Gesellschaft ohne Bürger?

Verfolgt man die aktuellen Diskussionen über Russland, so fällt ins Auge, wie wenig die russische Gesellschaft thematisiert wird.1 Es gibt Ausnahmen: Zum einen untersuchen die Kulturhistoriker seit Langem die Entwicklung, die Demontage und das teilweise Überdauern von Institutionen, die den Unterbau der Gesellschaft bilde(te)n; zum anderen ließ die Auflösung der Sowjetunion das Interesse an der langen Geschichte der sowjetischen Gesellschaft wiedererwachen. Doch haben die Schwierigkeiten, die Russland mit dem Übergang in die postsowjetische Ära hat, insbesondere, was seine Demokratisierung betrifft, offensichtlich viele Beobachter veranlasst, das Thema Gesellschaft auszublenden. Weil die gesellschaftlichen Faktoren, die an der Herausbildung von Russlands neuer Autokratie beteiligt sind, so deterministisch und pfadabhängig zu sein scheinen, ziehen es viele Sozialwissenschaftler vor, sie erst gar nicht zur Kenntnis zu nehmen und befassen sich stattdessen lieber mit politischem Handeln bzw. mit den politischen Institutionen der Vergangenheit und der Gegenwart. Seit Langem wird das angebliche Defizit an “Sozialkapital” bei den Russen und der allgemeine Mangel an Vertrauen in der russischen Gesellschaft diskutiert, aber selbst diese Phänomene werden kaum als Ergebnis gesellschaftlicher Faktoren verstanden, sondern als Folge politischer Weichenstellungen durch die Eliten im Verlauf hauptsächlich des 20. Jahrhunderts.

Lassen wir die Frage beiseite, ob solche methodologischen Präferenzen nicht nur politisch korrekt, sondern auch intellektuell stichhaltig sind; vieles, was in den zurückliegenden Jahren in den russischen Sozialwissenschaften geleistet wurde, ist hervorragend und erhellend. Und ich will auch nicht unterstellen, dass der russischen Gesellschaft keine (oder nicht genug) Beachtung geschenkt wird; tatsächlich legen Soziologen und Anthropologen der diversen Schulen nach wie vor faszinierende Arbeiten vor. Gleichwohl hat der Trend zur Beschäftigung mit Politik und politischer Ökonomie zur Folge, dass man diese soziologische Forschung, wenn man sie in den allgemeineren Kontext von Studien über das postsowjetische Russland stellt, fast zwangsläufig auf den Status einer abhängigen Variablen reduziert. Politik und politische Ökonomie sind zweifellos Faktoren, die gesellschaftliche Wirkungen entfalten. Im Folgenden möchte ich zeigen, dass gesellschaftliche Faktoren umgekehrt auch politische Wirkungen hervorrufen können.

Auf den ersten Blick scheint dies auf der Hand zu liegen. Das Umschlagen wirtschaftlicher Missstände in politische Mobilisierung in Pikalevo, Zabaikalsk und anderen Monogoroda – Städte in denen die Arbeitsplätze und das Einkommen der Bewohner in hohem Grad von einer einzigen Firma oder Branche abhängen – wie auch in größeren Städten wie Wladiwostok und Kaliningrad zwang die russische Regierung, auf die Proteste mit einer Kombination aus Kooptierung und Repression zu reagieren, obwohl sie es wahrscheinlich vorgezogen hätte, sich herauszuhalten. Die Regionalwahlen vom Herbst 2009 lieferten eine weitere Illustration der Hypothese, dass man von der Bevölkerung kaum Stillhalten erwarten kann, wenn der Staat seinen Teil des Vertrags nicht erfüllt. Vielleicht noch wichtiger ist indes, dass die Wahlen auch demonstriert haben, wie hoch bei einem großen Teil der Bevölkerung, wenn nicht bei der Mehrheit, die Bereitschaft ist, dem System selbst dann noch Kredit zu gewähren, wenn es ins Wanken gerät. In jüngster Zeit hat das Wiedererstarken der russischen Autofahrerbewegung – mit neuer Taktik und unter neuer Führung, aber mit einem unveränderten Forderungskatalog – gezeigt, dass die russische Gesellschaft sehr wohl in der Lage ist, basisdemokratische Bewegungen hervorzubringen und zumindest einen Teil der politischen Agenda nachhaltig zu bestimmen – ganz im Gegensatz zu dem, was wir über den Mangel an Sozialkapital und Vertrauen zu wissen glauben.

Diese Beispiele sind freilich fast zu offenkundig. Die Frage, der ich hier nachgehen möchte, ist folgende: Sind in Russland fundamentale gesellschaftliche Entwicklungen im Gang, die das Zeug haben, die Reformierung des russischen Staates voranzubringen? Und wenn ja, wie könnte diese Reformierung in den nächsten zehn Jahren verlaufen?

Viereinhalb gesellschaftliche Schlüsselphänomene

Vorausschickend möchte ich zwei Annahmen erläutern, die meinem Verständnis der russischen Gesellschaft zugrunde liegen. Die erste hat etwas mit der “De-Institutionalisierung” Russlands zu tun. Russland hat sich noch nicht voll und ganz seiner gesellschaftlichen Institutionen entledigt, ist aber nahe daran. Ich halte mich hier an die soziologische Definition einer Institution als eines Bündels von eingespielten Regeln und Normen, die das Verhalten von Individuen oder Gruppen bestimmen, so dass man einigermaßen genau vorhersagen kann, wie sie auf eine bestimmte Aktion reagieren werden. Wenn ich also von einem Schwund der Institutionen in Russland spreche, meine ich weniger die zahllosen staatlichen Einrichtungen, die nach dem Buchstaben des Gesetzes existieren, ihren Sitz in Gebäuden haben, mit Haushaltsmitteln ausgestattet sind etc.; vielmehr beziehe ich mich auf den Tatbestand, dass es keine dieser Einrichtungen – sei es das Gesetz, der Staatsapparat, das höhere Bildungswesen oder die russisch-orthodoxe Kirche – den Bürgern Russlands erlaubt, einigermaßen genau vorherzusagen, wie der Staat oder die Gesellschaft auf ein bestimmtes Handeln reagieren wird. Der Sowjetunion war es gelungen, so gut wie alle horizontalen gesellschaftlichen Institutionen, die früher existierten – religiöse, ethnische, familiäre oder sonstige ­, auszubluten, und der chaotische Umbruch nach ihrem Ende beseitigte die letzten Reste. (Das gilt allerdings nur für Russland im engeren Sinn, nicht für die Kaukasusregion und andere traditionell von ethnischen Minderheiten geprägte Gemeinschaften im Ural, in Sibirien und im hohen Norden Russlands.)

Die zweite Annahme ergibt sich aus der ersten: In einer de-institutionalisierten Umgebung ist Gewissheit ein kostbares Gut und der Saldo aus Gewissheit und Ungewissheit wird zur Schlüsselware eines jeden gesellschaftlichen Tauschgeschäfts. Damit wird das relative Vertrauen zu Menschen gestärkt, die als nashi – “die Unseren” betrachtet werden, und das Vertrauen zu jenen gemindert, die als chuzhie – “die Anderen” – empfunden werden. Das verleiht denen, die dank ihres Status oder ihrer gesellschaftlichen Stellung in der Lage sind, Ungewissheit zu erzeugen oder zu manipulieren, eine große Machtfülle. Und das wiederum senkt in einem fatalen Maß die Bereitschaft zum Risiko.

Dies bringt uns direkt zum ersten Schlüsselphänomen. Durch alle Diskussionen über Politik in Russland – und insbesondere über Zivilgesellschaft und bürgerschaftliches Engagement – zieht sich das Klischee, Russen seien passiv. Das stimmt nicht – Russen sind auf aggressive Weise unbeweglich. Der Unterschied ist nicht nur semantischer Natur. Passive Menschen mögen nicht leicht hinter dem Ofen hervor zu locken sein, aber sie lassen sich relativ leicht in eine Richtung drängen. Aggressiv-unbewegliche Menschen sind in jeder Situation und Hinsicht schwer in Bewegung zu bringen, eben weil ihre Unbeweglichkeit eine strategische und rationale ist. Eine Gesellschaft ohne Institutionen bietet keine verlässlichen, allen offen stehenden Wege zum Erfolg. Infolgedessen ist der relative Wohlstand, den ein russischer Bürger erworben hat, das Resultat einer singulären, einmaligen Konstellation von Umständen und verdankt sich allein der Fähigkeit der oder des Betreffenden, mit ihrer/seiner unsicheren Umgebung zurande zu kommen (wobei Frauen das in Russland generell besser schaffen als Männer). Jede Veränderung droht das, was man erreicht hat, zu gefährden, so dass der Bürger wieder der Ungewissheit ausgeliefert wäre und möglicherweise wieder bei null anfangen müsste – eine ganz und gar unattraktive Perspektive. Das gilt sowohl für die Makro- als auch für die Mikroebene. Wenn Bewohner einer verfallenden Stadt wie Pikalevo also zögern, wegzuziehen, dann nicht, weil sie dort zuversichtlich in die Zukunft sähen, sondern weil sie keine Gewähr dafür haben, sich in einer neuen Konstellation bürokratischer und anderer formeller und informeller Beziehungen zurechtzufinden, die sie anderswo erwarten würde. Das erklärt auch, warum sich viele Russen freiheitlichen und demokratischen Reformen widersetzen: nicht, weil sie mit dem Status quo einer staatsmonopolistischen Politik und Wirtschaft glücklich und zufrieden wären, sondern weil jede größere Veränderung das Risiko birgt, das mühsam Erreichte zu verlieren.

Das zweite Phänomen ist die spezifische Art und Weise, wie der sogenannte Ressourcenfluch sich in Russland manifestiert: Der Überfluss an Bodenschätzen und die daraus resultierenden finanziellen Erträge haben in Russland weder ein repressives Regime wie in Myanmar hervorgebracht noch einen autoritären Populismus wie in Venezuela, sondern die “Scheidung” von Staat und Volk abgefedert, mit der beide Seiten nach sieben Jahrzehnten eines übermäßig innigen Miteinanders gut leben können. Es wird oft gesagt, der stillschweigende Gesellschaftsvertrag der Ära Putin beinhalte die Bereitschaft der Bevölkerung, sich als Gegenleistung für wirtschaftliches Wachstum aus der Politik herauszuhalten. Ich würde das ein wenig modifizieren und sagen, dass dieser Vertrag, wenn es denn einen gibt, beiden Seiten ein Maximum an Autonomie zugesteht, solange keine Seite den Interessen und der Bequemlichkeit der anderen zu Leibe rückt. Freilich ist dies ein von inneren Spannungen durchzogenes Arrangement, ähnlich wie die “Scheidungsehen” in der sowjetischen Ära, als heillos zerstrittene Paare weiterhin in einer Wohnung zusammenleben mussten. Reibungen sind unvermeidlich, und auch wenn Öl und Erdgas samt dem Wirtschaftswachstum, das sie generieren, Schmiermittel liefern, ändert das nichts daran, dass Entfremdung nur bis zu einem gewissen Grad erträglich ist. Eine schlagende Illustration bieten die Autostraßen Russlands, wo die Elite und die Normalbürger sich auf zwei Seiten einer fast institutionalisierten Gesetzlosigkeit finden: Die Elite hält sich an keine Vorschriften und Verbote und die Normalbürger verfügen über so gut wie keine Mittel, sich zur Wehr zu setzen.

Das dritte Phänomen ist die aus dieser Situation resultierende zunehmende Spannung. Je mehr die Elite und die Nicht-Elite auskristallisieren und Privilegien verteidigt werden müssen – man denke an die Konvois gepanzerter Fahrzeuge oder die hohen Schutzzäune um selbst relativ bescheidene private Landsitze ­, desto zwangsläufiger wird es zu Konflikten kommen. Die Entwertung des öffentlichen zugunsten des privaten Raums, für die Michael Burawoy den Ausdruck “involution” geprägt hat, half den Menschen, mit den Turbulenzen des Umbruchs fertigzuwerden, aber in dem Maß, wie Russlands “neue Normalität” sich gesetzt hat und beim Essen der Appetit zurückkehrt, beginnt eine schleichende Privatisierung von Gemeingütern einzureißen.2 Nicht nur, dass die Straßen scheinbar zum privaten Revier der Elite geworden sind (mit u. U. lebensgefährlichen Folgen für andere, die sich zufällig darauf bewegen). Moskaus Gehwege und Innenhöfe werden ständig und gewohnheitsmäßig von jedem, der sein Auto abstellen will, privatisiert. Naturschutzgebiete werden zu privaten Jagdgründen von Leuten, die sich einen Hubschrauberflug leisten können, und die Wälder Russlands sind von den Abfällen zahlloser Picknickpartys übersät, als sei der Wald selbst ein Wegwerfartikel. Diese rücksichtslose Privatisierung des öffentlichen Raums durch die Elite wie auch durch die Masse ist ein Ärgernis für alle Beteiligten – jeder Einzelne wird Zeuge oder Opfer von Verhaltensweisen, die seinen eigenen entsprechen, aber zugleich seinen persönlichen Interessen widersprechen. Die natürliche Reaktion hierauf besteht in dem Versuch, die eigenen – zwar lauthals verkündeten, aber nicht gelebten – Normen des Sozialverhaltens anderen vorzuschreiben – ein Unterfangen, das angesichts des Fehlens gesellschaftlicher Institutionen zum Scheitern verurteilt ist und nur immer mehr Konfliktpotential produziert.

Das vierte Phänomen ist ein relativ neues Mittel, mit dem die Russen versuchen, mit dem zweiten und dritten Phänomen zurechtzukommen – ich nenne es die “individuelle Modernisierung”. Die Globalisierung – hier meine ich weniger die wachsende wirtschaftliche Interdependenz als die Entgrenzung von Kommunikation und Kultur – eröffnet Wege, die den Dissidenten der sowjetischen Ära nicht zu Gebote standen. Für sie war die Kontaktaufnahme mit der Welt außerhalb der UdSSR durch das illegale Abhören ausländischer Radiosender und das Verbreiten von Samisdatliteratur ein wichtiges Kampfmittel gegen die Willkür des Sowjetregimes und für den Aufbau eines autonomen moralischen Freiraums, der zwar jenseits der ideologischen Grenze der Sowjetunion angesiedelt war, aber doch innerhalb ihrer politischen Grenzen gefangen blieb. In den letzten zwei Jahrzehnten aber haben in Russland die Öffnung der Grenzen und die zunehmende Verfügbarkeit des Internets den Boden für eine explosionsartige Vermehrung individueller Strategien und Möglichkeiten der Identitätsfindung bereitet. Nicht nur in Moskau findet man heute Jünger aller Moderichtungen, Denkschulen, Subkulturen, politischen und gesellschaftlichen Strömungen oder wirtschaftlichen Modelle, die sich auf der Welt tummeln. Junge, gebildete, dynamische und mobile Russen – und mit ihnen nicht wenige ihrer älteren Landsleute – scheinen mindestens ebenso bereit und gerüstet, sich mit globalen sinnstiftenden Ideen zu identifizieren wie mit einheimischen Werten. Das gilt für die Menschen in großen Teilen der Welt, aber vor dem russischen Hintergrund der De-Institutionalisierung, der Entfremdung zwischen Staat und Gesellschaft und des ständigen konfliktträchtigen Missbrauchs des öffentlichen Raums entfaltet dieses Phänomen eine besondere Wucht. Die moderne Russin und der moderne Russe mögen sich zwar physisch in Russland befinden (oder dort zumindest einen Wohnsitz haben), aber sozial, politisch und geistig sind sie nicht mehr an den russischen Raum gebunden. Das hat widersprüchliche Folgen: Auf der einen Seite ist es für viele der tüchtigsten und intelligentesten Russinnen und Russen eine enorm befreiende Entwicklung, auf der anderen Seite vermindert es beträchtlich die Bereitschaft, ihre Fähigkeiten und Talente in die Modernisierung der eigenen Gesellschaft zu investieren.

Zu guter Letzt das “halbe” Phänomen, das irgendwo zwischen dem dritten und dem vierten liegt: Trotz seiner Fehler hat das gegenwärtige russische System der gesellschaftlichen und politischen Beziehungen seine Anhänger. Es sind nicht nur diejenigen, die dank ihrer Zugehörigkeit zur Elite oder zu ihrem Fußvolk in der Lage sind, immer wieder Nutzen aus der Herstellung und Manipulierung von Unsicherheit zu ziehen. Selbst Leute, die nicht auf der Gewinnerseite dieses Systems stehen, investieren in sein Überleben. Im Juni 2010 wandte sich eine Gruppe von Schullehrern aus dem Städtchen Woskresensk unweit von Moskau mit einem Appell an Präsident Dmitri Medwedew. Die Lehrer waren als lokale Wahlleiter und Wahlhelfer für die Kommunalwahlen im Oktober 2009 dienstverpflichtet worden und stehen jetzt im Mittelpunkt von Ermittlungen wegen Wahlfälschung. Sie gaben selbst zu, an Manipulationen mitgewirkt zu haben, doch was sie nun von Präsident Medwedew forderten, war nicht etwa eine nachträglich Richtigstellung des Wahlergebnisses, sondern die Einstellung des gegen sie laufenden Verfahrens. Der Menschenrechtsaktivist Sergej Kowalew sagte dem Radiosender Ekho Moskvy im Hinblick auf die Hunderttausenden von gewöhnlichen russischen Bürgern, die, wie die Lehrer von Woskresensk, bei der Fälschung der Wahlergebnisse mithalfen: “Das Lügen hat aufgehört, ein Mittel zum Verdecken der Wahrheit zu sein; es ist zu einem Ritual der Loyalität und des Patriotismus geworden.” Das mag eine Übertreibung sein – die Lehrer von Woskresensk haben sich vermutlich nicht aus patriotischen Pathos als Wahlfälscher betätigt, sondern weil ihnen die Entlassung oder zumindest Lohnabzüge angedroht wurden, wenn sie nicht mitmachen würden. Tatsache ist jedoch: In einer Situation, in der sie durchaus die Chance gehabt hätten, ohne Gefährdung ihrer beruflichen Stellung mit den Ermittlern zusammenzuarbeiten und sich in den Dienst der Wahrheitsfindung zu stellen, entschieden sie sich dafür, den Schutz der die Lüge verkörpernden Regierung zu erbitten. Das ist eine tiefer greifende Vereinnahmung, als wir sie bei den jungen Männern und Frauen sehen, die in die Nashi-Bewegung und andere staatlich gelenkte Jugendgruppen eintreten, weil dafür eine Urlaubsreise oder eine Gutschrift auf einem Handykonto winkt. Diese jungen Leute handeln schlicht opportunistisch, wohingegen das Verhalten der Lehrer kalkuliert ist.

Flucht aus der Politik

Diskussionen über Staat und Gesellschaft – also auch über Politik – berufen sich in der Regel auf die zum Standard gewordene Definition Max Webers, wonach das legitime Gewaltmonopol ein konstitutives Element des Staates ist. Aus dieser Sicht wird der Staat fast immer als der aktive Teil gesehen, der Macht zu generieren und zu maximieren versucht, während der Gesellschaft bestenfalls die Rolle zufällt, die Macht des Staates zu akzeptieren oder sich gegen sie zu wehren, jedenfalls aber das Gewaltmonopol des Staates zu legitimieren. Der systemtheoretische Ansatz, den Talcott Parsons entwickelte, hat einiges Licht in die komplexen Wechselbeziehungen zwischen politischen und gesellschaftlichen Akteuren und den ihnen zugrunde liegenden Institutionen gebracht; er ist jedoch kritisiert worden, weil seinem Denken eine teleologische Annahme innewohnt, nämlich dass es entwickelte und weniger entwickelte Systeme gibt, deren Fluchtlinien alle auf einen (und zwar westlichen) Endpunkt zulaufen.

Ich lasse mich in diesem Abschnitt von einer etwas anderen Konzeption leiten, die Joel Migdal unter der Überschrift “Staat in der Gesellschaft” vorgelegt hat. Er hinterfragt die Annahme, der Staat entspringe der Gesellschaft, die zu regieren seine Aufgabe sei, und legt den Akzent auf das “Prozessuale – das ständige Ringen wechselnder Koalitionen um die Regeln für das tägliche Verhalten”:

Diese Prozesse entscheiden darüber, wie Gesellschaft und Staat bestimmte Praktiken für die Strukturierung des Alltagslebens entwickeln und aufrecht erhalten – das Wesen der Regeln, die das Verhalten der Menschen leiten, wem sie nützen und wen sie benachteiligen, welche Typen von Elementen die Menschen einen und welche sie spalten, welche Auffassungen Leute über ihr Verhältnis zu einander und zu anderen wie auch über ihre Stellung in der Welt teilen. Und diese Prozesse bestimmen auch darüber, ob und wie Regeln und Muster der Beherrschung und Unterordnung in Frage gestellt und verändert werden.3

Migdal schöpft wesentlich aus dem Konzept der Gemeinschaft, wie Edward Shils es vorgeschlagen hat:

Eine Gemeinschaft ist nicht nur eine Gruppe konkreter und bestimmter Personen, sie ist, fundamentaler gesehen, eine Gruppe von Personen, die ihre Bedeutung dadurch gewinnt, dass sie Werte verkörpert, die ihre je eigene Existenz transzendieren, und dass sie sich Maßstäben und Regeln unterwirft, aus denen sie ihre Würde bezieht.4

Für Migdal ist es dieser Prozess der Generierung von Bürgersinn, der letzten Endes die Staatsbildung vorantreibt. Besonders deutlich zeigt sich dies in einer gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Situation, in der sich, wie in Russland, ein rascher Wandel vollzieht. Unter solchen Umständen muss man vielleicht Verständnis dafür haben, dass sich die Bürger – individuell und kollektiv – schwer tun, den Weg zu von allen geteilten Verhaltensregeln und Werten zu finden, die Bürgersinn erst entstehen lassen. Migdal schreibt dazu:

Unter solchen verwirrenden und fragmentierten Voraussetzungen müssen die Einzelnen auf Beschränkungen und Chancen reagieren, die nicht nur von einer Organisation ausgehen, sondern von vielen. Manche dieser Organisationen existieren friedlich nebeneinander, andere jedoch streiten aktiv miteinander darüber, welche Spielregeln gelten sollen. Der Einzelne sieht sich daher mit einem grundlegenden Mangel an Kohärenz in seiner sozialen Welt konfrontiert, mit einer Pluralität von Organisationen, die gegensätzliche Werte und Verhaltensnormen propagieren. Modelle, die einen fundamentalen Konsens unterstellen, der dem Handeln, Fühlen und Denken des Einzelnen zugrunde liegt, sind nicht in der Lage, die vielfältigen Strategien zu erklären, die Menschen im Rahmen solcher heterogenen strukturellen Verhältnisse anwenden.5

Die “viereinhalb” gesellschaftlichen Phänomene, die ich hier skizziert habe, illustrieren, wie sich dieses Dilemma im heutigen Russland niederschlägt. Als Reaktion auf den Zerfall des öffentlichen Raums, auf die Einebnung der Hierarchien, die die Interaktion im Sowjetsystem bestimmten, und auf den Abbau der Sicherheit gewährenden gesellschaftlichen Institutionen zogen sich die Bürger aller Schichten der Gesellschaft aus dem öffentlichen Raum zurück, verbarrikadierten sich in ihrer Privatsphäre und machten sich an die Privatisierung des Gemeineigentums. Diese spektakuläre Entwertung der Gemeinschaft und der damit einhergehende Verlust des Bürgersinns ist ein sich selbst verstärkender Prozess, der alle Beteiligten darin bestätigt, dass ihre Strategie gerechtfertigt und richtig ist, eben weil die anderen denselben Individualismus verfolgen und mit ihrer Absage an den Gemeinsinn zur Bedrohung werden.

Damit soll keineswegs suggeriert werden, Russen hätten keine Werte. Angesichts der Verflüchtigung gesellschaftlicher Institutionen greifen Bürger und Eliten gleichermaßen auf das zurück, was übrig geblieben ist. Partikularistische Netzwerke, wie sie Familie, Freundschaft, Sippe oder ethnische Zugehörigkeit darstellen, erscheinen in einer solchen Situation werthaltiger als andere Arrangements – wie gesetzlich gebundene Institutionen ­, die den Menschen universelle Werte einpflanzen könnten. Eine ausgezeichnete Illustration dafür bietet die anthropologische Studie einer entlegenen Lebensgemeinschaft in Sibirien: David Anderson fand dort zahlreiche Beispiele für Institutionen, die zivile, politische und wirtschaftliche Interessen vermitteln, ohne den formalen Kriterien zu genügen, welche die einschlägige Literatur postuliert.6 Die Institutionen, die er im alltäglichen Leben der Stadt aufspürte, sind “partikulär”, insofern als sie auf ethnische oder auf lokale wirtschaftliche und gesellschaftliche Zustände zugeschnitten sind. Die Herausforderung für Russland besteht darin, das durch solche Institutionen gebildete Vertrauen in Formen zu gießen, die sich auf der nationalen Ebene miteinander verknüpfen und verbreiten lassen.

Die mangelnde Vertrauensbildung in Russland wird gerne mit kulturellen Faktoren erklärt, deren Wurzeln wesentlich tiefer reichen als die Unzulänglichkeiten der gegenwärtigen Verhältnisse. Wenn wir in die Zukunft blicken wollen (wie tentativ auch immer), müssen wir uns fragen, inwieweit sie von der Vergangenheit bestimmt wird. Die radikalsten Argumente für die Pfadabhängigkeit der Entwicklung in Russland haben bisher Oleg Kharkhordin, Michail Afanas’ev und Richard Pipes vorgelegt, die (jeder für sich) die These vertreten, dass es christlich-orthodoxe, absolutistische und patrimoniale Modelle der sozialen Interaktion sind, die, um Pipes zu zitieren, “das Unvermögen der russischen Staatlichkeit [begründen], sich von einer privaten zu einer öffentlichen Institution zu entwickeln”, und so eben nicht die Festigung von Gemeinschaft und Bürgersinn fördern, sondern die Diffusion des zivilgesellschaftlichen Lebens (Kharkhordin).7 Über die Herkunft solcher “archaischen” Tendenzen wird kontrovers diskutiert. Während Kharkhordin und andere die These vertreten, die Dominanz des Alten sei Folge des Versagens des Neuen, argumentiert Afanas’ev, das Neue versage just wegen der Dominanz des Alten. Dieser grundlegende und unversöhnliche Meinungsunterschied zeigt, dass das historistische Argument kaum einen Erklärungswert für die Probleme des heutigen Russland bietet. Die Russen sehen sich gleichzeitig und untrennbar voneinander mit der Dominanz des Alten und dem Scheitern des Neuen konfrontiert. Als Orientierung in der gesellschaftlichen Interaktion hat keines von beiden einen Vorrang vor dem anderen. Anders gesagt: Russische Bürger treffen ihre Entscheidungen auf der Grundlage von Faktoren, die heute gegeben sind, und es ist diese Unmittelbarkeit, die sowohl der Vergangenheit Bedeutung verleiht als auch die Zukunft vorzeichnet.

Unmittelbarkeit ist bekanntlich ein grundlegender Begriff der Spieltheorie, die soziales Verhalten als schnelle Lösung aktueller Dilemmata auf der Grundlage einer Evaluation vergangener Erfahrungen und künftiger Konsequenzen erklärt. Die Spieltheoretikerin Margaret Levi hat die These entwickelt, der Bürger begegne den Forderungen des Staates – der in unserer Begrifflichkeit die Manifestation der von Gemeinschaften festgelegten oder akzeptierten Regeln ist – mit einer “bedingten Zustimmung”. Die Konsensfreudigkeit nimmt in Levis Modell in dem Maße zu, wie der Bürger “den Staat als vertrauenswürdig wahrnimmt”, wie hoch “der Anteil der Konsensbereiten unter den übrigen Bürgern” ist und wie ausgeprägt die Fähigkeit der Bürger ist, sich Informationen über die beiden vorgenannten Indikatoren zu verschaffen.8

An Levi anknüpfend stellt Charles Tilly die Frage: “Wie haben Mitglieder von Vertrauensnetzwerken sich und ihre Ressourcen gegen Raub geschützt?” – eine Frage, die von besonderer Relevanz für Russland ist, wo Raub zur Hauptstrategie der Elite geworden ist. Die Antwort, gestützt auf eine breit angelegte Studie, lautet: durch eine Kombination dreier Strategien.

“Die Strategie des Verbergens (…) befestigt die Grenze zwischen Insidern und Outsidern durch Geheimhaltung und Verstellung. Die Strategie des Klientelwesens (…) beruht darauf, dass man die Protektion eines Mächtigen genießt, der einen, gewöhnlich zu einem nicht allzu bescheidenen Preis, vor anderen potentiellen Räubern schützt. Die Strategie der Verstellung (…) beinhaltet, dass man sich den Erwartungen der Herrschenden in einem Maß fügt, das gerade ausreicht, einen vor einer zu strengen Überwachung und vor Enteignung zu bewahren.”9

Alle diese Strategien stellen im Grunde eine Flucht aus der Politik dar. Anders gesagt: Was wir in Russland beobachten, lässt sich als eine natürliche Reaktion erklären – sowohl auf die gemeinschaftsfeindlichen Verhaltensregeln, die autoritäre Herrschaft fördern, als auch auf die Art und Weise, wie diese autoritäre Herrschaft ausgeübt wird. Unter solchen Bedingungen heißt Demokratisierung Re-Integration der Bürger in die Politik durch die Wiederbelebung eines sinnvollen politischen Gemeinwesens:

Wenn die Menschen ihre Vertrauensnetzwerke in die öffentliche Politik einbauen, verlassen sie sich irgendwann darauf, dass das Regierungshandeln für die Erhaltung dieser Netzwerke sorgt. Sie gewinnen auch Macht – individuelle und kollektive – durch die über diese Netzwerke vermittelten Kontakte und Beziehungen zur Regierung. Sie gewinnen ein dauerhaftes Interesse an einer guten Regierungsarbeit. Dabei spielen die politischen Einsätze eine wichtige Rolle. Das Zahlen von Steuern, der Kauf von Staatsanleihen, die Weitergabe persönlicher Informationen an Behörden, das Angewiesensein auf staatliche Beihilfen (…) all das festigt das Interesse an der Politik und fördert das aktive Verhandeln über die Bedingungen ihrer Umsetzung.10

Es wäre demzufolge ein Fehler, anzunehmen – wie es normative und historistische Theorien tun ­, dass Regeln sich aus Werten ableiten. In Wirklichkeit verhält es sich andersherum: Regeln werden geschrieben, um menschliche Interaktionen effektiver und berechenbarer zu machen (zumindest für diejenigen, die die Regeln aufstellen), und wenn sie sich als hinreichend vorteilhaft für eine ausreichend große (oder mächtige) Gruppe in der Gemeinschaft erweisen, entwickeln sie sich im Lauf der Zeit zu Werten. Wir müssen uns also fragen: Was sind die Faktoren, die in Russland eine Wende von der Dominanz des Individuellen hin zu einer Aufwertung des Gemeinwesens und des Bürgersinns vorantreiben könnten?

Russland 2020: Szenarien für die Zukunft

Aus heutiger Warte scheint es zwei mögliche Szenarien für die Zukunft zu geben: ein “träges” Szenario, bei dem sich die derzeitigen Trends fortsetzen, bis sie in eine Krise münden, und ein zweites, bei dem sich ein paar Schlüsselfaktoren ändern und das Geschehen eine positivere Wendung nimmt.

Wenn ich das erste Szenario als “träge” bezeichne, heißt das nicht, dass es ein statisches wäre: Gesellschaftliche Prozesse kommen nicht einfach zum Stillstand und es ist kein Szenario vorstellbar, in dem sich im Verlauf der nächsten Jahre überhaupt nichts ändern würde. Wenn sich nichts ändert an der aggressiven Unbeweglichkeit, der Entfremdung zwischen Staat und Gesellschaft, am Rückzug ins Private auf Kosten des öffentlichen Raums und an der rapiden individuellen Modernisierung bei einer zunehmend konservativen Wählerschaft, werden die sozialen Spannungen in dem Maß zunehmen, wie der rückwärtsgewandte Staatsapparat immer ineffektiver wird und die politischen und wirtschaftlichen Monopole das Wirtschaftswachstum auf nahezu null reduzieren.

Wir sind schon heute Zeugen dieses Szenarios. Die nationalistischen Unruhen, die Moskau im Dezember 2010 erfassten,11 ließen die oben beschriebenen Phänomene plastisch hervortreten: Tausende Randalierer, von denen sich viele als Opfer von Marginalisierung und Deprivation sehen, ausgeschlossen von dem wirtschaftlichen Glanz, in dem die russische Hauptstadt erstrahlt, fielen in den öffentlichen Raum ein und reklamierten ihn für sich. Die Behörden taten ihr Möglichstes, sie zu ignorieren; Präsident Dmitri Medwedew twitterte zuerst über ein Konzert von Elton John und erst dann über die Unruhen und machte halbherzige Versprechungen, die Schuldigen zu bestrafen. Ministerpräsident Wladimir Putin schwieg mehrere Tage lang zu dem Thema. Schließlich ließen sich die Ereignisse nicht länger ignorieren und die Bereitschaftspolizei griff ein, es gab politische Interventionen, Druck wurde ausgeübt.

Die wichtigste Lektion, die die Ereignisse auf dem Manegeplatz erteilt haben, ist jedoch, dass der öffentliche Raum, wie die Natur, das Vakuum scheut. Die Einzelnen, ob einfache Bürger oder Mitglieder der Elite, mögen die Illusion hegen, der Raum zwischen ihren privaten Refugien – die Straßen, die sie befahren, die Metro, in der sie zum Arbeitsplatz pendeln, die Plätze, über die sie spazieren – sei leer. Er ist es nicht. Die reale Anwesenheit von Randalierern auf den Straßen und in der Metro, die allgegenwärtige, aber weitgehend unsichtbare Bedrohung durch physische Gewalt verwandelten, zumal unter der erschwerenden Bedingung, dass es an vertrauenswürdigen Informationsquellen mangelte, den öffentlichen Raum vorübergehend in einen Dschungel, einen Naturzustand, wo den Menschen “ein einsames, kümmerliches, rohes und kurzes Leben”12 erwartet. Und bis zu dem Zeitpunkt, da die Randalierer aus freien Stücken nach Hause gingen, hatte niemand – weder die Öffentlichkeit noch der Staat – die Macht, die Ordnung wiederherzustellen.

Die zunehmenden Spannungen treiben den Staat zum Ausbau der Kontrolle über die Gesellschaft – zunächst zu Maßnahmen, die die Privilegien der Elite besser schützen, dann dazu, die sozialen Verhältnisse selbst in einer die Stabilität sichernden Weise zu regulieren. Weil sich aber innerhalb des Staates selbst nichts ändert – die konservative Wählerschaft reicht aus, um jedem Druck seitens der kreativen und unternehmerischen Kräfte widerstehen zu können ­, läuft das auf eine Re-Privatisierung des Gemeineigentums hinaus anstatt auf seine De-Privatisierung. Die Folge ist, dass, wer nicht der Elite angehört, im Namen von Harmonie und Stabilität aus dem öffentlichen, allen gehörenden Raum gedrängt wird. Die Betroffenen werden zunehmend von dessen Zugang und Nutzung abgeschnitten, die vom Staat unter Bevorzugung der Elite neu verteilt werden.

Ist es nicht denkbar, dass die russischen Bürger angesichts dieser Entrechtung und Entmündigung einen Umsturz fordern, wie es die Bürger in vielen Ländern des arabischen Raums kürzlich getan haben? Dass es den Russen – wie auch den Bevölkerungen unterentwickelter Länder in aller Welt – nicht gelingt, das Gemeineigentum für sich zu reklamieren, wird oft mit dem Hinweis auf Armut erklärt, die angeblich dazu führt, dass partikulare und materielle über universelle und ephemere Interessen gestellt werden. Unglücklicherweise gibt es zu wenig stringente Forschung über Armut – oder, breiter gesprochen, Deprivation – in Russland und ihre Auswirkungen auf die politische Partizipation. Untersuchungen über Indien zeigen indes, dass Armut weder mit einem Mangel an Unterstützung für die Demokratie einhergeht noch mit weniger politischer Partizipation; dagegen korreliert sie signifikant mit den Faktoren Bildungsniveau, Informiertheit, Sozialkapital und Zugang (access). Ähnliche Befunde wurden in Afrika und in Teilen Südasiens erhoben13 und die jüngsten Entwicklungen in Nordafrika scheinen diese Ergebnisse zu bestätigen.

Die Dinge liegen jedoch nicht ganz so einfach. Jedes Aufbegehren von unten wird eine Reaktion von oben auslösen. Adam Przeworski vertritt den Standpunkt, das eigentliche Problem von Armut und Demokratie liege nicht bei den Armen, sondern bei den Reichen:

Verstärkte politische Partizipation der Armen ist eine Gefahr für die Demokratie nur in Situationen, in denen die Elite sich aus Furcht vor einer drastischen Umverteilung versucht fühlt, die Demokratie aufzukündigen. Für die Armen ist die Demokratie vermutlich das einzige nutzbare Instrument, um sich das zu verschaffen, was sie wollen. Doch wenn sie übereilt handeln, laufen sie Gefahr, auch diese Chance zu verspielen.14

Die Situation, die Przeworski hier skizziert, passt gut auf Russland. Eine sich allmählich verschärfende Krise könnte Spaltungen innerhalb der Elite fördern: Diejenigen, die sich ihrer Zukunft weniger sicher sind, könnten entweder aus dem System auswandern oder sich für einen schrittweisen Wandel stark machen, wie es die sogenannte 60er-Generation in der UdSSR getan hat. Ein solcher “lethargischer” politischer Wandel wird den Massen freilich wie ein Stillstand erscheinen, und falls es zu einem Aufstand kommt, würden dessen Protagonisten den feinen Unterschied zwischen konservativeren und weniger konservativen Angehörigen der alten Garde nicht beachten. (Die russische Gesellschaft hat diese Unterscheidung einmal gemacht und ist überzeugt davon, dass es nichts gebracht hat.) Das Ergebnis wird eine Re-Konsolidierung der Elite sein (unter Verlust einiger weniger, die abspringen), die um die Bewahrung ihres Status und ihrer Privilegien kämpft. Es wird zu einer Kraftprobe zwischen ihr und den mobilisierten Teilen der Bevölkerung kommen – mit unvorhersehbarem Ausgang.

In diesem Szenario steigert sich die Entfremdung bis zum Extrem, erzeugt Konflikte und treibt den Staat in eine kontraproduktive autoritäre Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Das Ergebnis wird, auf das Jahr 2020 extrapoliert, ein Russland mit einem stark fragmentierten politischen und sozialen Raum sein, mit einer stagnierenden Wirtschaft und einer extrem geringen Identifikation der Menschen mit dem Staat, dessen Bürger sie nominell sind. Wegen der aggressiven Unbeweglichkeit sowohl der Massen als auch der Elite wird der einzige Ausweg aus dieser Situation der Weg durch eine tiefgreifende und langwierige Krise sein, in deren Verlauf der Wohlstand und der Lebensstandard vieler so stark sinkt, dass die Perspektive eines radikalen politischen Wandels an Attraktivität gewinnt. Bedenkt man, dass ein solcher Wandel, wenn er denn käme, in einem Klima der politischen Entfremdung stattfinden würde, in einem Land, dem es an einer demokratischen Öffentlichkeit ebenso gebricht wie an legitimierten, eingewurzelten horizontalen gesellschaftlichen Institutionen, dann erscheint es sehr unwahrscheinlich, dass er einen demokratischen Verlauf und Ausgang nimmt.

Das zweite, optimistischere Szenario beruht ebenfalls auf der Annahme, dass alle im Anfangsteil vorgestellten viereinhalb gesellschaftlichen Schlüsselphänomene bestehen bleiben, geht jedoch von einem entscheidenden Unterschied aus. Nehmen wir an, die russische Regierung beschließt schon bald angesichts wachsender sozialer (und auch elite-interner) Spannungen und einer kontinuierlich abnehmenden Wirtschaftsleistung, mit voller Kraft auf eine ökonomische Integration mit dem Westen, insbesondere mit der Europäischen Union, hinzuarbeiten, und Letztere geht darauf ein. Russland wird Mitglied der Welthandelsorganisation WTO, schließt mit der EU ein Investitions- und Handelsabkommen, schafft die Visumspflicht für EU-Bürger ab und erhält im Gegenzug Reisefreiheit für seine Bürger in die Länder der EU. Im Lauf der Zeit würden immer mehr Russen ihren neuen, ungehinderten Zugang zum europäischen Wirtschaftsraum als Ersatz für den Mangel an Institutionen im eigenen Land nutzen, um institutionelle Beziehungen zu knüpfen und Strategien für die Wahrnehmung von Bildungschancen, für unternehmerische Aktivitäten, Investitionen etc. zu entwickeln.

Russen mit Unternehmergeist – ob ihr Betätigungsfeld nun die Wirtschaft, das Bildungswesen oder die Forschung ist – leiden nicht an einem Mangel an guten Ideen. Was ihnen fehlt, ist ein institutionelles Umfeld, das es für sie attraktiv machen würde, daheim in diese Ideen zu investieren. Es genügt nicht, staatliche “Modernisierungsprojekte” wie die Forschungsstadt Skolkowo aus dem Boden zu stampfen. Wir haben keinen Anlass anzunehmen, dass solche neuen Einrichtungen, die in Russland unter dem Banner der Modernisierung ins Leben gerufen werden, nicht dasselbe Schicksal erleiden werden wie viele bestehende russische Institutionen, die sich den Ruf erworben haben, die Gesetze zu verdrehen, um die Bürokraten zu bedienen und die Bürger zu entmündigen.

Bis heute sind die Ansätze zu einer “Demokratisierung” Russlands darauf ausgerichtet, potentielle Nutznießer und Interessenten neuer Institutionen auszumachen und sie für eine Reform der bestehenden Institutionen zu mobilisieren. Dieser Ansatz lässt die Tatsache außer Acht, dass die bestehenden Institutionen bereits ihre jeweils eigenen Nutznießer haben, die, anders als die Kandidaten für noch zu schaffende Institutionen, bereits Macht besitzen. Eine Senkung der Hürden, die bis heute eine breitere Integration der in Russland lebenden Russen in das Geflecht der europäischen Institutionen behindern, würde es ihnen erleichtern, an europäischen Institutionen teilzuhaben und ihre Leistungen zu genießen. Schon heute macht die russische Elite in erheblichem Umfang Gebrauch von der europäischen Gerichtsbarkeit, vom europäischen Finanzsystem etc. Viele besser situierte russische Bürger nutzen das europäische Bildungs- und Gesundheitswesen und gehören zu den ausgabefreudigsten Touristen.

Wenn die europäischen Politiker die Voraussetzungen dafür schaffen, dass modernisierungswillige Russen, um in ihre Ideen und Strategien zu investieren, sich auf die Stabilität und Funktionalität der europäischen Institutionen stützen können, wird dies in Russland selbst zwei wichtige Effekte haben: Zum einen wird es den Wohlstand der international integrierten Mitglieder der russischen Mittelschicht steigern und ihnen mehr politisches Gewicht verleihen (was für die Angehörigen der russischen Elite schon heute gilt). Sie werden sich damit zunehmend von der breiten konservativen Wählerschaft abheben und sich aus der oben beschriebenen aggressiven Unbeweglichkeit befreien können. Besonders wichtig ist, dass diese europäisch integrierten Bürger sich auf ein institutionelles Fundament für ihren neuen Wohlstand stützen können, das den nicht-integrierten Russen nicht zur Verfügung steht; das wiederum würde die Integration nach Europa hin für andere attraktiver machen und einen realistischen, erreichbaren und – ganz entscheidend – institutionalisierten Weg zum Erfolg aufzeigen.

Der zweite Effekt wäre, dass der Chancenverlust, unter dem diese international vernetzten Bürger infolge der De-Institutionalisierung Russlands leiden, deutlicher sichtbar wird. Auch unter der Annahme niedriger werdender Integrationsbarrieren wären die Transaktionskosten für eine Nutzung der europäischen Institutionen höher, als wenn es entsprechende und funktionierende Institutionen in Russland gäbe. Die daraus abzuleitende Forderung nach institutionellen Reformen und nach Harmonisierung mag auf den ersten Blick relativ unpolitisch erscheinen, hätte aber das Potential, das öffentliche Interesse am Gemeineigentum – und damit am Gemeinwesen und am Bürgersinn – wiederzubeleben, indem sie ein von allen geteiltes Interesse am Gemeinwohl demonstriert.

Zusammengenommen sollte dies ausreichen, um eine konsolidierte einheimische Klientel für den Wandel hervorzubringen, die in der Lage wäre, einen rückwärtsgewandten und widerspenstigen Staat Schritt für Schritt in die Moderne zu bugsieren. Es wird ein schwieriger Weg werden und das Ziel wird im Jahr 2020 sicher noch nicht erreicht sein, aber wenn Russland und seine Partner offen für Integration sind – und wenn wir es schaffen, die konventionelle Logik außer Kraft zu setzen, die Demokratisierung als Voraussetzung für mehr Integration fordert ­, dann könnte es doch noch einen Weg aus der Trägheit geben.

 

Siehe z.B. Valerie Bunce, Michael McFaul und Kathryn Stoner-Weiss (Hg.), Democracy and Authoritarianism in the Postcommunist World, Cambridge UP 2010. Von den 12 Kapiteln des Buches befasst sich nur eines zuvörderst mit der Gesellschaft (in Bulgarien).

Michael Burawoy / Pavel Krotov e.a., "Involution and destitution in capitalist Russia", in: Ethnography, Bd. 1, Nr. 1 (2000), S. 43-69.

Joel S. Migdal, State in Society, Cambridge UP 2001, S. 11.

Edward Shils, Center and Periphery: Essays in Macrosociology, University of Chicago Press 1975, S. 138, zitiert nach Migdal, State in Society, a.a.O., S. 6.

Migdal, State in Society, a.a.O., S. 190.

David G. Anderson, "Bringing civil society to an uncivilised place", in Chris Hann und Elizabeth Dunn (Hg.), Civil Society. Challenging Western Models, London 1996, S. 115.

Mikhail N. Afanas'ev, Gefährliches Russland. Autokratische Traditionen heute (russ.), Moskau 2001; Oleg Kharkhordin, "First Europe-Asia Lecture. Civil Society and Orthodox Christianity", in: Europe-Asia Studies, Bd. 50, Nr. 6 (1998), S. 949-68; Richard Pipes, Russian Conservatism and its Critics. A study in political culture. Yale UP 2005.

Margaret Levi, Consent, Dissent, and Patriotism, Cambridge: Cambridge UP 1997, S. 21, zitiert nach Tilly, Trust and Rule (Anm. 10), S. 19.

Charles Tilly, Trust and Rule, Cambridge UP 2005, S. 83 f.

Ebd., S. 135.

Siehe dazu den Beitrag von Budraitskis im vorliegenden Heft. (Anm. d. Red.)

Hobbes, Leviathan, Kap. 13, § 9.

Anirudh Krishna., "Do Poor People Care Less for Democracy?", in: Dies. (Hg.), Poverty, Participation, and Democracy, Cambridge UP 2008, S. 92.

Adam Przeworski, "The Poor and the Viability of Democracy", in: Krishna (Hg.), Poverty, a.a.O., S. 126.

Published 27 February 2012
Original in English
Translated by Karl Heinz Siber
First published by Pro & Contra (Russian version); Eurozine (English version); Transit 42/2011 (German version)

Contributed by Transit © Samuel A. Greene / The Carnegie Endowment for International Peace / Eurozine

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