Gegen die Liebe

Eine literarische Spurensuche im Fall Natascha Kampusch

Die Gefangene, die Entflohene; die Verlorene, die Wiedergefundene: Natascha Kampuschs Geschichte – die Geschichte eines entführten Mädchens, das mit zehn Jahren verschwindet und als erwachsene Frau zurückkehrt – wurde weltweit zum Ereignis. Noch bevor die Öffentlichkeit ihr “neues” Gesicht gesehen hatte, war es schon jedem Auge als digitales Phantombild präsent, auf einem der zahlreichen Titelblätter, die mit dem vorprogrammierten Face of the Year handelten, sogar in warholsche Farbpattern zerlegt, stilisiert zur populären Ikone. Der österreichische Rundfunk durfte, nachdem der blasse Star sein erstes Interview zur Unzufriedenheit aller Voyeure absolviert hatte, die dritthöchste Einschaltquote der Fernsehgeschichte verkünden: ein “Straßenfeger” in Zeiten der Postmoderne, in denen es längst keine mehr gibt, weil keine Erzählung mehr unerhört zu klingen vermag. Und hier? Was macht die Geschichte der K. so gut, so faszinierend, so attraktiv für die Masse? Warum wirkte sie vor allem anfangs spannender als jeder Thriller, fesselnder als Thomas Harris’ Schweigen der Lämmer oder alle anderen von der Kulturindustrie produzierten künstlichen Höllen? Und warum scheint sie auch – um bei den wirklich passierten Geschichten zu bleiben – interessanter als der belgische Fall Dutroux zu sein? Zuletzt: Warum war das Ereignis nur ein Strohfeuer, in dem die mediale Begeisterung schon nach wenigen Wochen erlosch?

Wer diese Fragen beantworten möchte, dem drängt sich ein literarischer Bezugsrahmen geradezu auf. Literatur, überall Literatur, soviel Literarisches, dass man hier regelrecht von einer Notwendigkeit zur Literatur sprechen kann: zum einen, weil Literatur selbst in der Geschichte eine entscheidende Rolle als Lebensretterin spielt (während der Gefangenschaft, berichtet Kampusch, habe sie nicht nur viel gelesen – von Robinson Crusoe bis Alice im Wunderland –, sondern auch täglich geschrieben und sich so eine “höhere” Sprache erworben, die nicht jeder spricht), zum anderen, weil schon jetzt feststeht, dass sie ein Buch schreiben wird, um darin die Wirklichkeit der verlorenen Zeit in eine Erzählung aus ihrer Hand zu verwandeln. Kampuschs Aufzeichnungen aus dem Strasshofer Kellerloch, die einen derart überlebensnotwendigen Freiraum für sie bildeten, dass sie ihre Handschrift auch noch nach der Flucht geheim halten will, sind bereits der erste Teil dieses unfassbaren Romans, auf den alles – fast möchte man sagen: von Anfang an – hinausläuft und mit dem die großen Verlagshäuser schon jetzt als Bestseller kommender Saisonen kalkulieren.

Jedes Buch braucht, um zum Bestseller werden zu können, einen starken Plot, und die Geschichte von Kampuschs Entführung ist nicht nur fabelhaft, sie ist perfekt. Zu ihrer Perfektion zählt vielleicht auch, dass sie just im 150. Geburtsjahr von Freud ihren Abschluss findet, als wäre sie das gesellschaftliche Menetekel einer psychoanalytischen Hermeneutik, die sich nicht zuletzt im Zusammenspiel mit der Weltliteratur von Sophokles bis Shakespeare entfaltet hat. Hörte man in den ersten Wochen Expertenrunden über den Fall Kampusch-Priklopil sprechen, so wurde offensichtlich, dass schon seit langem weder Freuds Denken noch kritische Literaturanalyse an den Universitäten gelehrt werden, sonst wäre es kaum möglich gewesen, dass fast alle Psychologen, die sich die Frage nach der außerordentlichen Faszinationskraft der Geschichte stellten, das Entscheidende verfehlten. Natürlich wurden hier Urängste angesprochen, natürlich freuten sich die Menschen über die (märchenhafte?) Rettung des kleinen Mädchens, natürlich setzt der Voyeurismus am Leiden anderer kathartische Energien frei – aber damit können viele Geschichten punkten, erfundene und faktische, das Geheimnisvolle dieser Geschichte lag und liegt jedoch woanders, nämlich dort, wo es den meisten lange verborgen geblieben ist: an der Oberfläche. Nur wenn man von der ohnehin kargen Faktenlage absieht und daraus eine narrative Struktur destilliert, in der es bloß zwei Aktanten mit anfangs entgegengesetzten, am Ende sich kreuzenden Bewegungszielen gibt, dann erscheint diese Geschichte plötzlich gar nicht mehr so unerhört zu sein. Nein, unerhört ist sie nicht, dafür aber – im modifizierten freudschen Sinn – abgrundtief unheimlich. Bekanntlich unterscheidet Freud das Unheimliche (wiederum anhand eines literarischen Beispiels: E. T. A. Hoffmans Sandmann) vom bloß “Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden” dadurch, dass im Phänomen des Unheimlichen immer die Spur eines Heimeligen steckt, ein wiederholtes und dadurch entstelltes Gefühl, in dem man, ohne sich dessen bewusst zu sein, schon einmal zuhause gewesen war (im Kontext der Schauerromantik wäre das vor allem der atavistische Glaube an die Belebtheit unbelebter Dinge, der Geister-Glaube, der auch im aufgeklärtesten Menschen verankert bleibt und mit dem der Autor der Spukgeschichte spekuliert). Was Kampuschs Entführung ihre wahrhaft unheimliche Dimension verlieh, war nicht die Reaktivierung infantiler Ängste – Dunkelheit, Stille, Einsamkeit –, sondern die entstellte Wiederbegegnung mit einem Gefühlsprogramm, das in allen Menschen läuft und läuft und läuft und dafür verantwortlich zeichnet, dass uns diese Geschichte so stark anspricht. Der Inhalt der Novelle ist alt, bloß die Form, in Perfektion radikalisiert, erscheint neu. Die Menschen, zumal die der Mittelschicht, zeigten sich wochenlang entsetzt, sprachen von einer unerhörten Begebenheit, von einem Skandal, aber gleichzeitig waren sie begeistert, fast euphorisiert, denn unbewusst spürten sie, dass es hier um etwas geht, das auch ihr Leben betrifft, weil sie es wahrscheinlich selbst schon, nur in anderer Gestalt, erlebt haben. Wenn die Massen anfangs ihr Mitleid für Natascha Kampusch bekundeten, so nahmen sie im doppelten Sinn Anteil an ihrem Schicksal: Sie selbst sind, ohne es wahrhaben zu wollen, Teil dieses Skandalons, wurde doch ihr Bewusstsein mit dem gleichen Programm strukturiert wie jenes von Priklopil und Kampusch. Nennen wir endlich das unartige Kind beim Namen: Das Programm, das hier verhandelt wird, heißt romantische Liebe, die Geschichte, um die es hier geht, ist ein Liebesroman.

Nun herrscht die Vorstellung in den Köpfen der Menschen, dass die Liebe etwas sei, wonach man sich sehnt, und nichts, wovor man sich zu fürchten habe. Sie verstellt den Blick für die Entstellungen des Faktischen wie der Kunst. Sie ist dafür verantwortlich, dass anfangs viele protestierten, wenn man behauptete, Kampuschs Entführung sei im Grunde eine conte d’amour. Wo die Gewalt anfange, hörte man die belehrenden Worte, da höre auch die Liebe auf – eine Definition ex negativo, die, ob nun stimmig oder nicht, bloß ein Ideal formuliert. Auch vom Stockholm-Syndrom wurde dann meistens gesprochen, als wäre das Schlagwort nicht genauso blind wie ihre Benutzer, die nicht sehen, dass eine Geiselnahme in einer Stockholmer Bank etwas völlig anderes ist als eine achtjährige Beziehung, weshalb sich der Begriff, wenn man ihn trotzdem auf Kampuschs Fall anwendet, völlig entkonkretisiert. Derart transportabel geworden, bedeutet er nicht mehr, als dass ein Mensch einen anderen schätzen oder lieben kann, obwohl ihm dieser Gewalt antut. Das ominöse Stockholm-Syndrom müsste dann auch in jeder Ehe, Familie und Freundschaft diagnostiziert werden, denn wer von uns hätte noch nie in einer intimen sozialen Beziehungsform Verletzungen erlebt, ohne sofort mit dem Übeltäter “Schluss zu machen”. Der gewaltfreie Ort der Liebe – den auch Adornos viel zitiertes Diktum beschwört – ist ein utopischer, und das erklärt auch, warum sich fast die gesamte Welt- und Trivialliteratur als die Entfaltung des idealistischen Liebesbegriffs lesen lässt. Dort, im kontrafaktischen Spielraum der Kunst (im Film heute noch mehr als in der Literatur), wird seit Jahrtausenden das Programm einer romantischen Liebe formuliert, “romantisch” im Sinne von: ausschließend, lebenslang und unbedingt. Seit Anbeginn der abendländischen Literaturgeschichte kehrt Odysseus zu seiner Penelope heim, kämpft Don Quijote um seine Dulcinea, sucht Romeo seine Julia (und schon diese nackten Konstellationen zeigen, wem dabei stets die aktive und wem die passive Rolle zugedacht wurde). Es sind vor allem literarische Vor-Bilder, die, um mit Niklas Luhmann zu sprechen, unsere erotische Intimität codieren, uns die “Liebe als Passion”, als eine Form des Glücks vorschreiben, welche – grausame conditio sine qua non – das Leiden am anderen in sich einschließt. Überspitzt ließe sich formulieren: Wir haben die romantische Liebe als literarisches Rezept verschrieben bekommen (weshalb, en passant bemerkt, ein Apotheker in Flauberts Madame Bovary eine so bedeutende Rolle spielt). Aber gegen welche Krankheit? Und welche Nebenwirkungen hat diese bittersüße Medizin? Ist sie vielleicht nicht selbst das Gift, das die Krankheit provoziert, von der sie heilen soll? Liebe offenbart sich primär als Sehnsucht nach Liebe, und wahrscheinlich – diese Spekulation sei erlaubt – würden sich die meisten Menschen niemals leidenschaftlich verlieben, hätte man ihnen nicht schon als Kleinkind das Märchen von der Liebe erzählt. Es war einmal ein Prinz und eine Prinzessin … Es war einmal ein Handwerker und ein Mädchen …

Wäre Priklopil kein armer Schlucker, sondern ein schöner, reicher Mann gewesen (ein Popstar, ein Prince von heute, ein Love-Symbol), hätte er seine Auserwählte nicht in einen Kastenwagen, sondern in seinen Ferrari gehoben und mit seiner Yacht auf eine Trauminsel in der Karibik entführt, um sie dort acht Jahre lang all inclusive zu verwöhnen, dann hätte wohl selbst der politisch Korrekteste sofort (ein)gesehen, dass auch hinter dieser Missbrauchsgeschichte – denn eine solche bleibt sie auf jeden Fall – das Märchen von der romantischen Liebe geschrieben steht, geschrieben in einem stark juridischen Sinn: als Vorschrift, als vorgeschriebenes Gesetz, als Imperativ: Du musst um jeden Preis lieben! Nicht zufällig ist der Tod der Lady Di jenes Individualschicksal, welches als Einziges in den letzten Jahrzehnten ähnlich starke Emotionen beim Massenpublikum bewirkt hat wie die Entführung der Kampusch: Reale Märchen, ob in konventioneller (Prinz von Wales heiratet 18-jährige Kindergärtnerin) oder vollkommen entstellter Form (Strasshofer Handwerker entführt zehnjähriges Mädchen, das als “starke” Frau zurückkehrt), gehen unter die Haut, weil sie gerade die humanen Basalsehnsüchte stimulieren, die nicht zuletzt von den großen und kleinen Erzählungen der Zivilisation von jeher kreiert wurden. Der Wunsch nach Gerechtigkeit, Glück oder Liebe erscheint im Genre des Märchens perfekt erfüllbar zu sein, aber im Unterschied zur Literatur, die am Kulminationspunkt von happiness und Harmonie den final cut setzen kann, arbeitet in jedem Erlebnis, auch im märchenhaftesten, die Zeit weiter, und die Zeit – das ist ihr indifferentes Unwesen – zerstört alles. Die erlebten Märchen, das heißt die Schicksale, die von den Medien als solche stilisiert werden, sind schon per se von Tod und Gewalt entstellt, tragen aber, als verlockende Botschaft, noch immer das Versprechen eines zwischenmenschlichen Glücks in sich, auf das unsere Gesellschaft zu hoffen nicht aufgibt. So sollte – da jede intellektuelle Lektüre sich der ethischen Aufgabe verschreibt, das gesellschaftskritische Potenzial eines Textes zu entfalten – die Geschichte der K. als ein pechschwarzes Märchen der Liebe gelesen werden, in dem die gewalttätige Struktur des Liebesideals so perfekt zum Ausdruck kommt wie sonst nur in den größten und abgründigsten Werken der Weltliteratur.

Was die Geschichte zum Liebesroman macht, ist die klassische Konstellation Priklopil-Kampusch. Was den romantischen Gehalt der Erzählung definiert, ist die interindividuelle Dynamik einer dualen Biosphäre engster Intimität. Noch das dunkelste Märchen bleibt, wenn sich darin alle nach Liebe sehnen, ein Märchen der Liebe. Will man den tatsächlichen Gegensatz der fast gesamten literarischen Tradition benennen, die von Homer bis Houellebecq dem idealistischen Liebesbegriff entspricht, so muss vor allem ein großer Name fallen: Donatien Alphonse François de Sade. Das einzige häretische Genre, das sich in seinen avantgardistischsten Werken konsequent dem Diktat des romantischen Liebesideals widersetzt, ist die Pornografie und Sade – der “göttliche Marquis” – chef de mission. Wie kein zweiter hat er mit seinen pornologischen Antimärchen die Ideologie der romantischen Liebe attackiert, mit einem singulären aufklärerischen und mytho-erotomanischen Furor angeschrieben gegen diese letzte, bis heute ungebrochene Bastion bürgerlicher Ideologie: Ehe, Familie, Monogamie, Jungfräulichkeit, unschuldige Liebe – all diese Konstrukte eines katholischen Denkens der Intimität werden von Sade nicht nur als lustfeindlich und widernatürlich gebrandmarkt, sondern auch in ihrem gewalttätigen Zwangscharakter entlarvt. Wiederholt geben die Libertins seiner Romane in ihren sophistischen Monologen zu bedenken, dass die romantische Liebe schon Abermillionen von Opfern gefordert habe und unaufhörlich weitere fordere, einen gigantischen Leichenberg gebrochener Herzen anhäufe, dem gegenüber die Zahl der Menschen, die aufgrund eines verbrecherischen Sexualhedonismus ums Leben kommen, verschwindend gering sei. Auch wenn dieser Vergleich niemals auch nur einen einzigen Lustmord rechtfertigen kann (Gewalt bleibt Gewalt und ist als solche zu verurteilen), behält Sades radikale Kritik der reinen Liebe bis heute ihre volle Legitimation. So wie Kants Ideal der aufgeklärten Vernunft, so hat auch die Utopie der Liebe ihre destruktive Seite, ihren dunklen Maelström, von dem alle, die ihrem Ideal blind vertrauen, verschlungen werden, und Sade war der erste, der diesem Ungeheuer des Denkens und der Sexualität bedingungslos ins Auge geblickt hat. Kaum einer konnte ihm folgen, wollte ihm folgen.

Es sind an den alten Leiden des jungen Werther tatsächlich schon zu viele gestorben, als dass der mörderische Wahnsinn der Liebe noch glaubwürdig geleugnet werden könnte. Offensichtlich akzeptiert ihn die Gesellschaft, rechnet fix mit seinen Toten – das ist Statistik – und erschrickt nur, wenn die übliche Gewalt in einer Form ausbricht, die nicht täglich in den Zeitungen beschrieben steht. Eine schwer verständliche Diskrepanz: Auf der einen Seite wird der Selbstmord Priklopils, nachdem ihn “seine” Frau nach einem achtjährigen Verhältnis verlassen hat, als unerhörte Geschichte verkauft, auf der anderen Seite gibt es fast jeden Tag gleich lautende Schlagzeilen, über deren Ungeheuerlichkeit alle gelangweilt hinweglesen. Zu alltäglich klingen sie in unseren Ohren: “Mann erschoss seine Frau, weil sie ihn verlassen wollte”, “Mann beging Selbstmord, weil Frau ihn betrog”, “Mann tötete sich und seine Kinder, nachdem Frau ihn verlassen hat”, “Mann brachte seine Frau und ihren Liebhaber um”, “Frau erstach ihren Ehemann aus Eifersucht”. Schon die üblichen Begriffe – “Verhältnis”, “Beziehung”, “Ehebündnis” – versprechen sich in ihren Wortbildern, verraten etymologisch die Gewalt, die hinter den konventionellen Lebensgemeinschaften tatsächlich am Werk ist: Anscheinend geht es, will man das programmatische Liebesideal verwirklichen, nicht ohne Freiheitsentzug, nicht ohne ein ständiges Hin-und-her-Ziehen, Sich-aneinander-Binden, Sich-gegenseitig-Festhalten. Die Geburt der Liebe aus dem Geist des Totalitären hat sich in der Strasshofer Entführungsgeschichte exemplarisch offenbart. Ein Mensch wird eingeschlossen, alle anderen aus – das ist der ideologische Wesenskern der romantischen Liebe. Ich will nur dich!, sagt die Liebe, ich will dich ganz für mich allein!, sagt die Liebe, ich will, dass du für immer mir gehörst!, sagt die Liebe. Wer so spricht, denkt nur an eines: Besitz. Wer nur an Besitzt denkt, ist besessen von seinem Besitzdenken: Er selbst wird zum Gefangenen seines imaginären Schatzes (es gibt nur imaginäre Schätze), er selbst, verfolgt von chronischer Verlustangst, sperrt sich ein in das Wahnsystem seiner Hab- und Eifersucht. Dass die Lust am Besitz schließlich das gesamte positive Wertpotenzial, welches die Idee der Liebe unleugbar in sich trägt, auszulöschen vermag (Sich-ergänzen-im-Anderen, Offen-Sein für das Andere, ohne es zu vereinnahmen), verwundert nur auf den ersten Blick, denn nichts – auch wenn es die Menschen nicht glauben wollen – folgt so sehr der herrschenden Vernunft wie ihre Gefühle, und in einer Gesellschaft, in der ein theo-kapitalistischer Ungeist dominiert, handelt der, der nur auf sich und sein Eigentum achtet, stets am logischsten. So ist das Symptom der paranoiden Eifersucht – nennen wir es treffender, da es sich um ein ganzes Bündel von Symptomen handelt, das Strasshof-Syndrom – zum Schibboleth der Liebe geworden. Wer nicht eifersüchtig sei, wird gerade den Offenherzigen unterstellt, der könne auch nicht lieben, auf keinen Fall “richtig”. Wer den vorgeschriebenen Kopulationsneid nicht reproduziere, der verderbe das Liebes-Spiel, denn im regelkonformen Kreislauf von Monopoly und Monogamie orientiert sich alles am Eigentum, dreht sich alles darum, das Objekt der Begierde – und sei es auch noch so obskur – allein zu besitzen. “Wird Natascha Kampusch je einen Mann richtig lieben können?”, fragte am Anfang, als die Opfer-Täter-Dichotomie noch scharf konturiert erschien, die kleinformatige Kronen-Zeitung, ohne zu begreifen, dass in der Geschichte schon alles nach dem gesellschaftlichen Gefühlsdiktat ausgerichtet war, das Herr Priklopil und Frau Kampusch die Norm bis in die letzte Konsequenz hinein erfüllten, so bedingungslos und programmatisch wie es dem Wahnsinn der idealistischen Liebeslogik entspricht. Liebe und Eifersucht sind Synonyme geworden, haben sich ausgetauscht. “Bist du eifersüchtig?” lautet immer mehr die Gretchenfrage der Intimität: Weh dem, der sie verneint! Weh dem, der liebt!

Ein Mann gesteht: “… das Vergnügen, [meine Geliebte] mit mir in meiner Wohnung zu haben, war viel weniger ein positives Vergnügen, als daß es vielmehr darin bestand, der Welt, in der jeder seine Freude an ihr hätte haben können, diese junge Blüte entzogen zu haben, die mir zwar keine großen Freuden schenkte, dafür aber auch zumindest anderen keine gab. […] Denn der Besitz dessen, was man liebt, ist eine noch größere Freude als die Liebe selbst.” Hier spricht kein zwangsneurotischer Handwerker aus einem trostlosen Wiener Vorort, sondern Marcel, der großbürgerliche Erzähler aus Prousts Suche nach der verlorenen Zeit, der seine Geliebte und sich selbst so lange zu Gefangenen seines Misstrauens macht, bis Albertine, das begehrte Objekt, aus der Möbiusschleife von Liebe und Eifersucht ausbricht und stirbt. “Die Gefangene”, “Die Entflohene” – schon die Titel der beiden Teilbände markieren die Analogie von Prousts Roman und Kampuschs Entführungsgeschichte augenfällig, aber dass dieser literarische Monolith des 20. Jahrhunderts, dessen Fundament vor allem aus Reflexionen über das romantische Liebeskonstrukt gegossen ist, als Vorlage (als Vor-Schrift) für Priklopils Verbrechen hätte dienen können, wäre vielen, zumindest anfänglich, unausdenkbar erschienen. Die einzige literarische Spur, die in den Medien ventiliert wurde, war John Fowles’ Roman Der Sammler aus dem Jahr 1963, dessen Plot – so die öffentliche Behauptung – an den Fall Kampusch erinnere: Frederick Clegg, ein 25-jähriger Mann, verklemmt und gefühlskalt, verliebt sich in eine 20-jährige Frau, die er in seiner Nachbarschaft durch ein Fenster erblickt hat. Lange Zeit spioniert er ihr hinterher, ununterbrochen träumt er davon, wie es wäre, wenn sie ihm gehörte. Um sie schließlich zu besitzen – wie einen der Schmetterlinge, die er seit seiner Kindheit sammelt – entführt er sie in sein Haus und hält sie dort im Keller gefangen. Doch die Realität entspricht nicht dem Traum, die Frau nicht seiner Einbildung: Ihre Psyche lässt sich nicht einfangen. Nach acht Wochen (und vielen Tagebuchseiten, die eine Hälfte des Romans ausmachen) stirbt die Gefangene an einer Lungenentzündung, während der Entführer zu der Überzeugung kommt, dass er ein viel schwächeres Opfer finden muss, um es nach seiner Vorstellung formen zu können. Das Ende des Romans suggeriert eine serielle Spirale: Als der Mann ein Mädchen erblickt, das der verlorenen Gefangenen ähnlich sieht, ahnt der Leser die zwanghafte Wiederholung des Gleichen im Anderen. Unübersehbar weicht der Plot stark von dem der Strasshofer Entführungsgeschichte ab, und tatsächlich ist es nicht das Handlungsgerüst, das die fiktionale Erzählung mit dem realen Ereignis deckungsgleich macht, sondern allein die Psychologie der Protagonisten. So viel sei angedeutet: Nicht zufällig betont Fowles die zerrütteten beziehungsweise erzkonservativen Familienverhältnisse sowohl des Täters als auch des Opfers, nicht zufällig spielen im Fall Kampusch die Familienmitglieder beider Hauptpersonen eine kaum fassbare, aber in ihrer Fernkausalität umso gewichtigere Rolle. Sogar jenseits von Freud wird hier evident, dass die Liebesgeschichte die Wiederholung des Familienromans ist, dass sich in ihr eine Gewalt der Exklusion prolongiert, die schon in der Vater-Mutter-Kind-Dreifaltigkeit als Bedingung ihres monadischen Funktionierens vorausgesetzt war. Deshalb will jedes Liebespaar, das sich als überlebensfähige Intimdyade definiert, heiraten und zur Familie werden. “Ich will”, sagt die Liebe am Standesamt, aber in Wahrheit bleibt ihr keine andere Wahl: Die Psycho-Logik der ausschließenden Liebe, deren Ideal mit den kapitalistischen Schlüsselwerten Produktion und Eigentum zusammenfällt, läuft natürlich auf das Kind hinaus, auf den Eltern-Wunsch, einen kleinen Menschen zu besitzen, den die so genannten Erwachsenen – die meistens keine sind, weil sie nie zu sich selbst, zu ihrem Selbst kommen durften – ganz und gar nach ihrem (Welt)Bild formen können. Im Monopoly der monogamen Liebe ist das Kind das Kapital. Frederick Clegg und Wolfgang Priklopil: die kleinen Angestellten und Hausbesitzer, fleißig und ordnungsliebend, hart, aber höflich, von engstirniger Erziehung und sozialer Gleichgültigkeit gezeichnet, gewaltbereit gegen alles Fremde wie gegen sich selbst. Natürlich brauchen sie irgendwann ein Kind, um glücklich zu sein.

Die gesellschaftskritische Erkenntnis, dass der Mensch so hoffnungslos in der Zelle seiner sozial prädeterminierten Gefühls- und Vorstellungswelten gefangen ist, dass er selbst Liebe nur noch nach dem Struktogramm gegenseitiger Unterdrückung zu (er)leben vermag, verbindet Faktizität und Fiktion, schließt Künst- und Wirklichkeit kurz und macht sie – Effekt eines unendlichen Wechselspiels – zur Kunst. Bezeichnenderweise wurde Fowles’ Roman bei seinem Erscheinen hauptsächlich als Thriller rezipiert, weshalb der Autor nicht nur den Bestsellerlesern, sondern auch seinen Kritikern vorwarf, sie wären blind für alle existenzialistischen Fragen, die der Text mithilfe des konventionellen Genre-Plots zu stellen versucht. Nachdem der Fall Kampusch die Verkaufszahlen des Romans reanimiert hatte, wiederholte sich diese spannungsorientierte Rezeptionsweise gleich zweifach: Auf der Ebene der fiktionalen wie der faktischen Erzählung bespiegelte sich alles bloß im Imaginären des suspense. Die Masse und ihre Medien konnten die Entführung der Kampusch nur als sensationelles Verbrechen begreifen, eben als Kriminalfall und nicht als exemplarischen Fall eines ubiquitären, gesellschaftlich organisierten Wahnsinns, der genug Anlass böte, den Status quo der emotionalen Ökonomie zu hinterfragen. So wundert es auch nicht, wenn der mediale Zeigefinger, der auf die Parallele zu Fowles’ Roman hinwies, sich sofort zur Anklage erhob, der Täter könnte ja vielleicht erst durch das Buch auf die Idee seiner Tat gekommen sein – eine altbekannte Geste, die sofort, mit einer Bewegung der Zensur, jedes Kunstwerk, das Gewalt und/oder Sexualität darstellt, in Untersuchungshaft nimmt. Dass die Kunst das Leben vorausahnt, weil sie ein unendlich feinfühliges Sensorium für Strukturen und dialektische Prozesse besitzt, kann eine mechanische Vernunft, die nur in klaren Dichotomien und Kausalitäten zu denken gedenkt, nicht fassen. Überall bestaunt sie den thrill des Ungeheuren, nur nicht dort, wo die Bedrohung wirklich ihren Ausgang nimmt: in der eigenen Mitte.

Der Blick der Masse ist pornografisch, nicht die Geschichte der K. Fast alles, was in den ersten Wochen über den Fall Kampusch geschrieben wurde, war Projektion. Die Kommentare verrieten mehr über die Psyche der Berichterstatter als über den dunklen Raum, den es angeblich zu erhellen galt. Wie sich diese achteinhalb Jahre der Gefangenschaft vorstellen – das war die unheimliche Kardinalfrage, von der die black box des Strasshofer Kellerverlieses ihre enorme Energie bezog. Ein Massenmagnet, ein Kassenmagnet, der aber nur als phantasmatischer Raum funktionierte: In dem Augenblick, in dem bekannt wurde, dass im Zentrum des Geheimnisses kein Ungeheuer hockt, sondern zwei Menschen, die miteinander auch auf Schiurlaub fahren, verlor die Geschichte ihre Anziehungskraft. Der Schock der Banalität wirkte traumatisch: Sofort wurde es still in den Medien (aus Ratlosigkeit, aus Mangel an subtilerer Fantasie, aber auch aus Ärger, weil man sich blamiert hatte), sofort kippte die Stimmung im Volk, war Natascha Kampusch plötzlich vom großen Sympathieträger zu einer Person des Misstrauens geworden, und wahrscheinlich bildete genau das den Hauptgrund, warum die Medien beziehungsweise Kampuschs “Anwälte” – die Verwalter ihrer Erzählung – plötzlich so konsequent schwiegen: Sie wussten nicht mehr, was ein Massenpublikum, das an die klare Unterscheidbarkeit von gut und böse, Täter und Opfer gewöhnt ist, jetzt hören wollte. Die Wahrheit war es offenbar nicht. Die Wahrheit, das hätte ja bedeutet: die Gewalt, die sich im Haus des Herrn Priklopil ereignet hat, als jene strukturelle zu erkennen, welche die gesamte Ökonomie gesellschaftlich legitimierter Intimitätsformen bestimmt.

Das Kind ist erwachsen geworden, hat sich – um Fowles’ Schmetterlingsmetapher weiterzuspinnen – zur jungen Frau entpuppt, die den klebrigen Kokon der Paarbindung hinter sich lässt wie Ibsens Nora einst ihr süßes Puppenheim. Der verlassene Mann bleibt auf der Strecke, wirft sich vor einen fahrenden Zug, als wüsste er, dass die Geleise, auf denen er stirbt, die sozio-ökonomische Engführung und Parallelschaltung individueller Gefühlswelten versinnbildlichen: A Streetcar named Desire – Endstation Sehnsucht, alle aussteigen! Aber nicht aus Angst vor dem Gesetz, das ihn zu einer Freiheitsstrafe hätte verurteilen können, richtete sich Priklopil selbst, sondern weil die Frau, von der er besessen war, nicht mehr unter seinem Dach, das heißt im Einfamilienhaus der radikal gewordenen Intimökonomie leben wollte. Nach achteinhalb Jahren war die in sich kreisende Kleinbahn des zwanghaften Begehrens endgültig zur love catastrophe entgleist (und ließe sich denn in Anbetracht der aufgeworfenen Metapher eine stimmigere Kulisse für diese Geschichte finden als Strasshof, diese gesichts- und trostlose Ortschaft, die sich über zehn Kilometer entlang einer Eisenbahnlinie erstreckt, und an deren Rand auch der Autor dieser Zeilen – eine Koinzidenz, die vielleicht die Härte des Urteils begründet – seine Kinder- und Jugendzeit verbrachte?).

Der Tod macht die Erzählung perfekt, er ist ihr entscheidendes Moment, der narratologische Stepppunkt, der den Text auf ein unabschließbares Sinnkontinuum hin faltet. Nachdem sich der männliche Part der Intimdyade seinem Verhör für immer entzogen hat (unwahrscheinlich, dass es – abgesehen von der zwangsneurotischen Fotodokumentation des unterirdischen Baus – irgendwelche schriftlichen Aufzeichnungen gibt, welche uns Priklopils Perspektive testamentarisch vermitteln würden), bleibt nur mehr die weibliche Stimme übrig, die sagen könnte, was in dem hermetischen Zeit-Raum passiert ist: Von nun an wird alles, was Natascha Kampusch erzählt, die Wahrheit sein und zugleich – da ihre Worte auf nichts anderes verweisen als auf weitere Worte – die Unwahrheit. Erzählungen brauchen, um als wahr zu gelten, die Beglaubigung der anderen: Sie müssen ohne Widerspruch wiedererzählt werden. Priklopil ist tot, und seither zirkulieren die Worte der Natascha Kampusch um sich selbst, wird ihre Stimme hin- und hergeworfen zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren, zwischen der eigenen Rede und dem Schweigen des Anderen. Was antworten, was festhalten, was niederschreiben? Sie hätte ihn, bedauerte Kampusch kurz nach Priklopils Tod, noch so viel fragen wollen, jetzt sei es zu spät: Ob sie in diesem Moment geahnt hat, dass immer etwas ungesagt bleiben muss, dass der Text, den sie schreiben will, immer von einem unendlichen Schweigen umgeben sein wird, perforiert von einem Loch, das die Sprache unaufhörlich am Sprechen hält und jede Suche nach der Wahrheit zu einem unabschließbaren Prozess des Wi(e)dererzählens macht? Ihr Imperativ, nur sie und niemand anderer dürfe ein Buch über ihre Geschichte schreiben, ist so naiv wie unannehmbar: In ihm repetiert sich die Ideologie eines privaten (Sinn)Raums, von dessen Gewaltpotenzial gerade der vorliegende Fall so eindringlich zeugt. Wer garantiert, dass Natascha Kampusch die Wahrheit sagt, dass sie die Wahrheit sagen kann oder überhaupt sagen will? Ist es ihre Stimme, die wir hören, oder sind es nicht vielmehr die Stimmen ihrer Anwälte, Psychologen, Medienberater und anderer ghost writer? Nimmt sie tatsächlich den Platz der Erzählerin ein oder ist sie nicht schon von Anfang an die Beschriebene, das obskure Objekt der Erzählung gewesen? Wir fragen uns: Wer spricht? und müssen – mit Beckett und Foucault – zur Antwort geben: “Wen kümmert’s, wer spricht?” Selbstverständlich ist Kampuschs Stimme privilegiert, sie hat den größten biografischen Authentizitätsbonus, aber wie jeder Autor kann auch sie erzählen, was sie will, und der Leser muss den Text, hinter dem die Wirklichkeit verschwindet, erst prüfen und sich dann entscheiden, ob und in welchem Ausmaß er ihm glauben will oder nicht. Im Grunde befindet sie sich in der gleichen Situation wie jeder Schriftsteller, der seinen Beruf ernst nimmt: Sie muss glaubwürdig sein allein durch Worte (ein hartes, vielleicht sogar unmenschliches Geschäft). Wahrheit – verstanden als politischer Begriff – ist nichts, was sich in einem privaten Sinn-Raum aufbewahren lässt, weder im Keller eines Einfamilienhauses noch im Tagebuch eines pubertierenden Mädchens lagert sie als Gut. Wahrheit entfaltet sich ausschließlich im gesamtgesellschaftlichen, polyphonen Raum: als komplexer Sinn-Zusammenhang, als Wechselspiel zwischen Text und Intertext, als permanenter Wi(e)derspruch einer metahermeneutischen Reflexionsbewegung. Mit einer kommunikationstheoretisch abgefederten Konsenssuche sollte das aber keinesfalls verwechselt werden: Fowles erzählt seine Entführungsgeschichte aus der Perspektive des Täters und des Opfers nicht um zu zeigen, dass sich ihre Weltbilder widersprechen und die Wahrheit in der Mitte liegt (dort liegt sie nie), sondern dass beide – sowohl der verklemmte Schmetterlingssammler als auch die gut erzogene Kunststudentin – jenseits der Wahrheit leben, weil sie den Einzelzellen ihrer ideologischen Erziehung nicht entkommen können. Es hilft nichts, sich mit 20 000 Büchern zu umstellen, ihren Inhalt auswendig zu lernen, über Kunst, Philosophie und Politik Bescheid zu wissen und stets, weil man auch das wie eine Höflichkeitsfloskel gelernt hat, das Wort für die Schwachen und Ohnmächtigen am Rand der Gesellschaft zu ergreifen, wenn die neoliberalen Wertvorstellungen – der Zwang zur Leistung, Ordnung und (Selbst)Beherrschung – so fundamental verinnerlicht sind, dass sich die verleugnete Gewalt just in jenen Räumen blind reproduziert, wo sie am wahnsinnigsten, weil verfehltesten ist: im Umgang mit dem Nächsten, in Freundschaft und Liebe, deren Möglichkeiten sie systematisch bis zur Selbstauslöschung zerstört. 20 000 Bücher unter dem Leben, dort ist die Einsamkeit am tiefsten: Fowles’ Roman parallelisiert das Verlies des Kleinbürgerkellers mit dem Gedankenkäfig einer humanistisch gebildeten Lebensart, um zu zeigen, dass auch das Leben des aufgeschlossensten Intellektuellen nur jene Emotionen passieren lässt, welche durch das feinmaschige Gitter seiner soziokulturellen Kadrierung passen. Auf dieser Ebene der zerebralen Gefangenschaft stirbt die Protagonistin dann auch ihren zweifachen Liebes-Kältetod: Wie mit Clegg, ihrem neurotischen Entführer, so ist es auch mit dem zwanzig Jahre älteren Mann, den sie schon seit langem begehrt hat, nie zum Geschlechtsakt gekommen.

Die Wirklichkeit hat Fowles’ Roman, was seine existenzialistische Dimension betrifft, aufs Äußerste radikalisiert. Nicht acht Wochen, achteinhalb Jahre dauerte in Strasshof dieses Drama der menschlichen Verfehlung auf engstem Raum, dieses Kammerspiel der Anziehung und Repulsion, der Unmöglichkeit, dem anderen zu entkommen, der Aussichtslosigkeit, dem anderen in der klaustrophobischen Nähe endlich nahe zu sein. Über 3000 Tage lang (Wer hat sie genau gezählt? Wer wird sie richtig wiedererzählen?) perpetuierte sich der Wahnsinn einer “geschlossenen Gesellschaft”, deren Szenen zu imaginieren selbst Denkern wie Jean-Paul Sartre oder Ingmar Bergman nicht leicht gefallen wäre angesichts einer zwischenmenschlichen Dynamik extremster Verdichtung (räumlich, ideologisch, sprachlich). Wohl selten dürfte Sartres berühmte Formel, die er aus dem dreieckigen Teufelskreis seines Theaterstücks gezogen hatte, so stimmig gewesen sein wie hier: die Hölle, das sind die anderen; die Mitmenschen, das ist die tödliche Bedrohung der eigenen Selbstverwirklichung. Wenn alle Türen verschlossen sind, gibt es kein Entkommen ohne Gewalt: eine Dead-Lock-Situation im buchstäblichen Sinn des Wortes. Die Liebe, nach dem Sakrament der Ehe als lebenslange Doppel-Haft begriffen, läuft auf den Tod hinaus, zumindest einer – lautet das hartherzige Gesetz ihrer Éducation sentimentale – muss sterben, damit der andere wieder frei sein kann. Ihre Logik ist eine des Todes: Zum Adoptivkind der Kirche und des Kapitalismus geworden, hat Liebe die Macht geerbt, das Leben zu mortifizieren. Mit dem symbolischen Tausch der Eheringe wandert der Signifikant des Todes, wechselt so erbarmungslos wie symmetrisch seinen Ort, um ein intersubjektives Netz letaler Treue zu spinnen: Mein Tod ist dein Tod, und dein Tod ist mein Tod, sagt die Liebe. Tristan und Isolde, Romeo und Julia – die exemplarischen Love-Stories der Weltliteratur enden mortal, müssen mortal enden, denn ein Romeo, der ohne Julia weiterleben könnte, wäre ein liebloser und als solcher unausdenkbar, ein Oxymoron. Der Wahrheitskern der romantischen Liebe heißt Gier, Gewalt, Herrschaft, ihr ungesehenes Heart of Darkness ist erfüllt von einem mörderischen Grauen, das unaufhörlich verdrängt, verleugnet, totgeschwiegen wird (nicht zufällig besetzt am Ende von Joseph Conrads Roman der Name der Geliebten den Ort der letzten Worte, die Kurtz für den imperialistischen Wahnsinn gefunden hat: Liebe→Horror – eine verräterische Metonymie als unbarmherzige Schlusspointe). Auch die Todes-Logik, die in der Konstellation Priklopil-Kampusch herrschte, lässt sich – gerade weil sie hier so perfekt symmetrisch in Erscheinung tritt – nur als Negativbild einer fundamentalen Liebesstruktur entwickeln. Im kleinen Haus in der Heinestraße wurde eine Symbiose gelebt, die jedes junge Ehepaar, das noch naiv den Alptraum der ewigen Liebe träumt, bewundern müsste: eine Lebensgemeinschaft als Todesgemeinschaft, eine Paarbeziehung als absoluter Kurzschluss zweier Menschenleben. Wer sich das erste Kampusch-Interview aufmerksam ansieht, der merkt, wie stark darin der Aspekt der prästabilisierten Mortalharmonie betont wird und wo der eigentliche Grund ihrer psychischen Zerrüttung zu verorten ist. Natascha Kampusch hatte nicht nur gewusst, dass sein Tod ihren Tod bedeuten würde (bei einem Autounfall oder Herzinfarkt Priklopils wäre sie wahrscheinlich in ihrem Verlies verhungert), ihr war genauso bewusst gewesen, dass er sich sein Leben nehmen würde, falls ihr die Flucht gelingen sollte, und dass somit auch ihr Tod (symbolisch gesehen, d. h. ihr endgültiges Verschwinden) seinen Tod bedeutete. Genau dieses Wissen, dieses Bewusstsein von der reziproken Todesklammer machte sie – wie sie selbst behauptete – zur “Mörderin”. Und wer diese copula mortis begriffen hat, der muss sich nicht mehr wundern, warum Natascha Kampusch so viele Fluchtchancen ungenutzt ließ. Es ist nicht leicht, seinen Vater/Bruder/Ehemann zu töten, egal wie sehr man diesen Vater/Bruder/Ehemann – zu dem Priklopil als einzige Bezugsperson in all den Jahren geworden war – auch hassen mag. Selbstverständlich trifft Kampusch keine Schuld, weder eine juridische noch eine moralische, niemand kann sie anklagen, dass sie als junges Mädchen entführt wurde, dass sie sich, um zu überleben, arrangiert hat, und dennoch ist die Schuld, sobald sich zwischenmenschliche Intimität als fensterlose Monade verkapselt, für den, der sich in ihr befindet, immer zweifellos. Wie die Ambivalenz der Gefühle aushalten, ohne sich zu spalten? Wie die Spaltung rechtfertigen, wenn doch alles in der wahren Liebe nach Einheit verlangt? Welches Bild sich machen vom anderen? Welches Bild von sich selbst? Und wie die Bilder zwischen odi et amo zusammenpassen? Es war Mord. – der Schlusssatz aus Ingeborg Bachmanns Malina könnte auch am Ende der Liebesgeschichte stehen, die Kampusch, will sie die Wahrheit erzählen, wird schreiben müssen. Nicht, weil sich hier ein Mann aus Verzweiflung über den Verlust seiner Frau umbrachte und jetzt die Frau eine Schuld zu beichten hätte, nicht weil es hier um einen realen Fall geht (auch wenn er wirklich passiert ist), sondern weil sich hier alles – wie in Bachmanns Roman – aus dem Imaginären speist, aus Bildern, die die Menschen töten, aus Bildern, die die Menschen über-leben. Das, was die Gewalt in der Liebe ausübt, ist die Ideologie, die sich ein Bild vom anderen macht und den anderen zwingt, sich nach diesem Bild zu formen, es zu erfüllen, damit die Menschen wie Puzzleteile für immer zueinander passen. Hier irrt Herr Keuner, wenn er über die Liebe spricht (und das ist seltsam, weil Brecht viel über die Liebe weiß): Es ist egal, ob der Entwurf dem Menschen oder der Mensch dem Entwurf ähnlich gemacht wird, denn schon das Entwerfen des anderen als Idealbild verunmöglicht die Liebe. Der Liebende, wenn er lieben will, entwirft kein Bild vom anderen, sondern verwirft alle Vor-Bilder, auch sein eigenes.

Führe mich nicht in Versuchung! Verführe mich nicht! – das heißt nichts anderes als: Zeige mir nicht, wer ich bin, zeige mir nicht, dass ich ein anderer bin! Die Angst, verführt zu werden, ist die Angst, das Bewusstsein zu verlieren, diese imaginäre Größe des Selbstbewusstseins, dieses narzisstische Lustobjekt, das jeder auch sein ich zu nennen pflegt. Aber das ich ist nicht. Das ich ist die Totenmaske des Subjekts, die Erstarrung einer unendlich offenen (Deutungs)Bewegung, deren kontextueller Dynamik sich das Subjekt unterwirft, um sich auf einen offenen Horizont hin entwerfen zu können. Liebe – falsch verstandene Liebe – will diesen Fluss zum Stillstand bringen, will das Subjekt arretieren, indem es eine einzige Interpretation fixiert: So will ich dich haben, so sollst du für immer bleiben – die erste Verführung, sagt die ewige Liebe, soll die letzte sein! Deshalb ist Liebe, die den anderen bloß als anderes ich (als berechenbare, kontrollierbare, besitzbare Größe) begreift, immer ein Verkennen des anderen. Sie macht den anderen, weil sie sein Werden als Subjekt negiert, zum Objekt, zur Ich-AG am Heiratsmarkt, mit der man bei Bedarf das eigene Humankapital fusioniert. Im besten Fall funktioniert “ewige” Liebe wie zwei Spiegel, die sich exakt gegenüberstehen: Ein Leben lang werden die Täuschungen hin- und hergeworfen, ohne dass sich das Bild verändert. Aber das setzt Glück und Idiotie voraus: das Glück, sein spiegelverkehrtes Ebenbild zu finden, den Stumpfsinn, sich selbst – das heißt der narzisstischen Ein-Bildung – lebenslang treu bleiben zu können. Die Sorge um sich selbst (post-stoisch verstanden als weltoffenes Werden) wird in der ideologischen Liebe durch eine Treue mit sich selbst ersetzt, deren konservativer Imperativ zu einem unglücklichen Bewusstsein führen muss, weil starre Selbst-Bilder, noch dazu wenn sie vom anderen verdoppelt werden, auf Dauer nicht lebbar sind ohne enorme Verdrängungsarbeit. Die kryptofaschistische Vereidigung auf die Treue mit sich selbst (die mit der sexuellen Treue Hand in Hand geht, da jeder erotische Fremd-Körper als Gefahr identifiziert wird, das ich zu entgrenzen, die imaginäre Intimdyade aufzusprengen) führt zu Schuldgefühlen, denn was die ausschließende Liebe ebenfalls mit einklammert, ist das schlechte Gewissen, nicht der zu sein, für den einen der andere hält.

“Warum ich? Warum ausgerechnet ich?”, fragte das zehnjährige Mädchen ihren Entführer, worauf ihr dieser zur Antwort gab: “Weil ich Dich wollte, nur Dich. Hätte ich Dich nicht beim ersten Versuch gekriegt, dann beim zweiten … Du konntest mir nicht entkommen.” Hier fällt der Vorhang. Der Rest ist Imagination. Natascha Kampusch konnte oder durfte bis jetzt noch nicht weitererzählen, wie sie mit dieser besitzergreifenden Gewalt umging, wie sie auf dieses aggressive Begehren reagierte, das in seiner Radikalität sicherlich auch unglaublich verführerisch auf sie gewirkt haben muss. Denn gibt es einen überzeugenderen Ausdruck des Haben-Wollens (mit dem Liebe in unserer Gesellschaft identifiziert wird) als diesen Akt der Entführung, der das Objekt des Begehrens unmittelbar ergreift und gleichzeitig das Begehren, weil es das Gesetz übertreten hat, als grenzenloses ausweist? Paradoxerweise legitimiert sich das Gefühl der romantischen Liebe als authentisches gerade durch seine Maßlosigkeit und Totalität, die alle irdischen Grenzen und Gesetze sprengt, sich als kleinster Teil (das Privatgefühl des Einzelnen) dem Ganzen (der Gesellschaft und ihrer Ordnung) widersetzt. Wer mich so rücksichtslos begehrt, denkt die Frau – und das Kind Kampusch wird es sich zwangsweise auch gedacht haben –, der muss mich wirklich lieben. Wer mich so ausschließlich begehrt, denkt die Frau, der sieht mein innerstes Geheimnis, der sieht etwas in mir, was alle anderen nicht sehen, nicht einmal ich. Deshalb ist jede Liebe, die dauert, eine Identifikation mit dem Imaginären – ja, ich bin die Prinzessin, die du in mir siehst! –, deshalb muss jede Liebesgeschichte eine Lügengeschichte werden, in den inquisitorischen Diskurs der Eifersucht und Enttäuschung führen, den Proust so erschöpfend beschrieben hat. Penetranz und Exklusion: Die Strategie der Ent-Führung deckt sich mit der Logik der Ver-Führung haargenau. Auch die Verwirklichung des romantischen Liebesideals ist eine tour de force der Desozialisierung, die das begehrte Objekt aus dem öffentlichen Verkehr zieht, um es in der Festung des Privatraums einzuschließen. Nicht mehr im Genuss des Objekts, sondern im räuberischen Zugriff, der alle anderen vom Genießen ausschließt, liegt der harte Kern einer durch den Eigentums-Begriff pervertierten lustfeindlichen Liebe. Wie Albertine, die geliebte Gefangene aus Prousts “Recherche”, oder Miranda, der entführte “Schmetterling” aus Fowles’ Roman, wird die Frau als trophy woman gehandelt, als singulärer Schatz, dessen Wert sich ausschließlich über den Nicht-Besitz der anderen definiert. In der Liebe darf keiner Genosse sein, darf es keinen Mit-Genießer geben (wohl ein weiterer Grund, warum der Realkommunismus scheiterte: Die Radikalität, die Familienstruktur aufzubrechen, um auch das Eigentum Frau abzuschaffen, wollte niemand wagen).

Das Absurdeste an der Grenzüberschreitung des romantischen Liebesideals liegt aber darin, dass sie, falls sie nicht sofort verunglückt und mit dem Tod endet, gerade ins Normalste, in die totale Enge des Einfamilienhauses zurückführt. Dieser paradoxalen Logik folgend schrieb Ephraim Kishon ein Stück, in dem Romeo und Julia als alterndes Ehepaar auftreten, das sich noch immer darüber streitet, ob es nun die Nachtigall oder die Lerche gewesen sei. Aus der Tragödie ist eine Komödie geworden, und im Fall Kampusch schließt sich der romantische Liebes-Zirkel von Ausschweifung und Eingrenzung ebenso perfekt, dass sich auch hier bei aller Tragik eine komische Note aufdrängt. Schon kurz nach Kampuschs Flucht kursierte deshalb ein Witz, der trotz oder gerade wegen seines sexistischen Gehalts den absurden Rückschlag vom Ungeheuren zum Alltäglichen präzise auf den Punkt bringt: “Woran erkennt man, dass Priklopil geisteskrank war? – Daran, dass er acht Jahre mit ein und derselben Frau zusammenlebte.” Wer hier mitlacht, lacht meistens über sich selbst. W. Priklopil hat mit der Entführung eines zehnjährigen Mädchens alles riskiert, ist zum meistgesuchten Verbrecher Österreichs geworden, nur um schließlich das gleiche biedere Leben wie sein Nachbar zu führen, der noch dazu – welch topologische Ironie der Geschichte – ein pensionierter Polizeibeamter war. Unübersehbar wollte er nichts anderes als die anderen: ein Kind, eine Frau, eine Familie, ein Haus, ein Heim, eine Festung – und er wollte es, wie alle anderen auch, nur für sich allein. Die Mittel, die Priklopil angewandt hat, mögen äußerst ungewöhnlich gewesen sein, die Vorstellungen aber, die er von der Liebe im Kopf hatte, waren es mit Sicherheit nicht. Seine Idee von Liebe ist der ubiquitäre Wahn-Sinn, den fast alle Männer und Frauen mit ihm teilen: Liebe als idée fixe, als Reduzierung des anderen auf ein Zwangsvorstellungsbild, das man begreifen, kontrollieren, besitzen kann. Mit seiner Tat hat Priklopil nur in absoluter Konsequenz exekutiert, was das paaranoide Gesellschaftsprogramm den Verliebten als common sense vorschreibt. “Du wirst meiner Liebe nicht entgehn …” sagt Oskar, der Fleischhacker aus Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald zu seiner Verlobten, und in diesem Satz (der am abgründigsten aus Helmut Qualtingers Mund klingt) konzentriert sich die ganze strukturelle Gewalt des kirchlich-kapitalistischen Banns, unter dem die intimsten Paarkonstellationen nach wie vor stehen. Der Traum, nicht der Schlaf des gesunden Menschenverstandes sind kranke Gefühle.

Die Entführung der Natascha Kampusch war eine Verführung mit anderen Mitteln: eine Verführung zur Liebe, eine durchaus gelungene Verführung, die am Ende aber an sich selbst scheiterte – an der Enge, der Verdichtung, der Ausweglosigkeit, die den Eingeschlossenen auf Dauer keinen Raum zum Leben lässt. “Es gibt Dinge, die an nichts anderem als an sich selbst scheitern”, lautet ein zentraler Satz aus Kafkas “Schloss”-Roman, und dieses Schloss ohne Schlüssel ist auch die Liebe in ihrer vergesellschafteten Form von Ehe und Familie, ist die literarische Allegorie eines gebannten Begehrens, aus dem für Kafka, dessen Verlobungskatastrophen in endlosen Briefen dokumentiert sind, jedes Unglücklichsein erwächst. Die Enge der kafkaschen Welt, die noch immer und immer mehr die unsere ist, lässt nur die Wahl zu, Kinder oder Gespenster großzuziehen, und beide sind, wie Kafka betont, sehr unheimliche Geschöpfe. Und Priklopil? Hat er sich für ein Kind, für die Familie entschieden? Nur scheinbar: In Wirklichkeit sind ihm seine Gespenster über den Kopf gewachsen.

Und trotzdem: Anstatt den Täter und seine Dämonen zu verteufeln, sollte eine Reflexion stattfinden, die im Außergewöhnlichen die Ungeheuerlichkeit des “Normalen” erkennt. Wo liegt der Unterschied zum Fall Priklopil, wenn sich Jean-Jacques Rousseau im Venedig des 18. Jahrhunderts ein elfjähriges Mädchen kauft, um es für sexuelle Zwecke großzuziehen, oder wenn in Indien, diesem Milliardenland der Zukunft, zehnjährige Mädchen mit Männern verheiratet werden, die sie noch nie gesehen haben, oder wenn sich – um nicht zu sehr in Zeit und Raum abzuschweifen – der europäische/nordamerikanische Mittelschichtsmann seine asiatische Ehefrau per Versandkatalog nach Hause bestellt, weil er in der heimischen Kampfzone der Sexualität keinen Erfolg mehr hat? Sind diese Kinder/Frauen nicht genauso Gefangene, sind sie nicht auch über Jahre, Jahrzehnte, vielleicht sogar ihr ganzes Leben lang eingesperrt in der Fremde, der Sprachlosigkeit, im double bind der erkauften Emotionen? Die Gewalt, die hier durch einen Kauf-Vertrag legalisiert wird (und die Ehe mit ihren Mitgiften und Erbrechten ist nichts anderes), fußt auf der gleichen Logik der Besitzergreifung, von der auch die Sehnsucht des Herrn Priklopil bestimmt war. Wer in Priklopil ein Ungeheuer sieht, der muss in fast allen Männern das Ungeheuer erkennen – und auch in allen Frauen. Dass diese pangesellschaftliche Kritik von einem pseudoemanzipierten Mainstream-Feminismus, der sich nur in der starren Dichotomie von weiblichem Opfer / männlichem Täter zu verdenken vermag, nicht akzeptiert werden wird, ist leicht vorhersehbar. Er wird Priklopils Tat als Paradigma einer ausschließlich männlichen Gewalt ausrufen und dabei blind verleugnen, wie leidenschaftlich sich gerade Frauen – selbst die der höchsten Bildungsschichten – mit einer massenkonformen Psycho-Logik identifizieren, die intime Paarkonstellationen fast automatisch, weil sie Liebe als gegenseitiges Besitzverhältnis bestimmt, in die gewaltfördernde Enge familiärer Strukturen presst. Eifersucht, Ausschluss, Permanenz – das sind die Befehlswörter des romantischen Codes, mit dem die Liebes-Maschine unserer Gesellschaft programmiert ist. Wie viele Frauen gibt es, die nicht die romantische Liebe mit ihrer lebenslänglichen Intimdyade als die einzig wahre erachten? Ihre Zahl dürfte gering sein. Männer und Frauen reproduzieren gemeinsam, in einem fatalen Kurzschluss, der Generationen umfasst, die Ideologie der romantischen Liebe, deren utopisches Ideal, versucht man es zu verwirklichen, das heißt zu leben, zwangsläufig in Gewalttätigkeit und Autodestruktion münden muss (die Statistiken sind hier eindeutig: Die meisten Morde und Gewaltverbrechen finden in der Familie statt). Priklopil war kein Sadist, sondern Romantiker. Wer in seinem Keller nach blutigen Orgien fahndet, der muss sie schon selbst erfinden (siehe Der Spiegel und seine S/M-Story). Statt des strengen Kammerspiels, das so viele in ihrer Fantasie inszenieren, gibt es im Strasshofer Einfamilienhaus nur den keuschen Käfig der Eifersucht zu bestaunen, in den sich die Liebenden gegenseitig einschließen. Priklopil gleicht mehr Marcel, dem großen Eifersüchtigen der Weltliteratur, als einem sadeschen Libertin. Er hat nichts zu tun mit einer exzessiven Promiskuität, hat nichts Gemeinsames mit dem Triebtäter aus Harris’ Das Schweigen der Lämmer, der die entführten Mädchen häutet, oder mit Hannibal Lecter, der das Fleisch und Hirn seiner Opfer isst. So wie der Eros die Sexualität sublimiert, den Biss in einen Kuss verwandelt, so ist auch die Gewalt, die Priklopil Natascha Kampusch angetan hat, von der Liebe entschärft worden: Der Romantiker sehnt sich noch immer nach dem anderen, will ihn mit Haut und Haar, aber sein Begehren tötet, verschlingt, inkorporiert ihn nicht mehr, sondern möchte ihn nur mehr einschließen, bewahren, ganz für sich haben, so nah und dauernd wie möglich. Priklopil war kein “Alpen-Dutroux”, kein Vergleich könnte verfehlter sein. Wäre er ein Sadist gewesen, er hätte Natascha Kampusch vergewaltigt, gequält, getötet, und sich bald sein nächstes Opfer geschnappt. Priklopil aber hatte Lust auf Normales: Er suchte eine kleine Freundin, die er sich zur Frau fürs Leben erziehen wollte. Sein Projekt ist zweifellos gescheitert, so wie fortwährend alle Projekte, die den Mann/die Frau fürs Leben suchen, am Scheitern sind, ohne dass auch nur ansatzweise die Ideologie, die dahintersteht, in Frage gestellt wird. Ihr Entführer, sagte Natascha Kampusch kurz nach ihrer Flucht, habe sie “auf Händen getragen und mit Füßen getreten”. Ein schöner Satz, ein rhetorisch geschliffener Satz, zu geschliffen, um überhört zu werden. Millionen, ja Milliarden Menschen könnten die gleiche Sentenz über ihren Vater oder ihre Mutter sagen, denn ist nicht jedes Kind ein Gefangener seiner Familie, ein vom Schicksal der Geburt Entführter, der plötzlich mit irgendwelchen Menschen zusammenleben muss, selbst wenn sie das Schlimmste mit ihm anstellen? Wie viele Fluchtmöglichkeiten gibt es denn für ein Kind, das täglich geschlagen, täglich missbraucht wird? Wie kann es sich wehren, wann kann es sich wehren, wenn es als Eigentum seiner Eltern geboren wird? Hier liegt mit Sicherheit der schrecklichste Aspekt eines ideologisch verformten Liebesbegriffs, der alle Menschen, die Liebe nach Vorschrift leben, in den exklusiven Privatraum familiärer Strukturen sperrt: dass die Gewalt, die das Scheitern an der Enge der Beziehungen mit sich bringt, unmittelbar – sei es psychisch oder physisch – an die Kinder weitergegeben wird. Der Volksmund weiß, wovon er spricht: Im Krieg und in der Liebe, sagt er, sei alles erlaubt. Familien sind Schlachtfelder.

Der Fall ist so symptomatisch wie seine mediale Rezeption: Schon kurz nach ihrer Flucht wurde Natascha Kampusch als Woman of the Year gehandelt, alle wollten, dass sie diese Auszeichnung bekommt, alle rechneten fest damit, doch dann gestand sie ihren Schi-Urlaub, und plötzlich hatte niemand mehr Interesse daran, sie als Frau des Jahres zu präsentieren. Der stark ambivalente Charakter der Täter-Opfer-Konstellation war unübersehbar geworden, zu offensichtlich für eine Gesellschaft, die gerne alles in Achsen des Guten und des Bösen einteilt. Dass der männliche Täter vielleicht gar kein so außergewöhnliches Ungeheuer war, sondern nur sehnsüchtig der kranken Psycho-Logik einer antisozialen Gesellschaftsideologie folgte, in die auch das weibliche Opfer zur Gänze und zu seiner Zufriedenheit eingebunden ist, will niemand hören, schon gar nicht auf einer großen Bühne und schon gar nicht in einer Zeit, in der die konservativen Werte wieder ins Zentrum der Politik rücken. Wenn der Präsident der USA am Beginn des 21. Jahrhunderts den Glauben an Gott, die sexuelle Enthaltsamkeit und das Funktionieren der Familie als die wichtigsten Werte der westlichen Gesellschaft postuliert, dann wiederholt er nur blind den Fundamentalismus, der ihm von seinem islamischen Feindbild in Perfektion vorgeführt wird. Die Achse der heiligen Familie verläuft mitten durch Bagdad und New York. True love can wait: worauf denn? Auf den Tod?

Auf den richtigen Partner? Auf den ersten und letzten Verführer? Auf das Haus, in das man sich gemeinsam einschließt? Auf die Enge, die darin herrscht? Auf die familiäre Gewalt, die niemand sieht, weil sie niemand sehen darf, weil sie niemanden von außerhalb etwas angeht? Wahre Liebe kann auch leiden – immer schön still, damit es der taube Nachbar nicht hört. Zu welcher Unmenschlichkeit es führen muss, wenn die Privatsphäre der Familie so absolut und heilig gesetzt wird, dass sie sich in einen quasi privatrechtlichen Raum verwandelt, zeigt die Alltagskultur eines islamischen Fundamentalismus. Die Frauen: eingesperrt, verschleiert, dem öffentlichen Blick, dem gesellschaftlichen Leben entzogen, von ihren Brüdern, Vätern, Ehemännern exekutiert, falls sie es wagen fremdzugehen. Die Männer: besessen von ihrer Eifersucht, eingesperrt im Codex der Familienehre, auch sie Gefangene, gefangen in einem theo-ökonomischen Diskurs der Intimität, der Liebesbeziehungen nur als Herrschafts- und Besitzverhältnis zulässt. Jede Verführung, die innerhalb dieser ideologischen Matrix stattfindet, ist eine Entführung. Jeder Liebesakt ein Akt der Gewalt. Priklopils Tat hat aufgezeigt – und hier liegt das enorme politische Potenzial dieses unerhörten Vor-Falls –, wie sehr auch der als romantisch etikettierte Liebesbegriff einer fundamentalistischen Logik folgt, wie sehr auch der abendländische Diskurs der Intimität die Sehnsucht nach der Exklusion alles Fremden, den Wunsch nach einem abgeschlossenen Raum kreiert, in dem der Einzelne allmächtig herrschen kann über Einzelne (und diese Herrschaft schließt die Gewalttätigkeit der Frau mit ein: Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter zählt mit Sicherheit – siehe Elfriede Jelinek – zu den grausamsten von allen). Priklopils Tat muss als Symptom gelesen werden, symptomatisch nicht im Sinne der Psychopathia sexualis, die ihn als krankhaften Sonderfall einer gesunden Norm behandelt, sondern symptomatisch für eine Politik der Gegenwart, deren neokonservative wie neoliberale Kräfte gerade jene antidemokratische Ideologie als Norm etablieren wollen, die den öffentlichen Raum sukzessive zerstört (wobei diese Zerstörung – gemäß der von Hannah Arendt aufgezeigten Dialektik – immer mit einer Verödung des privaten Bereichs Hand in Hand geht). Im Keller des Strasshofer Einfamilienhauses liegt die Wahrheit einer Politik, die längst aufgehört hat, sich um die gemeinsame Sache der Menschen zu kümmern. Ihr Traum vom kleinen Glück, das ihre Gesetzgeber verordnen, weil sie sich selbst kein größeres mehr vorstellen können, ist von Wolfgang Priklopil bloß in allen Konsequenzen zu Ende gedacht, mit aller Härte seiner wahnsinnigen Logik exekutiert worden.

Das Buch, das Natascha Kampusch zu schreiben hätte, müsste diese politische Dimension in sich aufnehmen, müsste die komplexe Ambivalenz zwischen Opfer und Täter nachzeichnen, um die strukturelle und psychologische Gewalt zu dekonstruieren, auf deren Grund sich das Geschlechterverhältnis in seiner Logik der Unmöglichkeit abspielt. Es könnte dann, wollte es das alles wirklich leisten, kein Sachbuch mehr sein, es müsste Literatur werden. Ein Buch, das sich nicht mehr an die Fakten hält, weil sich Literatur – gerade um der Wahrheit willen – noch nie darum kümmern konnte, was tatsächlich passiert ist. Die Masse, mit der die großen Verlagshäuser kalkulieren, wartet natürlich auf ein Sachbuch, auf die buchhalterische Aufzählung der Fakten, auf das banale Nichts, in dem sich alles erschöpft. Und auch das, worauf sich das öffentliche Interesse letztendlich fokussiert, der kleinste gemeinsame Nenner der Neugier, ist leicht zu erraten. Es ist die alte Frage: Haben sie oder haben sie nicht? Kam es zur Kopulation? Und wenn ja: wann, wo, wie, wie oft? Haben sie nachher ferngesehen? Die Masse will wissen, wie es war, sie will Tatsachen, nichts als Tatsachen, selbst die, die nicht stimmen. Warum aber etwas überhaupt geschehen kann, woran – um mit Arno Schmidt und Jacques Lacan zu sprechen – sich jeder Phall entscheidet, interessiert sie nicht. Der Abgrund in der Wahrheit, der Riss in der Kausalitätskette muss zwischen den Zeilen verschlossen bleiben, kein unauflösbarer Widerspruch darf darin erscheinen. Vielleicht hatten Priklopil und Kampusch niemals Sex (wie Rousseau und sein gekauftes Mädchen, für das er zu starke väterliche Gefühle entwickelte), vielleicht hat er sie gleich am Anfang vergewaltigt, vielleicht erst später, vielleicht hatten sie aber auch ein ganz normales Sexualleben. Doch ist es nicht völlig gleichgültig, was stimmt? Ist diese Frage nach dem Ge- oder Misslingen des sexuellen Aktes nicht vollkommen belanglos für das Entscheidende, für die Psycho-Logik einer permanenten Verfehlung, die sich niemals, und schon gar nicht in der Vereinigung der Körper, aufheben lässt? Egal, was darüber erzählt, was alles an intimen Details aufgezählt werden wird: Niemals ist es zwischen Priklopil und Kampusch zu einem Geschlechtsverhältnis gekommen, weil es – im Sinne Lacans – niemals, unter keinen Umständen, ein solches geben kann zwischen Mann und Frau. Das Verhältnis der Geschlechter findet ausschließlich im symbolisch-imaginären Raum, auf der imaginären Oberfläche der symbolischen Topologie seine Statt, unbeeindruckt von allem Traumatischen, das sich im Keller des Realen abspielen mag. Selbst die größte Nähe kann die Spaltung, das Loch, den Mangel, der den einen vom anderen trennt, nicht schließen, weil das Selbst immer schon von sich selbst getrennt ist, gespalten durch den anderen, eingeschlossen in seinem Ausschluss. Aber, so muss man hier sofort fragen, ist diese unendliche Differenz – abgesehen von der Scheidung, die sie unaufhörlich in jede Einheit einfugt – das wirklich Entscheidende? Ist die Frage nach der Unmöglichkeit des Geschlechtsverhältnisses nicht ebenso nebensächlich wie die Frage nach dem Geschlechtsakt? Das eigentlich Traumatisch-Reale ist und bleibt die Gewalt des In-Besitz-Nehmens, die Gewalt einer entführenden Verführung, die in einer Gesellschaft, deren herrschende Ideologie Eigentum als den alles konstituierenden Wert setzt, derart omnipräsent und “moralisch” abgesichert erscheint, dass sie überhaupt nicht mehr als traumatisch wahrgenommen wird. “Gesellschaft” selbst gerinnt nach und nach zu einer Anhäufung von aufklärungsfeindlichen, öffentlichkeitsscheuen Besitz-Zellen, in der jeder Einzelne – unwillig, die dicke Luft aller zu atmen – so rasch wie möglich sein vorgefertigtes Eigenheim-Verlies errichtet, um inmitten der unheimlichen Heimat seinen freudlosen Familienfrieden zu leben. Dass es im privaten Garagenloch (über dem nicht zufällig das Auto, dieser andere große Zivilisationsfetisch, seinen Platz hat) genauso muffig riecht, weil ihre Ventilatoren bloß ungefiltert die Luft von draußen hineinblasen, kümmert weder den Besitzer noch seine Nachbarn: kleine Morde unter Freunden wiegen weniger. Die neoliberal-patriarchale Gesellschaft ist ein Aggregat aus atomisierten Eigenheimbewusstseinen, die Idee der romantischen Liebe ihre moralistische Pseudolegitimation und ästhetizistische Verklärung. Nicht die poststrukturalistisch verortete Spalte im Subjekt, nicht die abstrakte différance bildet das unverdauliche Trauma (wenn “eh alle gespalten” sind, dann sind wir halt “eh alle gespalten”; wen kümmert’s! Es lebt sich ganz gut über dem philosophisch abgesicherten Kellerloch), sondern die Gewalt des In-Besitz-Nehmens, die gerade in der Scheinheiligkeit der romantischen Liebe als irreduzibel, als unhinterfragbares Naturrecht auftritt. Eine Kritik der reinen Liebe, will sie ernsthaft auf eine Destruktion des Garagen-Verlieses im Un-Grund des patriarchalisch-romantischen Herzens zielen, muss konsequenterweise unzeitgemäß werden, das heißt in die klassischen Denkbewegungen einer selbst-kritischen Vernunft zurückführen. Das ist das Unheimliche: dass eine aktuelle Kritik den altverkannten Geist der Aufklärung wiederholen muss, ja, dass sie noch einmal ganz von vorne anzufangen hat, als wäre noch niemals die Familie und ihr theologisches Konstrukt des romantischen Liebesideals hinterfragt worden, als hätte es die “dunkle Seite der Aufklärung” (Sade, Nietzsche, Freud), als hätte es Marx, Adorno und die Frankfurter Schule, als hätte es Wilhelm Reich, Marcuse und die sexuelle Revolution der Sechziger-, Siebzigerjahre nie gegeben. Das ist das Peinliche: dass die Ideologie des Garagenlochs in den letzten 25 Jahren wieder so allmächtig geworden ist, dass sich ihre Vertreter überhaupt nicht mehr ins Licht der Kritik stellen müssen, sich überhaupt nicht mehr rechtfertigen, sondern jeden kritischen Geist blind als weltfremd und amoralisch denunzieren, wohl wissend, dass sich die Macht der Masse auf ihrer Seite befindet, dass der öffentliche Diskurs jeden Zweifel an den grundlegenden Werten der Gesellschaft verschluckt oder in seiner Ernsthaftigkeit lächerlich macht. Dabei sind die Ängste und Motivationen der neokonservativen Selbstherrlichkeit leicht nachzuvollziehen: Ausbruch der Aids-Pandemie Anfang der Achtzigerjahre, Zusammenbruch der Sowjetunion, Erstarken eines islamischen Fundamentalismus in den Neunzigern, der Terrorakt des 11. September 2001, eingeklammert von den imperialistischen Öl-Kriegen der USA. Folge all dessen war nicht nur eine paranoide Überwachungs- und Bunkerpolitik, sondern auch eine extreme Aufwertung überkommener Werte, eine Revitalisierung jener letzten Signifikate, die eine okzidentale Aufklärungsphilosophie schon mehrmals entzaubert hatte: Gott, das Gute, das Schöne, das Wahre, der eine Glaube daran. Und jetzt? Jetzt haben wir einen deutschen Papst, der nach wie vor Kondome verteufelt, aber von Jugendmassen bejubelt wird, als wäre er ein Popstar. Jetzt haben wir Religion als neues Paradigma, nicht nur im politischen, sondern auch im geistes- und humanwissenschaftlichen Diskurs. Die Frage ist nur: Welche Philosophie soll diesem Anachronismus des Aktuellen noch gerecht werden?

Kein Wunder, dass sich Frau Kampusch in ihrer neuen Freiheit gar nicht so wohl fühlt, und auf die Frage, wie sie denn Freiheit definiere, antwortet, Freiheit sei für sie die Möglichkeit, zu essen, was man will. Das klingt infantil, offenbart aber den Konsumcharakter einer verarmenden Wohlstandsgesellschaft, die das Maß der Freiheit allein nach Kaufkraft bemisst. Unsere modernen Wohnungen, schrieb Heiner Müller, seien nichts anderes als “Fickzellen mit Fernheizung, […] den Bildschirm vorm Schädel, den Kleinwagen vor der Tür”. Wer Natascha Kampusch zu ihrer Befreiung aus dem Verlies des Strasshofer Einfamilienhauses gratuliert, heißt sie gleichzeitig willkommen in jenem stickigen “Freiluftgefängnis”, in dem wir alle – bewusst oder unbewusst – permanent auf der Flucht, auf der Suche nach einem Ausweg sind. Dieser Blick mag zynisch sein, aber auf keinen Fall ist er so ungerecht wie der Blick, der nicht sehen will oder sehen kann, wie sehr hier das Verbrechen die Ideale der Gesellschaft wiederholt, wie sehr das Symptom die herrschenden Strukturen als durch und durch gewaltsame entlarvt. Und noch mehr als die Geschichte selbst offenbart ihre Rezeption die katastrophalen Auswirkungen einer unheimlichen, das heißt einer sich ihrer Gewalt unbewussten Liebe: Wenn die mediale Öffentlichkeit Natascha Kampusch in ihrer traumatischen Liebes-Ambivalenz vollkommen im Stich lässt und ihr von Anfang an keine Chance gibt, ihre Entführungsgeschichte als Liebesgeschichte zu thematisieren, dann wird sie zum zweiten Mal Opfer, dann wiederholt sich an ihr der ideologische Missbrauch einer patriarchalisch-neofundamentalistischen Gesellschaft, die sich grundsätzlich jedes Wissen und jede Aufklärung über die Liebes-Ökonomie ihres Unbewussten, über die semiologische Matrix der selbstzerstörerischen Garagenlochintimität versagt.

Umso notweniger ist es, noch einmal auf die Literatur und die Ethik ihrer Lektüre zurückzukommen, in der sich gerade dort, wo jede zeit- und unzeitgemäße Philosophie scheitert, ein neuer Horizont der Kritik öffnet. Zuletzt also die Frage: Wie diesen radikalen Liebesroman des 21. Jahrhunderts schreiben, der nicht nur die Unmöglichkeit der Vereinigung, sondern auch die Gewalt jeder romantischen Liebesordnung berücksichtigt? Und vor allem: Wer soll ihn schreiben? Natascha Kampusch wird es nicht tun, kann es nicht tun, schon deshalb nicht, weil die Buchindustrie und ihre Geister schon alles vorgeschrieben haben. Egal was Natascha Kampusch schreiben wird, es wird immer schon von anderen geschrieben worden sein. Der andere schreibt immer schneller, und am schnellsten schreibt er dann, wenn man ihm zu schreiben verbietet. Die einzige Entscheidung, die bleibt, ist die, welche Vor-Schrift man wählt, welche Vor-Schrift man abschreiben will, in welche Kopie man seine kleinen Fehler setzt, diese unbewussten Devianzen, die den fremden Text plötzlich zum eigenen machen. Das Sachbuch der Liebe gibt es nicht, genauso wenig wie es den Liebesroman gibt. Er existiert immer nur als Exposé. Erzählen heißt sich verzählen: Wer das Vorgeschriebene noch einmal schreiben möchte, hat sich schon der Sprache und ihrem Versprechen verschrieben. Vielleicht – um ein wenig hinzudeuten auf das Unausdeutbare – müsste man diese Liebesgeschichte in einem rein phantasmatischen Raum spielen lassen, in der Topo-Logie einer strukturalen Psychoanalyse, einem Zwischen-Raum, der alles öffnet, der keine Identifizierung, keine endgültige Unterscheidung der Personen gestattet, der das Ich zum anderen, den anderen zum Ich macht, ein Ort des Hauses, des Kellers und des Lochs, ein dreifach gefaltetes Spatium, ein F(ort), an dem sich alles im Kopf abspult und sich gleichzeitig, ohne gleichzeitig zu sein, wirklich als Ereignis enteignet. Man müsste diesen neuen Liebesroman in der Tradition von Bataille und Klossowski, von Gombrowicz’ imaginärer Pornographia schreiben, oder in der Tradition einer Literatur der Junggesellenmaschine, zu der Kafkas Urteil oder Thomas Braschs Mädchenmörder Brunke zählen, vielleicht gehört er aber auch ein wenig in Gefolgschaft von Vladimir Nabokov verfasst, als eine dekonstruktive Lolita des 21. Jahrhunderts: Na-ta-scha – die Zungenspitze macht drei Sprünge …, oder ihn vielleicht gleich von Anfang an als Film, als imaginäre Spule einer Bild-Verfolgung schreiben, nicht etwa, weil Hollywood den Stoff will (für dieses Wollen ist es viel zu klein), sondern weil das Medium Film die idealen Voraussetzungen bietet, um die komplexe Psycho-Logik eines unendlichen Begehrens zu vermitteln (man denke an die Vielschichtigkeit und Tiefenschärfe von Filmen wie Alain Resnais’ Letztes Jahr in Marienbad oder David Lynchs Lost Highway).

Aber hat es noch Sinn, diese ästhetischen Spekulationen zu spinnen? Wahrscheinlich leben wir in einer postpolitischen Zeit, die nur mehr nach dem Unterhaltungswert eines Ereignisses fragt. Wahrscheinlich sind auch Kunst und Literatur postpolitisch geworden, Teil einer allumfassenden Entertainment-Industrie, die das kritische Element ihrer Produkte so stylish verpackt, dass es am Ende alle genießen können. Wer heute als Konsument danach fragt, outet sich als Anachronist, ja outet sich als Outlaw, als einer, der die herrschenden (Markt)Gesetze nicht kennt oder nicht beachten will: als wäre das element of critique zum element of crime geworden. Und trotzdem: Selbst wenn es kaum noch eine Nachfrage nach Kunst in diesem kritisch-aufklärerischen Sinn gibt, bleibt die Idee der Kunst unangetastet, wird ihr humanistischer Anspruch unaufhörlich weiterexistieren und neue Werke hervorrufen, die diesem Anspruch entsprechen, Kunstwerke, die dadurch, dass sie ihrer Idee gerecht werden auch dem Leben Gerechtigkeit widerfahren lassen. Niemand weiß, wie Natascha Kampusch ihr Buch schreiben wird, ob sie überhaupt den Mut haben wird, eine Liebesgeschichte zu erzählen, die alle Liebesgeschichten in Frage stellt; aber angesichts der massenmedialen Berichterstattung, die sich weigert, in Priklopils Tat die konsequent exekutierte Logik einer neokonservativen, patriarchalisch-fundamentalistischen Ideologie zu erkennen, dürfte ihr Schreiben die einzige Möglichkeit sein, das enorme politische Potenzial des Falls doch noch breitenwirksam zu aktivieren. Die Notwendigkeit zur Literatur, von der hier ununterbrochen gesprochen wurde, offenbart sich am Ende als die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Bewusstseinsveränderung in Sachen Intimität: Statt einer Liebesideologie brauchen wir eine Lebenskunst der Erotik.

Published 27 March 2007
Original in German
First published by Wespennest 145 (2006)

Contributed by Wespennest © Rainer Just / Wespennest / Eurozine

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