Geschichten aus dem Wilden Osten
Als wir sexy waren
Einmal diskutierte ich mit meinen Freunden vom Internationalen Hamburger Sommerfestival über ein mögliches Vortragsthema. Sie schlugen einen provokanten Titel vor: “Warum ist der Osten nicht mehr sexy?” Ich fühlte mich instinktiv angegriffen. Wie bitte? Ich und nicht sexy? Was in aller Welt sollte damit gemeint sein? Sexy inwiefern? Sexy nach welchen Kriterien? Überhaupt, “sexy” – was für ein billiges Wort! Ich überdachte den Titel noch einmal. “Nicht mehr sexy?” Die Frage implizierte, dass wir früher einmal sexy waren. Aber wann? Wann genau waren wir sexy?
Sollte das möglicherweise heißen, der Osten sei sexy gewesen, als er noch ziemlich unsexy war? Als er das Joch des Stalinismus trug? Und dass er heute, beim Versuch, nach westlichen Maßstäben sexy zu sein, nicht mehr sexy ist? War der Osten sexy, als er vorgab, unschuldig und naiv zu sein, und ist er es nicht mehr, weil er inzwischen so tut, als sei er gebildet und weltgewandt? War er nur im passiven, folkloristischen Zustand sexy, und hat er diese Eigenschaft verloren, weil er den Westen nachzuahmen und die neuesten “-ismen” zu kopieren versucht?
Meine Freunde vom Festival sind clever. Vielleicht war ihr Vorschlag ironisch gemeint, vielleicht todernst, vielleicht beides. Jedenfalls biss ich an. Ich konnte es nicht ertragen, mich nicht zu dem Thema zu äußern. Ich wollte zynisch antworten, oder todernst, oder beides. (Meine Replik bezieht sich auf Ex-Jugoslawien, weil ich dort gelebt habe und mich auskenne; ich weiß nicht, wie gut sich meine Beispiele auf das restliche Osteuropa übertragen lassen.)
Osteuropa ist verzweifelt darum bemüht, sich neu zu erfinden, eine neue Identität auszubilden. Die osteuropäischen Künstler erwachen aus der geschichtlichen Narkose. Sie reiben sich die Augen, schütteln die Illusionen ab und setzen ihre Erinnerung zurück. Sie werfen einen Blick auf die Uhr, um sich ein Bild von der Zeit zu machen, dann schauen sie sich um, um sich ein Bild von der Umgebung zu machen. Verwirrt betrachten sie ihr Spiegelbild. Sie fragen sich, was sie anziehen sollen: “Wie möchte ich wirken? Wer bin ich?”
Die meisten derzeit erhältlichen Kleidungsstücke stammen aus westlichen Modehäusern. Die osteuropäischen Politiker stolzieren schamlos darin herum. Sie sind nicht zu stolz, um Geld zu betteln, wo immer sie Geld riechen. Bereitwillig ändern sie die Verfassung, sobald die Europäische Union, der Internationale Währungsfonds oder die Weltbank es verlangen. Von ganzem Herzen begrüßen sie den globalen, multinationalen Modus, den sie Fortschritt nennen. Im gleichen Zug stellen diese Politiker die Zahlungen an ihre Künstler ein. “Sorry! Keine Kontrolle durch den Staat, kein Geld vom Staat. Hier gilt jetzt die freie Marktwirtschaft.” Gleichzeitig erwarten sie von den Künstlern jedoch stillschweigend ein gewisses Maß an nationalistischer Reinheit und ein Bewusstsein für die historischen Wurzeln, für Mythos und Religion. Sie sagen: “Klar haben wir jetzt eine neue Hardware, aber lasst uns die alte Software behalten. Natürlich leben wir jetzt in einer freien Marktwirtschaft, natürlich haben wir unsere Fabriken und unseren Arsch verkauft, aber nun ist es eure Aufgabe, Herz und Seele zu retten.” Die Politiker lassen die Künstler nicht bloß hungern – sie zwingen sie obendrein zum Singen.
Kein Wunder, dass sich einige dieser Künstler nach dem ancien régime zurücksehnen. Sie sagen: “Wenigstens haben uns die Zensurbehörden ihre ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt, und im Winter wurde geheizt. Die Vorschriften der Partei waren nicht annähernd so grausam wie die des Geschmacks der breiten Masse. Der real existierende Sozialismus war kein bisschen schlimmer als der real existierende Kapitalismus.” Diese süß-saure Agonie firmiert unter der schicken Bezeichnung “gesellschaftliche Transformation”, was nur ein anderer Name für geistige Vergewaltigung ist.
Und der Westen gähnt. “War alles schon einmal da. Vor hundert Jahren haben wir dasselbe durchgemacht. Primäre Kapitalanhäufung wie bei Oliver Twist. Langweilig! Ihr werdet einhundert Jahre brauchen, um auf den Stand unserer demokratischen Gesellschaften zu kommen, und bis dahin sind wir längst auf dem Mond.” Der osteuropäische Künstler sieht sich folglich nicht nur zu einem Leben in unwürdiger Armut verdammt, nein, er ist dazu im Westen, der auf der Suche nach Erlösung ist, auch noch hoffnungslos aus der Mode. Salz auf die Wunden.
Meine Verhandlungen mit den Festivalautoren über ein geeignetes Vortragsthema wurden vom Ausbruch des Kosovokriegs von der Agenda gekippt. Die NATO hat Serbien in die Bewusstlosigkeit gebombt. So als könnte man das Land auf diese Weise über Nacht in die Moderne führen. Hat uns das vorübergehend sexy gemacht? Ich weiß es nicht.
Wie ich meine eigene Geschichte verlor
Mein Name ist Goran Stefanovski. Hier ist mein Leben, mit wenigen Sätzen umrissen. Ich kam in der Republik Mazedonien zur Welt, die seinerzeit zur Föderativen Volksrepublik Jugoslawien gehörte. Mein Vater war Theaterdirektor, meine Mutter Schauspielerin. Die ersten vierzig Jahre meines Lebens verbrachte ich in Skopje, wo ich Theaterstücke schrieb und angehende Dramatiker unterrichtete. Ich heiratete Pat, eine Engländerin, wir bekamen zwei Kinder und lebten sehr glücklich. Unsere Geschichte war gut.
Dann, im Jahr 1991, brach der Bürgerkrieg aus. Unser Leben wurde von heute auf morgen umgekrempelt. Pat entschied, dass die Zukunft des Balkans nicht die Zukunft unserer Kinder sein würde, und die drei zogen nach England. Ich fing an, zwischen dem mazedonischen Skopje, dem Ort, an dem ich eine sichere Vergangenheit und eine Großfamilie hatte, und dem englischen Canterbury, wo eine unsichere Zukunft und meine Kernfamilie auf mich warteten, zu pendeln. Ich fing an, zwischen zwei Geschichten zu leben. “Wir haben unsere Geschichte verloren”, sagte ich zu Pat, und sie entgegnete: “Nein, die Geschichten haben uns verloren.”
Als Sarajevo brannte und ich zum ersten Mal nach England kam, lernte ich eine wohlmeinende Produzentin kennen, die meine Geschichte zu Geld machen wollte und das auch nicht verhehlte. Sie sagte: “Goran, du bist jetzt bare Münze wert. Aber in sechs Monaten wird das anders aussehen, deswegen solltest du dich beeilen.”
Die sechs Monate vergingen, ohne dass ich meine Produzentin reich gemacht hätte. Inzwischen verbringe ich meine Zeit damit, meine beiden Erzählstränge mit meiner Außenseiterrolle als Künstler in Einklang zu bringen. Geduldig erkläre ich meinen Freunden und Verwandten in Skopje, dass ich sie nicht für immer zurückgelassen habe, um mich im gelobten Westen ins gemachte Luxusbett zu legen. Geduldig versuche ich, den Leuten in Großbritannien zu erklären, dass ich kein bemitleidenswerter, aus der Heimat vertriebener Stückeschreiber mit posttraumatischer Belastungsstörung bin. Auf beiden Seiten sind meine Versuche von wenig Erfolg gekrönt. Alle haben recht festgelegte Vorstellungen von mir. Man denkt in Klischees und Vorurteilen über mich.
Wie meine Freunde ihre Geschichte verloren
Inzwischen lebe ich also in Canterbury, einem auf alt gemachten, pittoresken Touristenausflugsziel mit eigener Kathedrale. Auf der Hauptstraße gibt es einen Comicladen, der Neuheiten aus Amerika verkauft. Im Schaufenster steht der lebensgroße, bunte Pappaufsteller einer Figur aus der beliebten Science-fiction-Serie Babylon 5. Um den Kopf der Außerirdischen wölbt sich ein Heiligenschein aus Fleisch. Ich kenne die Schauspielerin hinter dieser Figur. Sie ist eine Freundin von mir. Sie heißt Mira Furlan. In Ex-Jugoslawien zählte sie zu den besten Film-, Theater- und Fernsehdarstellerinnen überhaupt. Sie war die Protagonistin unseres Stücks und die Heldin unserer Geschichte. Jetzt ist sie ein Alien. Sie ist zur perfekten Verkörperung aller Klischees über Osteuropäer geworden.
Neulich hat mich ein Freund in Canterbury besucht. Er heißt Rade Serbedzija. In Ex-Jugoslawien war er ein legendärer Schauspieler. Er spielte den Hamlet. Er trat in unzähligen Filmen und im zeitgenössischen Theater auf. Er war der Hauptdarsteller unseres Stücks und der Held unserer Erzählung. Rade ist inzwischen ein internationaler Star, der in Hollywoodfilmen mitspielt. Als was? Als osteuropäischer Mafioso, als unberechenbarer, psychopathischer Charakter. Hamlet ist in eine Nebenrolle abgerutscht. Der Held hat sich in einen Schurken verwandelt. Rade ist ein wandelndes Osteuropa-Klischee.
An einem regnerischen englischen Samstagnachmittag feierten wir ein Grillfest, natürlich unter einem Schirm. Wir tranken Wein und redeten über vergangene Zeiten. Dann zeigte ich ihm den Pappaufsteller seiner außerirdischen Landsmännin Mira Furlan. Ich verglich die beiden. Zwei ehemalige Helden in einer virtuellen Realität. Geschichtlich, geografisch und biografisch verbannt. Ich sagte zu Rade: “Wir haben unsere Geschichte verloren.” Er entgegnete: “Vielleicht hatten wir nie eine.”
Ich höre das Gähnen aus den Reihen der Postmodernisten. “Geschichte. Erzählung. Kontinuität. Schicksal. Leben. Tod. Warum seid ihr Osteuropäer immer so düster und pathetisch und paranoid? Seid ein bisschen fröhlicher. Wacht auf! Die Welt ist nur ein postmodernes Spiel!” Tja, vielleicht ist sie das tatsächlich. Vielleicht könnte sie es sein. Wenn sie nicht gerade ein prämodernes Massengrab wäre.
Was ist eine Geschichte?
Eine Geschichte ist eine Erzählung. Ein Bericht. Eine Abfolge von Ereignissen. Sie sagt uns, wer wir sind, wer wir waren, und was aus uns werden könnte. Sie ist eine Interpretation. So wie die Identität, die eine Erzählung von uns ist, ein ständiges Verhandeln und Neuverhandeln unseres Selbst. So wie das Theater, das ebenfalls eine Spiegelfläche ist, eine Vision von uns und der Welt, eine Deutung der Vergangenheit und eine Projektion in die Zukunft.
Gestatten Sie mir ein paar persönliche Bemerkungen zum Unterschied zwischen der west- und der osteuropäischen Erzählung, zwischen diesen beiden Meistererzählungen. Vielleicht kann ich erklären, wo mein Osten liegt, und wie er dorthin kam.
Meistererzählungen
Letztes Jahr habe ich eine BBC-Dokumentation über das Kosovo gesehen. Ein Lehrer stand vor einer serbischen Schulklasse und erzählte den Kindern, dass man vor fünfhundert Jahren eine Schlacht gegen die Türken verloren habe und dass ihnen, den Kindern, in Zukunft die Aufgabe zukäme, Vergeltung dafür zu üben. Der Lehrer bot seinen Schülern eine Erzählung an, eine Schablone zur Ausbildung der eigenen Identität. In dieser Geschichte wimmelte es von Kriegern, von Rache, von unbeglichenen Rechnungen und heiligen Nationalidealen. Ich erkannte zu viel von meiner eigenen Geschichte darin wieder.
In dem ersten Lesebuch, das meine Tochter Jana – sie war bei unserer Ankunft in Großbritannien sechs Jahre alt – in der Schule bekam, ging es um eine Gruppe von Kindern, die in der Londoner U-Bahn ihren Hund verlieren. Eine lustige Erzählung mit einem Hauch Magie. Keine geschichtliche Vergangenheit, keine Kriege, keine festgelegten Vorstellungen. Eine globaler, offener, dezentralisierter, ziviler Weltbegriff. Ich erkannte nichts von meiner eigenen Geschichte darin wieder.
Ich fragte mich, welche der beiden Geschichten für meine Tochter die bessere sei. Und warum sollten sie einander ausschließen? Gäbe es möglicherweise ein gesundes Gleichgewicht? Ich brauchte dringend Antworten auf meine Fragen, nicht nur als Vater, sondern als Bürger. Vom Künstler in mir ganz zu schweigen.
Wer ist überhaupt für diese Geschichten verantwortlich? Sie werden von Beamten in verschiedenen Erziehungsministerien zusammengestellt. (Angeblich haben das französische und das deutsche Erziehungsministerium zehn Jahre gebraucht, um sich endlich auf eine einheitliche Schulbuchversion für den Geschichtsunterricht zu einigen.) Diese Meistererzählungen schaffen den gesellschaftlichen Kontext und den intellektuellen Diskurs, innerhalb dessen ein Künstler arbeitet. Sie wirken wie gesellschaftliche und kulturelle Zentrifugalkräfte. Der Künstler kann den Kontext akzeptieren oder ignorieren, aber der Kontext wird immer bestehen. So wie die Schwerkraft.
Donald Duck vs. Byzanz
Diese beiden Meistererzählungen würde ich gern in ihren hässlichsten und vulgärsten Ausprägungen untersuchen. Lassen Sie mich die östliche Welt “Byzanz” nennen. Es handelt sich um eine abgeschlossene Gesellschaft, die vertikal, patriarchalisch, männlich und ländlich organisiert ist und in der alles Wissen dem Individuum an der Spitze gehört; eine eng gestrickte Gemeinschaft, in der man niemals allein ist, selbst, wenn man es gern wäre. Alle gesellschaftlichen Positionen sind festgelegt, jeder hat einen Spitznamen, und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Menschen sind vorgegeben. Es gibt keine Demokratie, keine Toleranz, keinen Platz für Homosexuelle oder, wenn man es so betrachtet, für Frauen. Individualität hat hier einen tödlichen Preis. In dieser Welt herrscht der ethnische Fundamentalismus. Auf der einen Seite die auf ewig verbundenen Brüder, auf der anderen die Verräter und Außenseiter. Diese Erzählung ist schwarz-weiß und beschäftigt sich ausschließlich mit kollektivistischen Stammesfragen. Sie ermöglicht in erster Linie ein Großes Nationaltheater mit Tausenden von Statisten und großen Kulissen. Die osteuropäische Geschichte ist ein Märchen mit einem Schlüssel und einem Schloss.
Dieser Welt gegenüber steht Donald Duck. Er lebt in einer städtisch geprägten, schnellen, globalen, konsumorientierten, postindustriellen Gesellschaft. Er hat keine Mutter, keinen Vater, keine Frau und keine Kinder. Er kümmert sich um seine drei Neffen – Gott weiß, woher die kommen. Gelegentlich trifft er sich mit seiner Freundin, aber danach fahren die beiden in getrennten Autos zu getrennten Wohnungen. Donald Duck gehört keiner Gemeinschaft an, die größer wäre als er selbst. Er ist ein Individuum par excellence. Ein einsamer Wolf auf der Suche nach dem Glück. Er ist wie ein Cowboy in einem Saloon, dessen Überleben davon abhängt, wie schnell er zieht. Seine Geschichte ist durch keine Geografie und keine Vergangenheit geprägt. Sie ist zersplittert, fragmentiert, versprengt. Donald Duck ist eine Bastion politischer Sterilität und metaphysischen Versagens.
Donald Duck kommt nach Byzanz
Was Osteuropa in den letzten zehn Jahren erlebte, war die Ankunft von Donald Duck in Byzanz. Donald Duck hat einen breitbeinigen Gang und seine Weltanschauung im Gepäck. Diese Weltanschauung ist primitiv und hat mit den westeuropäischen Gesellschaftsmodellen nichts zu tun. Es geht um eine Art Wildwest-Kapitalismus mit rauchenden Colts. Oder zumindest kommt es in dieser Form bei uns an. Unzählige nichtstaatliche westliche Organisationen erläutern uns in endlosen Workshops, was zu tun sei, und wie. Die Osteuropäer legen Lippenbekenntnisse ab und lachen sich ins Fäustchen: “Gebt uns das Geld und verzieht euch. Ihr könnt uns keine Vorschriften machen!” Donald Duck hat die Karotte am Stock dabei, die universellen Mechanismen von Gier und Konsumdenken. “Lasst uns ein Chaos anrichten und danach unsere eigene Ordnung einführen. Lasst uns für eine Hungersnot sorgen und dann unsere Lebensmittel verkaufen. Sollen die Chinesen doch glauben, sie seien nichts wert, solange sie nicht unsere Autos fahren.”
Salz essen
Während der Bürgerkriege präsentierte CNN uns als eine Ansammlung von Stämmen mit komplizierten Namen und seltsamen politischen Gewohnheiten. Vor diesem Hintergrund präsentierten sich gepflegte, zivilisierte CNN-Reporter mit makellos reinen Hemden, um Ordnung ins Chaos zu bringen und das ganze Wirrwarr in einfache englische Worte zu fassen. Hat es funktioniert? Am Rande von internationalen Konferenzen wurde ich oft im Flüsterton von westlichen Intellektuellen angesprochen: “Was ist da unten eigentlich los?” CNN hat also zumindest eines klargestellt: Man kann uns nicht verstehen. “Macht euch gar nicht erst die Mühe, diese Leute verstehen zu wollen.”
Das ist unfair, und es verletzt mich. Und ich weiß, wie mein Verstand funktioniert, wenn ich verletzt bin. Ich bin bereit, ein Kilo Salz zu essen, wie es so schön heißt. Erlauben Sie mir an dieser Stelle, einen anderen Gang einzulegen und meine atavistische Stimme zu einem inneren Monolog zu erheben: “Ihr haltet mich für unverständlich? Ihr habt noch gar nichts gesehen. Ich werde euch ‘unverständlich’ zeigen! Ja, ich weiß, dass ich mich zum Narren mache, wenn ich hier vor euren Augen Salz fresse. Ich tue es aus Trotz. Nur, um mir selbst zu schaden. Denn ich habe bei Dostojewksij gelernt, dass es nur einen Weg gibt, mir meine Freiheit zu beweisen: indem ich gegen meine eigenen Interessen handle. Meine protestantische Frau wird das nie verstehen. Sie weigert sich, mein Verhalten als logisch anzusehen. Und ich muss ihr zustimmen. Aber ich verhalte mich nur in unlogischen Situationen so, unter unlogischem Druck. Nur, wenn man mir auf den Fuß tritt. Und jetzt wollt ihr mir sagen, ich sei ein irrationales Monster. Ihr, die ihr mich kennt und wisst, dass ich normalerweise nicht so bin. Ihr, die ihr selbst gesagt habt, wie großzügig und gastfreundlich und warmherzig und beseelt ich sei. Ihr sagt, meine Geschichte gefällt euch nicht? Ihr sagt, ich solle sie ändern? Und ihr sagt, ihr würdet das tun, falls ich mich weigere? Wisst ihr was? Ihr könnt mir gestohlen bleiben! Wie wollt ihr meine Geschichte ändern? Mit einem Bombenteppich? Mit dem Den Haager Tribunal? Mit UN-Resolutionen? Durch Erpressung und Bestechung? Durch Theaterfestivals? Wohl kaum. Ich ändere meine Geschichte, wann ich will und wie ich will. Ihr haltet mich für unsexy? Na und! Wie der Dichter schon sagte: ‘We’re ugly but we have the music.’ Jetzt habt ihr mich auf die Barrikaden gebracht! Und der Kampf wird sich bis ins nächste Jahrtausend dahinziehen! Und noch weiter!”
Zurück zum Essay. Lassen Sie mich eins klarstellen. Ich schimpfe hier auf die hässliche, unsichtbare Mehrheit, die Klischees produziert und pflegt. Ich greife die öffentliche Meinung an, wie sie in den Bars und Pubs vorherrscht. Ich spreche hier ganz bestimmt nicht von meinen Freunden in Frankfurt, Stockholm, Avignon und Kilburn, die sich in dieser Situation ebenso ohnmächtig fühlen wie ich. Ich spreche hier nicht von den Idealisten der Praxis-Gruppe auf der Insel Korcula, die mein Ex-Heimatland im Jahr 1968 noch geliebt haben. Und deren Ideale ebenso zertrümmert wurden wie meine. Die jetzt sehen können, wie ihre eigenen, westlichen Regierungen ebenso wie unsere von Banken und Großkonzernen aufgekauft werden. Ihre Welt und meine liegen näher beieinander als je zuvor.
Wem gehört die Geschichte?
Nun, da die Kriege vorbei sind, berichtet das britische Fernsehen nur noch gelegentlich vom Leben der britischen Bataillone dort unten. Es ist die Geschichte von “unseren Jungs da draußen in der Wildnis”. Die Geschichte gehört dem Erzähler. In Casablanca geht es nicht um den Zweiten Weltkrieg in Europa und Afrika. Es geht um einen sexy Amerikaner aus New York. Es geht um ein Individuum auf der Suche nach dem amerikanischen Traum. Es geht um Hollywood und Disney. Verzeihung, wo passe ich da hinein? Ich spreche nicht von Intimsphäre, sondern von persönlichem Freiraum.
Wenn Indiana Jones “da raus” geht, hat er keine bestimmte Epoche oder Geografie zum Ziel. Er bereist eine chaotische Dritte Welt, bevölkert von schmierigen, zumeist gesichtslosen und im Dutzend aus dem Weg zu räumenden Verlierertypen. Hollywood räumt der Geschichte und der Geografie keinen Raum ein, weshalb sich die osteuropäischen Künstler dort falsch dargestellt fühlen. Sie streben danach, ihre Geschichte und ihre Geografie beizutragen. Ihre eigene Weltsicht. Ihren Kompass. Aber da liegt der Haken, der sie überflüssig macht. Ihre eigenen Kinder sind zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahre alt und gehen ins Kino, und sie machen sich nichts aus Geschichte oder Geografie. Sie machen sich etwas aus Indiana Jones.
Wie will man diese unmögliche Gleichung auflösen? In meiner Wohngegend würde man sagen: “Wie wär’s, wenn ich dir zum Basketballspielen die Hände auf den Rücken binde?”
Meine Weltkarte
Der Westen pflegte die eiserne Überzeugung, dass aus dem Osten ohnehin “nichts Gutes” kommen könne. Dass die Geschichte der Länder hinter dem Eisernen Vorhang kaum anderes beinhalte als tristes Leben, trostlose Ästhetik und Geheimpolizei. Die politischen Projektionen wurden zum Zweck des Kalten Krieges entworfen. Wir in Jugoslawien wollten immer die Ausnahme sein, wir wollten immer beweisen, dass wir unseren eigenen Weg gingen. Vielleicht bildeten wir tatsächlich eine Ausnahme, aber in dem Fall waren wir die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Auch auf uns trafen die Vorurteile zu.
Natürlich hege auch ich solche Vorurteile. Misstrauisch beäuge ich Musiker, die Rock’n’Roll spielen, ohne weiße Angelsachsen zu sein, genauso wie Musiker, die Jazz spielen, ohne schwarz zu sein. Deswegen dürfte ich mich eigentlich nicht beschweren, wenn ich Leute kennen lerne, die misstrauisch werden, wenn Osteuropäer auf dem Gebiet der darstellenden Künste herumstümpern.
Inwieweit unterschied sich unsere Geschichte vom Klischee? Worin lag unsere Besonderheit, falls es sie überhaupt gab? Nun ja, in den Sechzigerjahren wuchsen wir genauso mit unseren Volksmärchen auf wie mit Kafka oder Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Wir genossen Reisefreiheit. Wir hatten das Belgrade International Theatre Festival – BITEF. Das Living Theatre kam 1968 nach Jugoslawien, zu einer Zeit, als es außerhalb von New York City kaum bekannt war. Namen wie Grotowski, Brook, Bob Wilson waren in Jugoslawien jedermann geläufig. Diese Leute gingen bei uns ein und aus. Wir waren der Überzeugung, wir hätten sie in den Westen geschickt. Wir dachten, dass sie zuerst zu uns kämen und ihre Arbeiten erst dann, nachdem wir unsere Zustimmung gegeben hatten, dem Rest der Welt zeigten. Wir waren aufgeblasen und arrogant. Beinahe sexy!
Tja, und nun? Vielleicht erlebte das jugoslawische Kulturleben nur deshalb ein so beschämendes und gewaltsames Ende, gerade weil es so hochentwickelt war. Die Stadt Belgrad hat sich die Neuerungen des Theaterfestivals nie wirklich angeeignet. Sie schaute aufmerksam zu, ohne wirklich zu begreifen. Unter dem europäischen Anstrich blieb die byzantinische Erzählung intakt.
Der tödliche Sog der Meistererzählung
Die historischen Rhythmen Osteuropas waren nie mit dem Westen synchron, insbesondere nicht in jenen Regionen, die zum Osmanischen Reich gehörten. Die dortigen Gesellschaften haben keine Renaissance, keinen Klassizismus und keine Aufklärung erlebt. Sie kannten keine industrielle Revolution, nicht den unter Napoléon Bonaparte entstandenen Code civil und auch nicht Rousseaus Gesellschaftsvertrag.
Diese Rhythmusstörung ist ein Quell ständigen, mühseligen Vergleichens und andauernden Unglücks. Unser Identitätsgefühl oszilliert zwischen tiefen Minderwertigkeitskomplexen und hochtrabender Überheblichkeit. Die Minderwertigkeitskomplexe ergeben sich aus dem Gefühl ökonomischer Wertlosigkeit. Die Überheblichkeit speist sich aus unserer Überzeugung, mehr Seele zu besitzen als die anderen. (Daran glauben sogar die slawischen Schmalspur-Mafiosi. Ich persönlich kann sie nicht von den Schmalspur-Mafiosi im Rest der Welt unterscheiden.)
Im Westen genießen Künstler den Luxus, sich von allem Politischen fern halten und dennoch einen großen Diskursraum füllen zu können. Aber in den zentralistischen Gesellschaftsstrukturen des Ostens gibt es kaum einen Raum für alternative Diskurse, keine Parallelwelten. Sich von der Politik fern zu halten käme einem Rückzug in den Autismus gleich. Es gibt Produktionen, die mitten in einem historischen Erdbeben entstanden sind und diese Realität trotzdem vollkommen ausklammern. Sie zeugen von anderen Dingen, vom eskapistischen Solipsismus des “Das passiert nicht wirklich, nicht hier, nicht uns”.
Unter dem täglichen Druck jener “historischen Seifenoper” braucht es viel Mut, am Leben zu bleiben und über die Runden zu kommen. Diesen Mut kann kein Außenstehender hoch genug schätzen. Der westliche Beobachter weiß angeblich genau, was in einer solchen Lage zu tun wäre, wie das Unrecht zu beseitigen und das Drama angemessen zu inszenieren wäre. Es ist wie bei einem Fußballspiel im Fernsehen, wo der Zuschauer immer besser als der Spieler weiß, wie eine Torchance zu verwandeln ist. Einmal sagte eine westliche Schriftstellerin zu mir: “Ich wünschte, ich würde in deinem Teil der Welt leben; dann hätte ich wenigstens eine Geschichte.” Mag sein, aber sie übersieht dabei, dass sie in diese Geschichte möglicherweise so tief hineingezogen würde, dass sie weder die Zeit noch die Kraft hätte, die Geschichte zu verstehen, geschweige denn zu einem Roman zu verarbeiten.
Die ungewollte Geschichte
Wie sah diese traurige Geschichte für die darstellenden Künste in meiner Ex-Heimat also aus? Ich halte sie für authentisch und wahr und ziemlich gut erzählt. 1990 beschlossen die Organisatoren des Eurokaz-Theaterfestivals in Zagreb, die darstellenden Künste in Jugoslawien auf ihrem aktuellen Stand zu präsentieren. Während des Festivals kam das Informal European Theatre Meeting, abgekürzt IETM, zu einem Treffen zusammen. Eine ganz neue Generation jugoslawischer Nachwuchsregisseure stellte sich den westlichen Independent-Produzenten vor. Die Talente hießen Dragan Zivadinov, Vito Taufer, Haris Pasovic, Branko Brezovec… Diese Leute hatten keine Angst, ihre Geschichte zu erzählen. Ich hielt diese Geschichte für sexy, ebenso wie die Erzähler. Und die anderen, etwas älteren Regisseure auch – Slobodan Unkovski, Ljubisa Ristic, Dusan Jovanovic… Es war eine Geschichte aus unserer Zeit, von unserem Ort und in unserem Kontext, ein Pastiche, ein tragikomisches Märchen aus einer kleinen Welt, die sich zwischen zwei riesigen politischen Mühlsteinen drehte. Aber niemand wollte die Geschichte kaufen. Die westlichen Produzenten sagten, sie sei zu konfus und nur schwierig in eine Schublade zu stecken, sie sagten, die Geschichte erfülle die westlichen Erwartungen nicht.
So ging die Geschichte vor die Hunde. Zusammen mit ihren Erzählern. Einige von ihnen wurden zu Ideologen politischer Regimes, andere Kulturminister. Sie alle wurden von den Zentrifugalkräften ihrer jeweiligen Meistererzählung eingesogen. Vielleicht hätten die westlichen Produzenten (und an dieser Stelle meine ich nicht nur die vom Theater, sondern auch die aus der Politik) versuchen sollen, einen Kontext zu schaffen und ihren eigenen Erwartungshorizont der Geschichte anzupassen, und nicht anders herum. Wenn diese Geschichte gehört und verstanden worden wäre, hätte es vielleicht, nur vielleicht, den Krieg nicht gegeben, der sie am Ende ganz zerstörte.
Und nun, nachdem das Blut in Strömen geflossen ist, erhebt sich wieder die alte Frage: “Wo ist Osten?” Nun ja, es hat eine Zeit gegeben, in der der Osten – wenigstens meine Ecke des Ostens – aufschrie: “Hier sind wir!”, und der Westen antwortete: “Wir können euch nicht sehen. Ihr seid nicht dort, wo wir euch erwartet hätten. Stellt euch woanders hin, damit wir euch sehen können!”
Aber das ist jetzt alles Geschichte. Und es ist sinnlos, vergossener Milch nachzuweinen. Ich weiß, es war nicht persönlich gemeint, Amigos! Ging alles nur ums Geschäft!
Was tun?
Auf dem Balkan pfeifen es die Spatzen von allen Dächern: Es ist unmöglich, im selben Land geboren zu werden und zu sterben. Im Laufe des Lebens wird das Dach einstürzen, und dann muss man sich ein neues Haus bauen. “Die ständige Wiederholung des Gleichen” ist so unabwendbar wie eine Naturkatastrophe.
Das osteuropäische Theater schmort im Dampfkochtopf der politischen Unruhen vor sich hin und durchlebt eine tektonische Identitätsverschiebung. Es tröstet sich damit, dass wirklich große Kunst nur unter den schmerzvollen Geburtswehen der Geschichte hervorgebracht werden kann. (Fairerweise muss man hinzufügen, dass es auch noch die im Westen unglaublich erfolgreichen Filme von Kusturica und Mancevski und die Musik von Bregovic gibt; Beispiele, an denen sich alle osteuropäischen Künstler orientieren können.)
Die darstellende Kunst Osteuropas wird aus ihrer Amnesie erwachen und sich daran erinnern müssen, dass es ihre eigene, verworrene Gesellschaftsordnung war, die zur vorletzten Jahrhundertwende cechov, Malevic, Stravinskij, Eisenstein, Nijinskij, Charms, Vvedenskij und Bulgakov ausgespuckt hat. Namen, die sich der ach-so-flexible Westen längst einverleibt hat. Und so wurde der Osten, aus dem diese Namen stammten, zum Wilden Osten. Der Wilde Westen hingegen, der Wyatt Earp und Calamity Jane hervorbrachte, wurde zum höflichen, lässigen Eigentümer und Hüter der Moderne.
Die darstellenden Künstler in Osteuropa haben noch eine ganze Menge altmodischer, einsamer Hausaufgaben zu erledigen – sie müssen eine Stimme finden, sich an ihren Namen erinnern, ihr Selbstbewusstsein wiedergewinnen, ihren Raum zurückerobern und ihre Tradition erkennen. Sie müssen sich ihre Geschichten verdienen und aneignen, egal, wie viel diese Geschichten wert sind. Und egal, ob sie sexy sind oder nicht.
Published 24 March 2009
Original in English
Translated by
Eva Bonné
First published by "Alter Ego. Twenty Confronting Views on the European Experience" Ed. by Guido Snel. Amsterdam University Press. Salome 2004; Wespennest 154 (2009)
Contributed by Wespennest © Goran Stefanovski / Wespennest / Eurozine
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