Grenzen der Solidarität
Richard Hyman diskutiert den Begriff der Solidarität in Bezug auf Gewerkschaften. Einst die Verkörperung von Solidarität und Gemeinwohl, müssen auch sie sich auf eine veränderte Arbeitswelt einstellen. Wie können sich die Gewerkschaften an die veränderten Rahmenbedingungen anpassen und somit ihre gesellschaftliche Relevanz bewahren?
Skeptiker meinen, mit der Solidarität als gesellschaftlicher Tugend sei es endgültig vorbei; wir leben, so sagen sie, in einer Epoche des Individualismus, in der, bedingt durch den egoistischen Zweckrationalismus der ausschließlich nach ökonomischen Gesichtspunkten agierenden gesellschaftlichen Akteure, für ein Interesse am Wohlergehen der Mitmenschen nicht der geringste Platz bleibe. Es sei daher nur logisch, dass auch die Gewerkschaftsbewegung obsolet werde. Schon vor etlichen Jahren machte zum Beispiel Mancur Olson in seinem Buch The Logic of Collective Action1
auf folgendes Paradox aufmerksam: Der zweckrational handelnde einzelne Arbeiter scheue in der Regel die Kosten einer Mitgliedschaft in der Gewerkschaft, weil er ja sowieso, auch ohne Mitglied zu sein, von den Errungenschaften tarifvertraglicher Regelungen profitiere (das so genannte “Trittbrettfahrer”-Prinzip). Verhielten sich aber alle Arbeiter nach diesem Muster, dann gäbe es keine Gewerkschaften, und alle wären folglich sehr viel schlechter dran. Olsons Vorschlag zur Auflösung dieser paradoxen Situation war nicht sehr überzeugend. Schon der auf die “Zweckrationalität” abhebende Ansatz zur Beurteilung kollektiven Handelns ist an sich problematisch. Zumeist traten ja die Arbeiter der Gewerkschaft bei, weil sie sich schon vorweg als Teil eines Kollektivs begriffen und ihr Handeln durchaus nicht an rein egoistischen Zielen ausrichteten. Sollte dieses Verhalten heutzutage keine Gültigkeit mehr haben?
Die Frage kann nämlich auch anders gestellt werden: nicht ob die Solidarität am Ende ist, sondern ob die alten Modelle und Vorstellungen ausgedient haben und dementsprechend Solidarität anders definiert und ganz neu erfunden werden muss. “Die Solidarität ist nur zu retten”, lautet zum Beispiel die These von Philippe van Parijs, “wenn sie auf eine neue Grundlage gestellt wird.”2 Ähnlich argumentiert Rainer Zoll, wenn er für eine Neubewertung und Neubestimmung unseres Verständnisses von Solidarität plädiert.3 Ich teile diese Position und möchte sie im Folgenden näher ausführen.
Die vielen Bedeutungen von Solidarität
Das Prinzip der Solidarität hat eine lange Geschichte, und wie die meisten hoch besetzten Begriffe war auch die Solidarität im Laufe der Zeit einem vielfachen Bedeutungswandel unterworfen, der noch heute an unterschiedlichen Auffassungen zu beobachten ist. So berufen sich zum Beispiel Sozialisten wie Katholiken gleichermaßen auf das Ideal der Solidarität, verstehen aber in vieler Hinsicht darunter etwas ganz anderes. Ich habe nun nicht die Absicht, mich an dieser Stelle mit der Etymologie und historischen Entwicklung dieses Begriffs auseinanderzusetzen, gleichwohl dürfte es nicht unwichtig sein, bestimmte gegenläufige Implikationen dieses geschichtsträchtigen Konzepts auszuleuchten.
Eine Auffassung von Solidarität geht von einer gemeinsamen Identität aus, von bestimmten Eigenschaften, die dem Einzelnen als Mitglied einer Gruppe – Nation, Stamm, religiöse Sekte (vielleicht auch die Verbundenheit mit einem bestimmten Fußballklub oder einer Pop-Gruppe) – eine Loyalität zum Kollektiv aufprägen und ihm das deutliche Bewusstsein dessen vermitteln, was ihn von allen anderen außerhalb der Gruppe unterscheidet. In Einzelfällen kann die Homogenität der Gruppe durch Rituale, Uniformen oder eine Geheimsprache bekräftigt werden. Die gemeinsamen Verpflichtungen, die sich aus dieser Uniformität ergeben, machen das aus, was Durkheim als “mechanische Solidarität” bezeichnet hat: von außen auferlegte Pflichten, die für eigene Entscheidungen oder Überlegungen nur wenig oder keinen Raum lassen. Dieses Modell von Solidarität hat in der Vergangenheit womöglich einen entscheidenden Anteil am praktischen Kollektivismus der organisierten Arbeiterbewegung gehabt.
Eine zweite Form der Solidarität, die sich gelegentlich mit dem eben genannten Solidaritätskonzept überschneidet, beruht auf dem Bewusstsein gemeinsamer Interessen, die im Kollektiv erfolgreicher vertreten werden. Dies ist der klassische Ansatzpunkt der Gewerkschaftsbewegung: Die Arbeiter sind insgesamt Opfer von Unterdrückung und Ausbeutung, einzeln, als Arbeitnehmer, Konsumenten oder Staatsbürger, sind sie schwach; Einheit dagegen macht sie stark. Die Gründung starker Arbeiterorganisationen setzte voraus, was ich an anderer Stelle die “Solidarität als Mobilisierungsmythos” genannt habe.4 Indem sie die Gemeinsamkeit der Interessen hervorhoben, suchten die Gründungsväter der Gewerkschaften die Arbeiter davon zu überzeugen, dass “die Schädigung eines einzigen Arbeiters die Schädigung aller Arbeiter ist.” Und da sich Interessen ebenso sehr aus der subjektiven Wahrnehmung wie aus der objektiven Situation ergeben, konnte der Glaube sich seine eigene Wirklichkeit schaffen. “Ewige Solidarität” wurde zu einer Tatsache, und dies in einem Maße, dass die heroischen Mythen am Ende das Bewusstsein der Arbeiter von ihren eigenen Lebensumständen bestimmten.
Eine dritte Bedeutung von Solidarität beinhaltet den Gedanken der Gegenseitigkeit ungeachtet der Unterschiede. Dies mag sich aus einem Gefühl wechselseitiger Abhängigkeit herleiten, aus dem so etwas wie eine Interessengemeinschaft zweiten Grades erwächst, die auf den Erhalt eines gewissen Bestandes an sozialen Beziehungen angewiesen ist, in die alle ausdrücklich eingebunden sind. In diesem Sinne ist auch Durkheims Satz zu verstehen, dass die hochentwickelte Arbeitsteilung der modernen Gesellschaften die Grundlage (oder wenigstens das Potential) für eine organische Solidarität geschaffen habe, die nuancenreicher und flexibler ist als die starre Gleichförmigkeit früherer sozialer Strukturen. In etwas anderer Perspektive kann man eine solche Gegenseitigkeit als Ausdruck der Verpflichtungen gegenüber der Menschheit betrachten. Kein Mann – und keine Frau, würden wir heute ergänzen – ist eine Insel, schrieb einmal der Dichter John Donne. Nimmt man diesen Satz ernst, dann hat der Starke die Pflicht, den Schwachen zu unterstützen, entweder nach dem pragmatischen Grundsatz, dass sich dieses Verhältnis unter Umständen auch umkehren könnte, oder in unbestimmter Anerkennung der . In dieser dritten Bedeutung wird Solidarität womöglich zu einem Synonym von Nächstenliebe, der mildtätigen Hilfe für ohnmächtige Opfer. Dies allerdings unterscheidet sich himmelweit vom Solidaritätsbegriff der Sozialisten, für die Solidarität eine aktive Leistung und kollektive Aufgabe ist. Ist es vielleicht aber doch möglich, dass bestimmte Momente dieses Ansatzes geeignet sind, die Solidaritätsvorstellungen der Arbeiterbewegung zu erhellen und zu bereichern?
Opposition, Klassenherrschaft und Differenz
Um dieser Frage weiter nachgehen zu können, wollen wir zunächst auf einen entscheidenden Unterschied aufmerksam machen, den zwischen der Solidarität mit und der Solidarität gegen. In den rebellischen Anfängen der meisten Arbeiterbewegungen war die Einigkeit der Arbeiter Voraussetzung für jeden Widerstand gegen den Unterdrücker. Demgegenüber wird in der Vorstellung von der Solidarität als Nächstenliebe häufig jeder Hinweis auf konfligierende Interessen sowie auf die Mobilisierung eines Kollektivs und auf Kampf ausgespart. Angemerkt sei, dass dies auch für den gängigen Rückgriff auf Solidarität im aktuellen politischen Kontext der Europäischen Union gilt: Zwar ist in diesem Diskurs der Kampf gegen soziale Ausgrenzung unumgänglich, sie wird aber eher als Wirkung unpersönlicher gesellschaftlicher Kräfte statt bewussten menschlichen Handelns gesehen.
Der Gegensatz der Klassen war in der Vergangenheit ein wichtiger Ansatzpunkt für den Solidaritätsbegriff der Gewerkschaften. Allerdings hatte das gewerkschaftliche Verständnis gesellschaftlicher Klassen immer etwas Problematisches an sich, das sich heute sogar noch zugespitzt hat. Herkömmlicherweise waren die Gewerkschaften nämlich im Hinblick auf bestimmte Bezugsgruppen organisiert, nach unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen, bestimmten Arbeitgebern und besonderen Wirtschaftszweigen. Indem sie eine Gruppe von Arbeitern in sich vereinigte, konnte die Gewerkschaft sie von anderen abgrenzen. In gewisser Hinsicht lässt sich das Ideal der Klassensolidarität als ein Versuch verstehen, Unterschiede dieser Art zu überwinden. In der Regel war es freilich so, dass sich ein einheitliches Klassensubjekt nicht eigentlich durch die Wahrnehmung gemeinsamer aktueller Interessen herstellte, sondern durch eine auf die Zukunft gerichtete Vision: “Das Selbstverständnis der Gewerkschaften bezog seine Stärke nicht selten aus der Formulierung einer alternativen Gesellschaftsordnung, die auf einer umfassenden Klassensolidarität aufruhte.”5 Diese These steht im Einklang mit Alain Touraines Klassentheorie6: Das Kollektivbewusstsein der Arbeiter fußte auf der Überzeugung eines gemeinsamen Schicksals, welches sich daraus herleitete, dass sich die Arbeiter als antagonistischer Gegenpart gegenüber einer äußeren Bedrohung (in der Regel der Arbeitgeber) wahrnahmen. Was aber erforderlich war, um dieser Klasse an sich gesellschaftliches Gewicht zu geben, das war ein umfassendes Verständnis der politischen Bedingungen dieses Gegensatzes und damit verbunden eine Vorstellung von einer anderen Ökonomie und einer anderen Gesellschaft. Wenn aber die traditionellen klassengebundenen Utopien an Glaubwürdigkeit verloren haben, ist dann eine klassenmäßige Solidarität immer noch denkbar?
Weniger emphatisch kann man sagen, dass es ein Leichtes war, die Gewerkschaftsbewegung in der Klassensolidarität begründet zu sehen, solange die Grenzen zwischen den Klassen relativ genau gezogen schienen. Die klassischen Gewerkschaftsmitglieder waren in der Vergangenheit die einfachen Arbeiter in der Fabrik, im Bergwerk oder Walzwerk, auf der Werft oder bei der Eisenbahn, die im strikten Gegensatz zu den Unternehmern standen, deren selber eindrucksvolle Klassensolidarität deutlich machte, wie dringend notwendig eine gleichermaßen mächtige proletarische Gegenkraft war. Da die Handarbeiter im herkömmlichen Sinn mittlerweile nur noch eine Minderheit unter den Beschäftigten ausmachen – in manchen Ländern sind sie auch unter den Gewerkschaftsmitgliedern eine Minderheit -, verschwimmt die Identität des Kollektivs und erweisen sich die Interessen der Arbeitnehmer als viel stärker ausdifferenziert. Die Ausweitung des öffentlichen Beschäftigungssektors ging damit einher, dass die Vorstellung vom Arbeitgeber als eines Unterdrückers an Überzeugungskraft verlor. Gewiss können Soziologen geltend machen, dass eine Klassenanalyse, vielleicht mit Einschränkungen, die Situation von Angestellten des privaten oder öffentlichen Sektors gleichermaßen einschließt, aber subjektiv betrachtet, bedeutet die heute zu beobachtende Aufsplitterung der Arbeitswelt, dass die kollektiven Interessen bestimmter Kategorien von Arbeitnehmern wahrscheinlich viel häufiger im Gegensatz als in Parallele zu denen anderer Beschäftigter gesehen werden müssen.
Zudem wird die Klassenzugehörigkeit als Antriebskraft der Solidarität noch von einer anderen Seite her in Frage gestellt: Interessenlage und Identität haben sich verändert. Ein augenfälliges Beispiel dafür ist das gewandelte Rollenverständnis der Geschlechter, das unter dem Begriff diskutiert wird. Die Gewerkschaften mussten sich, häufig unter Bauchschmerzen, mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die überkommene Vorstellung von Solidarität im Wesentlichen ein Konstrukt der Männerwelt ist und dass die allgemeine Rede von Klasse und Klassenkampf bezeichnenderweise den Lebensumständen der Männer galt und jene der Frauen vernachlässigte. Die Praxis der Tarifauseinandersetzungen setzte in der Regel den männlichen Arbeitnehmer mit Ganztagsjob voraus; im sozialen Alltag waren der männliche “Haushaltungsvorstand” und die von ihm abhängige Hausfrau die gesellschaftliche Norm. Seit die Gewerkschaften allmählich – und in den einzelnen Ländern durchaus unterschiedlich rasch – begriffen haben, dass zwischen lohnabhängiger Beschäftigung und häuslicher Arbeit ein komplexer Zusammenhang besteht, und davon Kenntnis nehmen mussten, dass geschlechtsspezifische Ungleichheiten in vielfältiger Weise den Arbeitszusammenhang durchdringen, sind viele Vereinfachungen, die mit der alten Vorstellung vom klassenbestimmten Kollektiv zusammenhingen, fragwürdig geworden. Insbesondere hat sich gezeigt, dass Solidarität innerhalb von und zwischen geschlechtsspezifischen Gruppen von Personen ganz unterschiedliche Aspekte umfasst, die sich keinesfalls auf die alten Formeln der Klassensolidarität reduzieren lassen.
Ebenso wie die Klassenverhältnisse von den Geschlechterbeziehungen gebrochen werden, werden sie auch von der wachsenden ethnischen Vielfalt der heutigen Gesellschaft überformt. Für Arbeiter aus einer ethnischen Minderheit verstärken sich die mit klassenbedingter Unterdrückung verbundenen Probleme häufig noch durch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. In vielen Ländern sind gerade diese Arbeiter unter den Gewerkschaftsmitgliedern unterrepräsentiert, zumal in den Leitungspositionen. In der Vergangenheit gab es einen – bewussten oder auch nicht bewussten – Zusammenhang zwischen der Praxis gewerkschaftlicher Arbeitsplatzsicherung und diskriminierenden Verhaltensweisen. Für die Opfer von Fremdenfeindlichkeit und Rassendiskriminierung dürfte die Solidarität mit allen, denen es ähnlich ergeht, an erster Stelle stehen. Auch in diesen Fällen ist die Frage, wie weit sich die Gewerkschaften ihrer Belange annehmen, insbesondere, wenn womöglich Gewerkschaftsmitglieder Nutznießer und faktisch sogar Urheber diskriminierender Praktiken sind.
Auch die Arbeiter selbst haben, um diesen Gedankengang fortzuführen, nicht nur eine Identität. Das bisher gültige Stereotyp verknüpfte traditionell den Status des Proletariers mit einer kollektiven Arbeitssituation, einer sozial kohärenten und homogenen Wohnnachbarschaft und einem beschränkten Repertoire an gemeinsamen kulturellen und sozialen Aktivitäten. Dieses Stereotyp traf, auch wenn es übertrieben war, durchaus auf einen Kern der historischen Realität zu, vor allem auf die Handarbeiter in industriellen Einzelbetrieben, unter denen die Gewerkschaftsbewegung ihre stärksten Wurzeln hatte. Demgegenüber hat sich in der heutigen Gesellschaft die räumliche Verteilung und soziale Organisation in den Arbeitsbeziehungen, den Wohnverhältnissen, im Konsum- und Sozialverhalten in hohem Maße differenziert. In der heutigen Zeit ist es durchaus denkbar, dass der normale Arbeiter in beträchtlicher Entfernung von seinen Arbeitskollegen wohnt, ein weitgehend “privatisiertes” häusliches Leben führt oder einen Freundeskreis hat, der in keiner Verbindung zu seiner Arbeit steht, und schließlich kulturelle und Freizeitinteressen pflegt, die sich erheblich von denen seiner Kollegen am Arbeitsplatz unterscheiden. Diese Trennung von Arbeit und privatem Gemeinschaftsleben (oder faktisch die weitgehende Zerstörung des Gemeinschaftslebens im herkömmlichen Sinn) bedeutet den Verlust zahlreicher lokaler Netze, welche in der Vergangenheit den Zusammenhalt der Gewerkschaftsmitglieder untereinander gestärkt und mancherorts die Gewerkschaft zu einer geradezu “absoluten Institution” gemacht haben. Zugleich – und teilweise auch in Konsequenz daraus – ist mittlerweile das Arbeitsverhältnis in weitaus geringerem Umfang das bestimmende Moment für die Identität des Einzelnen. Auch wenn die Bedeutung einer auf Bedürfnisse des “lifestyle” abhebenden Politik zuweilen überbetont wird, so laufen in der Art und Weise, wie sich bei den Arbeitnehmern die Wahrnehmung ihrer Interessen ausbildet, doch bestimmte Charakteristika der Identitätszuschreibung wie Alter, sexuelle Orientierung, Freizeitaktivitäten dem aus der Beschäftigung resultierenden Status eindeutig den Rang ab. Für das traditionelle Verständnis der Arbeitersolidarität schafft dies natürlich Probleme.
Grenzen der mechanischen Solidarität
In ihrer klassischen Analyse der Funktionen gewerkschaftlicher Arbeit haben Sidney und Beatrice Webb vor einem Jahrhundert die zentrale Aufgabe einer Gewerkschaft darin gesehen, gleiche Regeln für die Arbeitsbedingungen aller Angehörigen einer jeweiligen Gruppe von Beschäftigten durchzusetzen.7 Nicht selten folgten mitgliederstarke Gewerkschaften diesem Grundsatz weitaus strikter, als die Webbs selbst dies vorausgesehen hatten. Wie bereits erwähnt, ließ sich an kollektivvertraglichen Regelungen durchgängig eine große Nähe zu Durkheims Begriff der mechanischen Solidarität feststellen. In dreierlei Hinsicht brachte dies Probleme mit sich.
Zum einen wurde damit ein einheitliches Regelungsmodell angesetzt, gewissermaßen eine Standardlösung für sämtliche Beschäftigungsverhältnisse. Paradoxerweise erwuchs daraus häufig eine Wahlverwandtschaft zwischen gewerkschaftlicher Regelungspraxis und produktionstechnischer Standardisierung, die den Arbeitern von “fordistischen” Unternehmern aufgezwungen wurden. Während zum Beispiel die Unternehmer verkündeten, die Arbeiter würden “nicht fürs Denken bezahlt”, machten die Gewerkschaften kein Hehl aus ihrem Argwohn gegen den Gedanken, der einzelne Arbeiter solle selbst über die Bedingungen seiner Tätigkeit bestimmen. Das war durchaus verständlich, war doch die eigentliche Grundlage gewerkschaftlicher Arbeit die feste Überzeugung, dass das individuelle Aushandeln eines Arbeitsvertrags zwischen dem Einzelnen Arbeiter und seinem Arbeitgeber nur im Sinne der Firmenleitung ausgehen könne und dass sich dementsprechend die Arbeitsbedingungen aller abhängig Beschäftigten nur dann verbessern ließen, wenn dem Einzelnen der Verhandlungsspielraum genommen würde, seinen Arbeitsvertrag separat auszuhandeln. Dieser Grundsatz einheitlicher Arbeitsbedingungen vermochte allerdings nicht der Vielfalt der strittigen Fragen Rechnung zu tragen. Zwar benannten die Gewerkschaften präzise die wesentlichen Punkte, bei denen ein gemeinsamer Regelungsbedarf bestand – Mindestlöhne, Höchstdauer der Arbeitszeit – und die ja entscheidend waren, wenn verhindert werden sollte, dass die Arbeiter durch gegenseitiges Unterbieten in einen Verdrängungswettbewerb um ihren Arbeitsplatz eintraten. Aber es gab ja auch andere Punkte, die nicht zwangsläufig darauf hinausliefen, die allgemein geltenden Schutzklauseln außer Kraft zu setzen. Allerdings zeigten sich die Gewerkschaften mit ihrem traditionellen Ansatz, Arbeitsbedingungen prinzipiell kollektiv auszuhandeln, bestenfalls reserviert gegenüber dem Gedanken flexibler tarifvertraglicher Regelungen, die den Wünschen des Einzelnen mehr Spielraum ließen. Ich werde auf diesen Punkt noch zurückkommen.
Zweitens – und dies ist in gewissem Umfang als logische Folge daraus zu sehen – funktionierte die Massengewerkschaft üblicherweise nach dem Prinzip hierarchischer Kontrolle, die ein Spiegelbild der Kontrolle des Arbeiters durch den Unternehmer war, mit zentralisierter Festlegung der Gewerkschaftspolitik und dem Gebot einer strikten Befolgung der maßgeblichen Beschlüsse. Dieses Modell von Solidarität ließ sich im Hinblick auf die Notwendigkeit einer schlagkräftigen Kampforganisation durchaus rechtfertigen: “Wenn eine Einheit in die Schlacht zieht”, so schrieb vor etwa einem Jahrhundert der deutsche Eisenbahngewerkschafter und spätere Vorsitzende des Internationalen Transportarbeiterverbandes Hermann Jochade, “dann ist es für den Einzelnen nicht möglich, seinem eigenen Urteil zu folgen, jeder muss sich vielmehr dem vorher festgelegten Plane unterordnen.” Etwas prosaischer drückten es die Webbs und nach ihnen viele andere aus, wenn sie alles, was nichts mit leistungsfähiger Verwaltung und Sachverstand in den tariflichen Verhandlungen zu tun hatte, als “urdemokratisch” abtaten. Wie die Unternehmen sollten ihnen zufolge auch die Gewerkschaften nach den Prinzipien der wissenschaftlichen Betriebsführung eines Frederick W. Taylor funktionieren.
Drittens war die Solidarität bei der Interessenvertretung immer schon selektiv. Vier zentrale Bereiche praktischer Aufgabenstellung lassen sich bei den Gewerkschaften ausmachen. Zunächst der traditionelle Kernbereich einer Grundabsicherung durch Kollektivverträge über Löhne und sonstige Beschäftigungsbedingungen. Der zweite Bereich bezieht sich eher auf Arbeitsablauf, betriebliche Stellung und Aufstiegsmöglichkeiten, umfasst also Rechte, durch die die willkürliche Entscheidungsbefugnis des Arbeitgebers beschränkt und Vorschriften zum Arbeitsschutz sowie Regeln für “faire” Verfahren bei betrieblicher Beförderung und beruflichem Weiterkommen und für Ausbildungsmöglichkeiten festgeschrieben werden; weiterhin die Regelung des Produktionsablaufs, die Arbeitsverteilung und die Festlegung der Arbeitsbelastung. Der dritte Bereich hat mit den Aufgaben des Staates zu tun: die Struktur des sozial gerechten Lohns (von daher das Interesse an sozialstaatlichen Regelungen und an Steuerpolitik), der politische und rechtliche Rahmen der Organisationsform der Gewerkschaften und ihrer sozialpolitischen Aktivitäten, die makroökonomischen Maßnahmen und deren Folgen für den Arbeitsmarkt. Schließlich ist da noch ein Bereich, der zwar nicht unmittelbar mit der Stellung der Beschäftigten als Arbeitnehmer zu tun hat, aber andere Aspekte ihrer privaten und sozialen Existenz berührt: Krieg und Frieden, Umwelt, die Konsumsphäre, Institutionen und Dienstleistungen der jeweiligen Wohngemeinde. Während all diese verschiedenen Fragestellungen zu unterschiedlichen Zeiten von den Gewerkschaften thematisiert wurden, wurde demgegenüber nicht selten erheblicher Druck ausgeübt, um Fragen aus dem Weg zu gehen, die gewerkschaftsintern zu Kontroversen hätten führen können, und statt dessen herausgestellt, auf welchen Gebieten die Gewerkschaften über Verhandlungen mit Arbeitgebern oder Regierungen zu Erfolgen kommen konnten. In der Regel hat dies die Rolle der Gewerkschaften als eines als Sachwalter auftretenden, behördenähnlichen Apparats auf Kosten ihres Potentials als gesellschaftlicher Bewegung betont.
Nach meiner Auffassung ist die mechanische Solidarität etwas, was als Idee und Zielvorstellung ausgedient hat. In vielen Ländern hat diese Idee die Gewerkschaften auf ein Vokabular und auf Aktionsformen vereidigt, die keinerlei Anziehungskraft mehr besitzen und vielfach auf diejenigen abstoßend wirken, deren Interessen die Gewerkschaften doch vertreten möchten. Es besteht daher ein dringendes Bedürfnis nach einem neuen Konzept von Solidarität.
Ein neuer Solidaritätsbegriff
Fast überall auf der Welt ist die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder im Sinken begriffen. Unterschiede zwischen einzelnen Ländern bestehen im Wesentlichen nur beim Tempo dieses Rückgangs, nicht beim Faktum als solchen. Im Großen und Ganzen spiegelt sich in der Zusammensetzung der Gewerkschaftsmitglieder die Arbeitnehmerschaft von vor fünfzig Jahren: vorwiegend männlich, mit starker Dominanz der Arbeiter aus den “alten” Industriebereichen oder dem schrumpfenden Sektor des Öffentlichen Dienstes, mit Ganztagstätigkeit in einem “normalen” Arbeitsverhältnis. Diese Personengruppe ist zugleich überaltert: In den meisten Ländern liegt das Durchschnittsalter der Gewerkschaftsmitglieder deutlich über vierzig, in einigen Fällen über fünfzig Jahren. Mit anderen Worten, um das Jahr 2020 wird die Mehrzahl der heutigen Gewerkschafter in Rente sein. Die Frage stellt sich also, ob an deren Stelle eine neue und in mancher Weise ganz andere Generation für die Gewerkschaften gewonnen werden kann.
In vieler Hinsicht rührt das Unbehagen, das gegenwärtig die Gewerkschaftsbewegung in weiten Teilen der Welt erfasst hat, ganz ohne Zweifel daher, dass sich jenes alte Modell eines Solidarkollektivs überlebt hat. In ihrer herkömmlichen Bedeutung war “Solidarität” ein Kampfbegriff, der zu der Vorstellung einer Arbeiterklasse passte, die keinerlei Differenzierung nach Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit oder anderen signifikanten Merkmalen kannte. Was also ist unter Solidarität zu verstehen, wenn man den alten Begriff eines in sich undifferenzierten Proletariats aufgibt? Ausgangspunkt sollte dabei die Überlegung sein, dass zur Solidarität die Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten gehört, die beim Einzelnen das Bewusstsein unterschiedlicher und partikulärer Interessen nicht auslöscht, sondern erweitert. Auch die Gewerkschaftsorganisationen als solche erlangen größeren Zusammenhalt und größere Effektivität, wenn sie Mittel und Wege anbieten, mit deren Hilfe Mitglieder und Sympathisanten sich ihrer Existenzbedingungen vergewissern und ihrer Unzufriedenheit und ihren Wünschen Ausdruck geben können. Dieser Prozess kann durchaus zweiseitig sein. Im 19. und 20. Jahrhundert haben die Gewerkschaften meistenteils die Sonderinteressen ihrer stärksten Verbände als die allgemeinen Interessen der Arbeiterklasse dargestellt. Würde also an den früheren Modellen von Solidarität festgehalten, dann implizierte das eine um so deutlichere Absage an die speziellen Interessen von Frauen, ethnischen Minderheiten, Beschäftigten in prekären Arbeitsverhältnissen, Berufsanfängern, die es mit einem zunehmend abweisenden Arbeitsmarkt zu tun haben, und vielen anderen.
Ein Solidaritätsappell, der sich auch an jene richtet, die nicht zum herkömmlichen Rekrutierungsfeld der Gewerkschaften zählen, muss nicht nur Diversität in Rechnung stellen, sondern sie ausdrücklich begrüßen. Es ist daher in jedem Fall angemessener, von Solidarität im Plural zu sprechen. Solidaritäten müssen dementsprechend vielgestaltig sein, zum einen, weil die Arbeitsmarktbedingungen für die einzelnen Beschäftigtengruppen unterschiedlich sind (bei manchen sogar in Konkurrenz zueinander stehen); zum anderen, weil die nicht im Arbeitsverhältnis begründeten Identitätsvorstellungen (die gleichwohl die Art und Weise bestimmen, in der die Betreffenden sich als Arbeitnehmer sehen) sich immer stärker differenzieren. Michael Piore hat in seinem anregenden Buch Beyond Individualism8 eine neue Betrachtungsweise der Gewerkschaften vorgeschlagen; er sieht sie in erster Linie als “Aktionsgemeinschaften” (Organisationen, die der Selbstverwirklichung des Einzelnen eine Plattform bieten) und weiterhin als “Grenzinstitutionen” (die eine Brücke zwischen sozialen und kulturellen Gruppen mit unterschiedlichen Idealen und Perspektiven schlagen). Beides bedeutet, dass die Prinzipien der mechanischen Solidarität aufgegeben werden müssen. Mit anderen Worten, die auszuhandelnde Regelung der Arbeitsbedingungen muss flexibel und darf kein Einheitskonzept sein; gemeinsame Aktionen müssen aus kontroversen Diskussionen hervorgehen, sie dürfen nicht einfach von oben durchgesetzt werden; die unterdrückten alternativen Formen kollektiver Aktion müssen wiederbelebt werden.
Es mag hilfreich sein, dies an einem konkreten Beispiel darzustellen. Seit mehr als einem Jahrzehnt wird die Arbeitswelt von Gefahren und Unsicherheiten geschüttelt. Die Forderung der Arbeitgeber – und zunehmend auch der Regierungen – nach mehr “Flexibilität” bedeutet die Rücknahme vieler Errungenschaften, die die Arbeiterbewegungen seit mehr als einem Jahrhundert erreicht haben, Errungenschaften, durch die sichergestellt wurde, dass man die Arbeitnehmer nicht einfach als Waren behandeln konnte, über die nach Belieben verfügt wurde. Für die Arbeitnehmer ist dieser Rückschlag ohne Zweifel eine Ursache von Desorientierung und Erbitterung (wenngleich nicht selten auch die Wirkung festzustellen ist, dass nach Sündenböcken unter noch wehrloseren gesellschaftlichen Gruppen gesucht wird). Andererseits ist der Flexibilisierungsdiskurs auch im Zusammenhang mit den positiven Effekten individueller Autonomie und Entscheidungskompetenz zu sehen. Die Frage ist also, ob die Gewerkschaften in der Lage sind, im Sinne der Arbeitnehmer eine Brücke zwischen Unsicherheit und Autonomie zu schlagen und dem positive Bedeutung zu geben, was Ulrich Beck die “Solidarität aus Angst”9 genannt hat.
Das wirft schwierige Fragen auf. Ist der Argwohn gegen die Vorstellung eines “sanften Arbeitsrechts” (oder die neuere Variante des “offenen Koordinierungsverfahrens”) berechtigt? Gemeint ist damit ein Regulierungsverfahren, bei dem nicht eigentlich reguliert wird. Man denke zum Beispiel an bestimmte Probleme heutiger Gewerkschaftsarbeit: Sollten Überstunden grundsätzlich verboten, mit Zuschlägen bezahlt oder durch Freizeit im Ermessen des Einzelnen abgegolten werden? Sollte Teilzeitbeschäftigung abgelehnt werden oder sollte ein Spielraum für flexible Arbeitszeit vorhanden sein – sofern die Arbeitnehmer dazu ihr Einverständnis erteilen oder verweigern können und die gleichen arbeitsrechtlichen Zusagen bekommen wie ihre ganztags arbeitenden Kollegen?
Die Gewerkschaften stehen heute vor der Herausforderung, Regulierungsformen mit einem soliden Rahmen zu finden, in dem die Arbeitnehmer wirkliche Entscheidungskompetenz ausüben können. Es gilt somit festzulegen, welche Regeln vorrangig und allgemeinverbindlich, und welche nachrangig und ins Ermessen des Einzelnen zu stellen sind. Außerdem gilt es, Flexibilität neu zu definieren: Abzulehnen ist sie, wenn sie prekäre Arbeitsverhältnisse und arbeitsrechtliche Schutzlosigkeit mit sich bringt, zu begrüßen ist sie, sofern sie das Recht auf Entscheidungsfreiheit in einem Schutz garantierenden Rahmen impliziert. Dies wäre dann ein Ausdruck wirklich organischer Solidarität: eine Kombination aus allgemeinen Schutzbestimmungen und individuellen Entscheidungsmöglichkeiten.
Das Prinzip der Solidarität muss, wenn es überleben soll, neu definiert und umgestaltet werden, anders haben die Gewerkschaften keine Zukunft.
Mancur Olson, The Logic of Collective Action, Cambridge 1965.
Philippe van Parijs, Refonder la solidarité, Paris 1996.
Rainer Zoll, Was ist Solidarität heute?, Frankfurt/M. 2000.
Imagined Solidarities: Can Trade Unions Resist Globalization?", in: Peter Leising (Hg.), Globalization and Labour Relations, Cheltenham 1999.
Andrew J. Richards, "The Crisis of Union Representation", in: Guy van Guyes, Hans de Witte und Patrick Pasture (Hg.), Can Class Still Unite?, Aldershot 2001.
Alain Touraine, La conscience ouvričre, Paris 1966.
Sidney und Beatrice Webb, Industrial Democracy, London 1897.
Michael Piore, Beyond Individualism, Cambridge 1995.
Ulrich Beck, Risikogesellschaft, Frankfurt/M. 1986.
Published 28 November 2002
Original in English
Translated by
Rolf Schubert
Contributed by Transit © Transit Eurozine
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