Gift mit ein wenig Honig

Der Rückzug aus Gaza und seine Logik

Der Tod von Palästinenserpräsident Arafat und die Wiederwahl von
US-Präsident Bush machen eine neue Friedensinitiative in Nahost denkbar.
Doch der Plan Scharons, sich aus Gaza zurückzuziehen, soll nur die
israelischen Siedlungen im Westjordanland konsolidieren.

Ariel Scharons Plan, Israels Truppen aus dem Gaza-Streifen abzuziehen
und die 7.000 jüdischen Siedler aus diesem Gebiet1 umzusiedeln, hat im
In- und Ausland breite Zustimmung gefunden. Die oppositionelle
Arbeitspartei, die Bewegung “Frieden jetzt” und sogar die Jahad-Partei,
die treibende Kraft der Genfer Friedensinitiative,2 haben Scharon für
seinen “Mut” und seine “Weitsicht” gelobt. Zweifellos wäre es ein
denkwürdiges Ereignis, wenn nach siebenunddreißig Jahren Besatzung
erstmals eine jüdische Siedlung auf palästinensischem Boden geräumt
würde. Doch der Rückzug aus dem Gaza-Streifen ist deswegen noch lange
kein Friedensplan.

Wenn es Scharon tatsächlich ernst wäre mit der Räumung, hätte er sie
längst durchführen können. Doch seit der Ankündigung ist bereits ein Jahr
vergangen, ohne dass ein einziger Siedler den Gaza-Streifen verlassen
hätte. Scharon lässt sich Zeit, sagt, dass Israel sich mit dem Abbau der
Siedlungen ja zu “schmerzhaften Opfern” bereit erklärt habe – und
unternimmt nichts. Dadurch, dass sich plötzlich alles um Gaza dreht,
geraten die Verhandlungen über die Schaffung eines palästinensischen
Staates ins Hintertreffen.

Im Übrigen war die Besiedlung des Gaza-Streifens alles andere als ein
Erfolg. Im Unterschied zu den 250.000 Siedlern im Westjordanland und den
200.000 Juden, die in dem seit 1967 besetzten Ostteil Jerusalems leben,
stellen die 7.000 Siedler in Gaza nur eine winzige Minderheit unter den
dort lebenden 1,5 Millionen Palästinensern – auch wenn sie 40 Prozent des
Bodens okkupieren und 50 Prozent des Wasserverbrauchs in diesem völlig
übervölkerten Gebiet auf ihr Konto gehen. Zudem muss Israel, um die
Sicherheit der Siedler zu gewährleisten, erhebliche Summen aufwenden und
zahlreiche Soldaten dort stationieren, bei deren undankbarem Einsatz es
immer wieder zu Todesfällen kommt. So gesehen ist der Rückzug aus dem
Gaza-Streifen eigentlich weniger ein Opfer als vielmehr eine Entlastung.

Die wütenden Demonstrationen fanatischer Anhänger der nationalistischen
Rechten, die Drohung, im Falle eines Rückzugs werde es zum “Bürgerkrieg”
kommen, und die Mordaufrufe extremistischer Grüppchen gegen den
“Verräter” Scharon – all das weiß die Regierung gut zu nutzen, um vor
allem dem Ausland gegenüber deutlich zu machen, wie kompliziert sich
bereits der Abzug aus Gaza gestalte; an einen weiteren Rückzug, nämlich
aus dem Westjordanland, sei auf absehbare Zeit nicht zu denken. Der
Friedensprozess werde blockiert bleiben, “bis die Palästinenser
finnlandisiert” seien, wie es Dov Weisglass, Scharons persönlicher
Berater, engster Vertrauter und ständiger Gesandter in Washington von
oben herab formulierte. Für den Ministerpräsidenten sei “der Abzug eine
Art Formalin”, meint Weisglass weiter. Der Abzug liefere genau die nötige
Menge der Substanz, “um politische Verhandlungen mit den Palästinensern
zu präparieren”. Anders gesagt geht es darum, jedes Zugeständnis zu
verhindern. Weisglass macht keinen Hehl daraus: “Der Friedensprozess
bedeutete: Aufbau eines Palästinenserstaates, Abbau der Siedlungen [im
Westjordanland], Rückkehr der Flüchtlinge und Teilung Jerusalems. All das
ist jetzt blockiert.”3

Im Übrigen heißt es im Gaza-Rückzugsplan gleich unter Punkt eins, es
handele sich um einen unilateralen Schritt, da es “keinen
palästinensischen Partner für Friedensgespräche” gebe. Durch diese
Behauptung hat Israel freie Hand und kann die Interessen der
Palästinenser übergehen. Eine bewährte kolonialistische Methode: Die
Besatzungsmacht stellt nicht nur die eigenen Unterhändler, sondern auch
die der Kolonisierten.

Nicht weniger fragwürdig ist der Vorschlag, in Israel eine
Volksabstimmung über den Rückzug durchzuführen. Die Ersten, die abstimmen
müssten, wären doch die Betroffenen selbst, die Palästinenser also, die
unter einem Apartheidregime leben und entgegen der Bestimmung der Vierten
Genfer Konvention gegenüber den Siedlern rechtlich benachteiligt sind.

Dabei hat Scharon seine politische Taktik geändert. Noch zu den Zeiten
seines Amtsvorgängers Ehud Barak trat er als entschiedener Gegner von
dessen Rückzugsplänen auf und beschwor das großisraelische Projekt.
Einige Monate nach seinem Wahlsieg im Februar 2001 erklärte er vor
Schülern in Jerusalem: “Uns soll ganz Erez Israel [in den historischen
Grenzen Palästinas] gehören.”

Mittlerweile hat er seine Meinung revidieren müssen, denn die
Verhältnisse haben sich geändert. Seit seinem Amtsantritt – damals war
die Intifada bereits voll im Gang – ließ er nichts unversucht, den
Aufstand gewaltsam zu beenden. Die Zivilbevölkerung in den
Palästinensergebieten hatte schwer zu leiden, doch Scharons Hoffnung auf
eine Kapitulation des Gegners erfüllte sich nicht. Erstmals in der
Geschichte seiner Kriege musste Israel hinnehmen, dass der Feind auf sein
Territorium vordrang und hunderte von Zivilisten in den Städten tötete.

Israels Wirtschaft, vor allem die einst einträgliche Tourismusbranche,
ist deutlich angeschlagen. Die Stimmung im Lande geht bergab, und es
mehren sich die kritischen Stimmen gegen Menschenrechtsverletzungen und
gegen Scharons Weigerung, die Gespräche mit der palästinensischen
Autonomiebehörde wieder aufzunehmen. Das Genfer Friedensabkommen, eine
gemeinsame Initiative israelischer und palästinensischer Pazifisten
(“schlimmer als Oslo” nach Aussage Scharons), ist nicht nur in Israel mit
Zustimmung aufgenommen worden. Auch westliche Führungen haben den Plan
als eine mögliche Grundlage für künftige Verhandlungen begrüßt.

Doch am meisten dürften General Scharon die kritischen Stimmen aus den
Reihen des Militärs beunruhigen, die sich gegen die
Menschenrechtsverletzungen und das brutale Vorgehen der Armee wenden.
Nachdem bereits hunderte von Anhängern der Bewegung Yesh Gvul (“Es ist
genug!”) zu Haftstrafen verurteilt worden waren, weil sie sich geweigert
hatten, ihren Militärdienst in den besetzten Gebieten zu leisten,
erklärten Ende 2003 auch 27 Piloten der Luftwaffe, sie seien nicht
bereit, in den Palästinensergebieten “gegen unschuldige Zivilisten
vorzugehen”, “dicht bevölkerte Gebiete anzugreifen” oder “gezielte
Tötungen” auszuführen. Diese Verweigerer, unter ihnen General Iftah
Spector, ein Held des Krieges von 1967, verurteilten in ihrer Denkschrift
vom September 2003 die Besatzungspolitik, die “zur Zersetzung der
israelischen Gesellschaft” beitrage. Kurz darauf wandten sich dreizehn
Reservisten – Offiziere und Soldaten – der Eliteeinheit Sayeret-Matkal in
einem Brief an Scharon. Sie seien nicht länger bereit, “die Missachtung
der Menschenrechte von Millionen Palästinensern” hinzunehmen: “Wir werden
nicht als Schutzwall der Siedlungen dienen, wir werden unseren Ruf nicht
beschädigen, indem wir als Besatzungsarmee auftreten.”

Das Maß war voll, als Mitte November 2003 vier ehemalige Leiter des
Inlandsgeheimdienstes Schin Beth bei einer Podiumsdiskussion warnten, die
Besatzungspolitik bringe “das Land an den Rand des Abgrunds”. Am 18.
November 2003, bei einem Treffen mit dem US-Sondergesandten Elliot Abrams
in Rom, erwähnte Scharon die Idee eines einseitigen Abzugs aus Gaza.4
Die westlichen Politiker begrüßten Scharons “kühnen” Plan sofort.

Die Kritik verstummte, niemand regte sich mehr auf über die Zerstörung
unzähliger Häuser in den Flüchtlingslagern, über die Verbrechen der Armee
in Rafah, Dschabalija und an anderen Orten im besetzten Palästina, die
hunderte von Toten, vor allem unter der Zivilbevölkerung, gefordert
hatten.

Darüber verging ein Jahr, bis Palästinenserpräsident Jassir Arafat
überraschend starb. Dies kam Scharon gelegen; er hofft, den weniger
prominenten Nachfolgern seine Pläne aufzwingen zu können. Wer – wie die
Arbeitspartei – geglaubt hatte, Scharon werde den Dialog wieder
aufnehmen, sobald das “Hindernis” Arafat nicht mehr bestehe, sah sich
getäuscht. Scharon machte deutlich, dass er die neue Führung der
Palästinenser nicht als Partner für Friedensgespräche akzeptiert; es
beginne vielmehr eine neue Zeit der Unsicherheit, da man nicht wisse, ob
die neue Führung der Gewalt abschwören, dem Terrorismus Einhalt gebieten
und die notwendigen Grundsatzreformen durchführen werde. Einstweilen (und
gewiss noch eine ganze Weile) sei Israel deshalb gezwungen, seinen
Unilateralismus fortzusetzen.

Scharon geht es dabei nicht nur um eine Blockade des Friedensprozesses;
sein konkretes Ziel ist es, den großen Siedlungsblöcken in Westjordanland
einen dauerhaften Status zu verleihen, um sie am Ende annektieren zu
können. Kurz nachdem er den Gaza-Rückzugsplan bekannt gemacht hatte, gab
US-Präsident George W. Bush dem israelischen Ministerpräsidenten die
Zusage, dass im Rahmen der endgültigen Regelungen diese Siedlungen Teil
des israelischen Staatsgebiets werden sollen.5

Berater Weisglass weiß, was in Scharons Kopf vorgeht: “Wenn es in
einigen Jahren oder Jahrzehnten Verhandlungen zwischen Israel und den
Palästinensern geben wird, dann wird der Herr der Welt erscheinen, auf
den Tisch hauen und erklären: Wir haben schon vor zehn Jahren gesagt,
dass die großen Siedlungen zu Israel gehören.”6 Das wissen auch die Palästinenser und glauben keine Silbe von Scharons Beteuerungen. In den Worten des palästinensischen Journalisten Elias Zananiri: “Der Scharon-Plan ist Gift mit ein wenig Honig.”

Zusätzlich zu den Gaza-Siedlungen sollen im Westjordanland vier kleine Stützpunkte aufgegeben werden, die schon seit Jahren halb leer stehen.

Das Genfer Abkommen vom Dezember 2003 sieht die Rückkehr zu den Grenzen von 1967 vor - mit einigen einvernehmlich beschlossenen Korrekturen des Verlaufs. Siehe Amram Mitzna, "Warum Scharon sich fürchtet", und Kadura Fares, "Hoffnungen nach Genf", Le Monde diplomatique, Dezember 2003; sowie Monique Chemillier-Gendreau, "Israel - Palestine, une paix fondée en droit", Le Monde diplomatique, Januar 2004.

Interview mit Ha'aretz, 8. 10. 2004.

Ha'aretz, 13. 10. 2004.

Rede von Präsident Bush anlässlich des Treffens mit Scharon in Washington, 14. 4. 2004.

Interview mit Ha'aretz, 8. 10. 2004.

Published 19 May 2005
Original in French
Translated by Edgar Peinelt
First published by Le Monde diplomatique 12/2004

Contributed by Le Monde diplomatique © Amnon Kapeliouk/Le Monde diplomatique Eurozine

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