer starken Hand laut.

Mossmann: Meinst du diese “Slawische Union”?

Wozniak: Das bedeutet doch nur eine neue Supermacht Russland. Die EU muss sich überlegen, ob sie im Osten wieder so ein Imperium haben will. Wir haben zwar alle Atomwaffen zurückgegeben. Aber sollte es so etwas wie eine “Slawische Union” geben, dann sind die Sprengköpfe über Nacht wieder in der Ukraine. Doch wir wollen so eine Neuauflage des Imperiums nicht, selbst die Oligarchen, diese Clans, die zunehmend die Ukraine beherrschen, sind eher europäisch ausgerichtet.

Zeitung zum Zonntag: Was sind das für Clans – Mafia?

Wozniak: Nein, sie sind viel reicher, und sie werden jetzt honorig. Diese Machtkartelle entstanden Anfang der 90er Jahre, als die staatlichen Unternehmen privatisiert wurden. Da konnte man mit einer Unterschrift die ganze Stahlindustrie bekommen. Sie orientieren sich an Europa, weil sie darin die Garantie sehen, ihren Besitz zu behalten.

Zeitung zum Zonntag: Gibt es auch eine Strömung, die sich den Kommunismus zurückwünscht?

Wozniak: In der Bevölkerung schon, vor allem, je deutlicher uns der Westen zeigt, dass er uns nicht braucht. Es gibt eine geradezu zornige Freude, die natürlich den alten Kommunisten hilft.

Mossmann: Und wenn jetzt noch die Westgrenze zugesperrt wird, wird die Lage möglicherweise explosiv. Die Kriege auf dem Balkan haben sich auf einem ähnlichen Hintergrund entwickelt. Wenn es keine konkreten Perspektiven mehr gibt, dann hört man eher auf die völkischen Demagogen mit ihrem KP-Jargon.

Wozniak: Mykola Ryabchuk, ein Politologe aus Kiew, hat vor kurzem gesagt: Die Ukraine in ihrer gegenwärtigen Verfassung kann unmöglich der EU beitreten. Aber man sollte ihr die Beitrittsperspektive geben und so eine Motivation fur Veränderung schaffen.

Mossmann: Für die Ukraine müsste dieselbe Argumentation gelten, die offenbar im Falle der Türkei gilt: Sie sollte also auch einen Kandidatenstatus bekommen, weil das die demokratischen Gruppen ermutigt, sich fur gesellschaftliche Veranderung zu engagieren.

Wozniak: Doch es dauert, das ins Bewusstsein zu bringen. Die EU-Abgeordneten, die über unsere Grenze entscheiden, ahnen ja nicht, wie viele da kaputt geht, wie viele Leute ihre Arbeit verlieren, und was für einen Rückschritt im Demokratierungsprozess das bedeutet.

Mossmann: Die Grenzregion Galizien muss durch ein Netz von grenzüberschreitenden Projekten zusammengebunden werden, auf allen möglichen Ebenen. Eines der ersten Projekte dieser Art war übrigens ein ukrainisch-polnisches Bataillon, nachempfunden der deutsch-französischen Brigade. Das klingt in unseren Ohren natürlich befremdlich, und unsere Phantasien gehen in eine andere Richtung. Warum etwa nur eine polnisch-deutsche Uni in Frankfurt/Oder – warum nicht auch eine polnisch-ukrainische in Przemysl?

Wozniak: Als Leiter der Abteilung der internationalen Beziehungen in Lemberg ist es für mich der schönste Erfolg, wenn die Kontakte zwischen polnischen, ungarischen, tschechischen und ukrainischen Projekten und Vereinen so zahlreich werden, dass ich sie nicht mehr überblicke. Solche Kontakte zu zerreissen müsste eigentlich unmöglich sein.

Zeitung zum Zonntag: Zählen die Freiburger West-Ost-Gesellschaft und die Städtepartnerschaft mit Lemberg auch dazu?

Wozniak: Natürlich, die Initiative kam von einer Projektgruppe und wurde durch das Freiburger Rathaus sehr unterstützt. Dieser Kontakt hat uns an die Heinrich-Böll-Stiftung vermittelt, die nun die Kulturzeitschrift “Ji” und unser “Gespräch über Grenzen” unterstützt, die ich herausgebe. Die Zeitschrift beschäftigt sich natürlich auch mit der EU-Integration – und ich darf sagen, dass sie inzwischen einen gewissen Einfluss auf die politische Elite des Landes hat. So mündet die Hilfe aus Freiburg in einen allgemeinen politischen Prozess. Das ist sehr wichtig für uns. Genauso wichtig wie zu wissen, dass in einer Stadt die so weit von uns entfernt ist, sich überhaupt Menschen für uns interessieren.

Erstpublikation in der Zeitung zum Zonntag am 12. Dezember 1999.

Published 9 March 2001
Original in Ukrainian
Translated by Sofia Onufriv
First published by Ji / Zeitung zum Zonntag

Contributed by Ji © Taras Wozniak / Sofia Onuvrif / Ji / Eurozine

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