Gebogene und geborgte Wahrheiten

Der Mythos von der österreichischen Neutralität

1.

Es gibt jenseits der aktuellen Debatte über Falschnachrichten ein starkes Bedürfnis, zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Lüge und Wahrheit peinlich zu unterscheiden. Es scheint ein ethisches Gebot zu sein, das mit der Aufforderung an uns selbst einhergeht, aufrichtig zu sein. Dabei kommt schon in den Zehn Geboten der Bibel das Gegenüber ins Spiel: Du sollst nicht falsches Zeugnis wider deinen Nächsten ablegen, heißt es in einer älteren Übersetzung der Bibel. Lügen bedeutet Missachtung des anderen und ist ein soziales Delikt.1

Aber wie, wenn man Fakt und Fiktion nicht so leicht unterscheiden kann? Und wie steht es mit der Wahrheit alles Literarischen und Künstlerischen, das von Fiktion und Spiel lebt und sein Publikum in eine andere, zweiteelt entführt? Oder was passiert, wenn man dem «falschen Zeugnis» selbst Glauben schenkt? Könnte es nicht sein, dass die gebogenen Wahrheiten durch die Wiederholung von fiktiven Aussagen, die auf Wunscherfüllungen, Rechtfertigungen oder bequemen Entlastungen beruhen, zu höheren Wahrheiten mutieren? Schenken Putin und seine postkommunistische Kamarilla nicht am Ende ihren eigenen Fiktionen, wonach sich die Russische Föderation gegen einen nazistischen Angreifer zu Wehr setzen muss, Glauben, eben weil dieses moderne politische Märchen ihr Selbstbild schont und rettet, das Bild des blutigen Tyrannen beiseiteschiebt?

Fakt und Fiktion lassen sich nicht so feinsäuberlich trennen, wie es unser Wahrheitsbedürfnis unmissverständlich einfordert. Das Faktum, das sich bekanntlich vom lateinischen Verb facere ableitet, besagt ja, dass es gemacht ist, und zwar auf doppelte Weise, als eine Tat, die geschehen ist, und als ein Faktum, das in etwas Gemachtem, ja Fiktivem, auftaucht, nämlich in einer Erzählung, die eine Abfolge von Ereignissen, eine literarische Komposition, darstellt. Was geschehen ist, wird zu einer Geschichte. Die Fakten liegen nicht auf der Hand wie das Essen auf dem Teller, sondern sind stets vermittelt durch narrative Matrices, die immer auch eine Interpretation des Geschehens, des Faktischen, ein Moment des Kompositorischen und Konstruktiven und damit der Fiktion enthält. Hayden White spricht in diesem Zusammenhang vom historischen Text als «literarischem Kunstwerk».2

Wahrscheinlich lassen sich Mythen, die alten wie die neuen, dadurch charakterisieren, dass sie die Trennung zwischen Fakt und Fiktion nicht kennen beziehungsweise unterlaufen. Überdies streiten wir ja keineswegs nur über Faktisches, sondern auch immerzu über dessen Bedeutung und Bewertung. Verschwörungstheorien mögen blutige Unwahrheiten darstellen, aber sie beruhen auf einer ganz bestimmten Interpretation dieser Welt, der zufolge ein kleiner Kreis böser Schadensstifter zumindest zeitweilig diese Welt beherrscht – nachzulesen in dem prekärsten Werk der Bibel, der Offenbarung des Johannes.

Unsere moderne Unterscheidung von wahr und falsch, von Fakt und Fiktion beruht auf zwei dramatischen kulturellen Errungenschaften, der Wissenschaft und ihrem kategorischen Imperativ, Empirie und Eindeutigkeit, sowie der fotografischen Revolution, die das Geschehen «schwarz auf weiß» festhält. Die Tatsache der Fälschung, Manipulation und Auswahl fotografischen Materials lange vor der digitalen Wende unserer modernen Kultur widerlegt diese These nicht, sondern bestätigt sie sogar. Der Fälscher täuscht eine Realität vor, weil er weiß, dass fotografische Bilder wie eindeutige Spuren von etwas, was geschehen sein muss, funktionieren.

In der modernen Fälschung überlebt der Mythos als pseudofaktische Realität, gerinnt, wie Roland Barthes in seinen Mythologies geschrieben hat, zur zweiten Natur.3 Der Mythos überlebt auch jenseits des Religiösen, weil er, wie Hans Blumenberg meint, Bedeutsamkeit generiert und uns vor dem «Absolutismus» einer stummen, aber übermächtigen Wirklichkeit bewahrt.4 Er ist weit über das Faktische hinaus «Sinngebung des Sinnlosen», wie das Theodor Lessing genannt hat5, en miniature aber auch im Großformat, als mediale Vergrößerung in Starkult, Sport und Spiel, als übergroßes narratives Panorama, ohne das die Erfindung der jeweiligen Nation, die Nationsbildung, undenkbar wäre.6 Die Nation ist die nachhaltigste, einschneidendste und wirkungsmächtigste Fiktion, die deutlich macht, dass der Mythos auch in einer aufgeklärten, szientistischen Welt unhintergehbar bleibt und dass die Erzählung des kulturellen Fortschritts möglicherweise selbst ein Mythologem ist, das einer kritischen Prüfung nicht standhält. Mythos und Märchen überleben ihren Tod nicht zuletzt in der Text-Gestalt systematisch gefälschter Realität. Dabei erweisen sie sich bestürzenderweise als durchaus aufklärungsresistent, wie ein provisorischer und kursorischer Rückblick auf die Covid-Pandemie zeigt.

Das hat mit der Beschaffenheit menschlicher Erinnerungen und darüber hinaus mit allen Formen von Rationalisierungen zu tun, die Sigmund Freud und sein Kreis systematisch aufgedeckt haben. Der Mythos schützt (sich) vor Widerspruch. Als Form höherer ‹Wahrheit› bedeutet er, um eine Formulierung Kierkegaards zu adaptieren, einen Sprung in den Glauben und damit Entrückung der Realität und Suspendierung kritischer Nachfrage. Das macht ihn extrem funktional für ein Zauberwort unserer Tage: Identität.7 Nicht umsonst hat Ernest Gellner den Nationalismus als Industriereligion der Moderne bezeichnet.8

Wir alle kennen das bewegte und bewegende Bild des österreichischen Außenministers Leopold Figl, der am Balkon des Belvedere mit dem Staatsvertrag in der Hand die Worte ausruft «Österreich ist frei». Wie der Historiker Ernst Bruckmüller 2005, aus Anlass der fünfzigsten Wiederkehr des Ereignisses, glaubwürdig dargelegt hat, ist dieses Bild streng genommen eine Fälschung, hat doch dieses Ereignis so nie stattgefunden und dient gleichsam einer ‹höheren› symbolischen Wahrheit, eben einem Mythos.9 Man könnte so weit gehen und behaupten, dass in diesem fotografischen Bild bereits die nachfolgende Mythisierung antizipiert ist. Das Bild stiftet einen narrativen Zusammenhang: Der Staatsmann auf der Bühne vor seinem Volk.

Die österreichische Nationsbildung ist deshalb so spannend wie exemplarisch, weil diese Nation historisch betrachtet so nie geplant war, sondern vielmehr als geschichtlicher ‹Un-Fall› einzustufen ist. Wie auch in anderen Prozessen der Nationsbildung und der kollektiven Imagination und Fiktion sind im österreichischen Fall mythische Überlagerungen zu konstatieren: So bilden der habsburgische Mythos, der Mythos von Staatsvertrag und Neutralität und Zwentendorf ein narratives Ganzes. Ungeachtet der Heterogenität dieser nationalen Erzählungen und ihrer politischen Kontexte lassen sie sich zu einem Bild zusammenfügen, das beinahe alle österreichischen Imagines enthält: versöhnlicher Rückblick, Europa, Kultur, Sicherheit und Frieden, grünes Musterland. Weltösterreich, wie es bei Robert Musil im Hinblick auf die Habsburger Monarchie einmal heißt, diesmal im Kleinformat. Wenn nur alle neutral und neutralisiert wären und keine bösen Atomkraftwerke betrieben, sondern nur russisches Gas, dann wäre die Welt in Ordnung. So ließe sich die Utopie des kleinen Weltösterreichs mitsamt dem UNO-Gebäude jenseits der Donau beschreiben, einem Monument nicht zuletzt fingierter Größe.

Der habsburgische Mythos einschließlich der Kultur der Wiener Moderne lässt sich als post-histoire, als Ende der Geschichte und als Versprechen für die Zukunft eines möglichst neutralen Europa erzählen und begreifen. Das kleine Österreich ist nach seiner langen bedeutsamen Herrschaftsgeschichte seiner vertrackten Historie entronnen. Dazu passt ganz wunderbar die Neutralisierung aller gefährlichen Gegensätze und damit der Geschichte. Wenigstens in Österreich wird Kants Traum vom ewigen Weltfrieden in Gestalt der Zweig’schen Welt der Sicherheit Wirklichkeit. Das kleine Österreich, die kulturelle Großmacht, hält mit dem Abschied von der Atomkraft, einem Symbol der Unsicherheit, zugleich ein Zukunftsgeschenk an seine Nachbarn parat. So antizipiert Österreich die Zukunft Europas und womöglich der ganzen Welt. Pech ist nur, dass die anderen das nicht bemerkt haben oder nicht ganz ernst nehmen wollen.

Wie verfestigt der Mythos von der sicheren immerwährenden Neutralität im österreichischen Kontext ist, lässt sich an der heutigen Situation studieren. Während andere bündnisfreie Staaten sich von ihrer Neutralität im Gefolge eines Angriffskrieges einer einstmaligen Supermacht gegen ein faktisch neutrales Land verabschieden, wird in Österreich durchaus einmütig die Neutralität als hohes Gut beschworen. Das ist auch ein Akt höheren Schwindels, denn so ernst nehmen wir unsere Neutralität ja nur im Bedarfsfall.

Nicht wenige Friedensforscher, die Neutralität mit Frieden verwechseln, meinen, die Ukraine müsste sich nur für neutral erklären und um des Friedens willen die von Russland annektierten Gebiete abtreten, und schon wäre das Problem gelöst, natürlich und vor allem für das neutrale Österreich selbst. Ihre vermeintliche Wirksamkeit demonstriert ein Nachfolger Figls, der im Gleichschritt mit mächtigeren internationalen Spielern Pendeldiplomatie vorführt, wie sie sich für ein neutrales Land geziemt. Nicht zuletzt deshalb hat er die Diskussion über die Neutralität von oben herab für beendet erklärt, wohl wissend, dass er dabei, von den NEOS abgesehen, nicht mit Widerspruch rechnen muss, sondern mit steigenden Sympathiewerten rechnen kann. Die österreichische Neutralität scheint in der Tat in den Stein eines Wahlvolks gemeißelt zu sein, das entgegen aller Aufklärungseuphorie getäuscht sein will.

2.

Wer sich fachfremd in die Geschichte des Staatsvertrages und der österreichischen Neutralität einliest, der wird mit einer Reihe von erstaunlichen Befunden konfrontiert, gibt es doch nur wenige aktuelle Studien, die sich mit den Fakten und Ereignissen dieser Zeit befassen beziehungsweise diese in einem Wurf neu interpretieren und kontextualisieren. Für die Historiografie erscheint das Kapitel eigentlich abgeschlossen, sodass die überaus penible Untersuchung von Gerald Stourzh und Wolfgang Mueller (1975, 6., veränderte Auflage 2020) und die Publikationen von Felix Ermacora aus den Jahren 1957 und 1975 noch immer als die verlässlichsten kanonischen Werke gelten können.10 Lediglich die Adaption der Neutralität im Gefolge des EU-Beitritts hat seinerzeit zu einer – kurzen – Diskussion über die Zukunft der Neutralität geführt. Ob der Angriffskrieg Russlands gegen die bündnisfreie Ukraine zu einer Neubewertung der Conditio Austriaca führen wird, bleibt abzuwarten.

Das zweite Erstaunen betrifft die Tatsache, dass «der Kampf um den Staatsvertrag» (Stourzh/Mueller) ganze zehn Jahre gedauert hat, nämlich von 1945–1955. So gab es bereits 1947 einen Entwurf des Staatsvertrages, von dem Teile in das juristische Werk von 1955 Eingang gefunden haben. Das hat ganz offenkundig sowohl externe, die Weltpolitik betreffende Ursachen als auch interne, die mit der Lage und der Geschichte Österreichs zu tun haben. Stalins Bündnis mit Hitler und sein Kampf gegen diesen in Union mit den Westalliierten hat dazu geführt, dass Russland seinen Machtbereich bis weit in das Zentrum Europas vorgeschoben hat. Die einstigen Verbündeten stehen sich schon sehr bald nach der Überwältigung Hitlers als Kontrahenten gegenüber, hier der Warschauer Pakt, dort die NATO. Österreich ist der einzige Teil der vormaligen habsburgischen Landmasse, der niemals Teil des sowjetischen Imperiums beziehungsweise Satellitensystems war – durch den Bruch zwischen Tito und Stalin hat sich das dann ein Stück weit ausdifferenziert, löste sich Jugoslawien von Moskau ab, ohne dass es zu einer gewaltsamen Intervention der Sowjetunion gekommen wäre. Nichtsdestotrotz blieb die Hälfte Europas erstmals in der Geschichte russisch besetztes Gebiet.

Die nicht zuletzt bei Linken, zuweilen auch bei Rechten beliebte anti-amerikanische Erzählung von der aggressiven transatlantischen Allianz gehört wie vieles andere, das die Neutralität betrifft, in das Reich des Mythischen – man kann das an der zurückhaltenden Art und Weise, wie die USA im Fall der Verhandlungen über die Zukunft Österreichs agiert haben, sehr gut studieren. Die Idee der Äquivalenz in der Distanz zu Sowjetunion und USA, erweist sich bei genauerer Betrachtung als anschlussfähig an den Mythos von der immerwährenden Neutralität, sie ist wie alles Mythische tendenziell kontrafaktisch.

Zu den externen Gründen für die nicht enden wollenden Verhandlungen über die Staatlichkeit Österreichs gehört auch das faktische Ende der Siegerallianz des Zweiten Weltkriegs und die Verlagerung des Kriegsgeschehens nach Fernost, wo sich die USA und die Sowjetunion schon unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Stellvertreterkriegen gegenüberstehen (China, Korea). Das führt zu einer Veränderung der Gruppendynamik der an den Verhandlungen Beteiligten. Gewiss, es gibt, wie der Vergleich des Entwurfs von 1947 und des unterschriebenen Vertragstexts von 1955 zeigt, einen gemeinsamen Rahmen, einen Minimalkonsens, den Österreich einfach zur Kenntnis zu nehmen hat: Dazu gehören das Anschlussverbot an Deutschland und die Untersagung enger Kooperation mit dem großen Nachbarn, eine rigorose Einschränkung von Truppenstärke und militärischer Ausrüstung, die Gewährung bestimmter Minderheitenrechte gegenüber den Slowenen und Kroaten (anstelle von Gebietsabtretungen) oder Kompensationen für die Sowjetunion (DDSG, Erdöl in Niederösterreich). Der eigentliche Kontrahent des neuen Österreichs sind dabei nicht so sehr die westlichen Alliierten, sondern die Sowjetunion, deren neue Alliierte, von ihr abhängige Satellitenstaaten, unmittelbar an Österreich grenzen.

Die westlichen Alliierten, die auf jedwede Eigentumsrechte und Zahlungen verzichten, nehmen eine Doppelrolle ein. Zum einen stehen sie dem besetzten Österreich als Siegerallianz gegenüber, zum anderen aber unterstützen sie das besetzte Land in den zähen Verhandlungen mit der russischen Seite. Zuweilen mahnen sie Österreich, der Sowjetunion nicht zu weit entgegenzukommen. Dabei hat der Staatsstreich in der Tschechoslowakei (1948) eine erhebliche Rolle gespielt, geriet doch damit ein einstig westlicher Verbündeter in den Machtbereich Stalins. Wie ambivalent die auf Druck Moskaus verfasste, dem Staatsvertrag zeitlich nachfolgende Neutralitätserklärung 1955 von westlicher Seite gesehen wurde, zeigt die Reaktion des französischen Generals Béthouart, bis 1950 Hochkommissar und Oberkommandeur der französischen Truppen in Österreich und später Mitglied des Rats der Republik: «Die Neutralisierung Österreichs bricht das Gleichgewicht der Kräfte zugunsten der Sowjets an diesem neuralgischen Punkte Europas. Sie stellt einen unbestreitbaren strategischen Erfolg für die sowjetische Diplomatie dar.»11

Für die schier unendliche Zeit bis zur Ratifizierung des Staatsvertrags gab es auch noch andere Gründe. Solange kein Einvernehmen mit Moskau erzielt wurde, gewährte die Präsenz von Soldaten der westlichen Alliierten nicht zuletzt Schutz vor einem möglichen Coup der russischen Seite, zumal die KPÖ, Mitglied der nationalen Einheitsregierung, in geheimen Treffen mit den sowjetischen Genossen eine Abtrennung des östlichen Teils des Landes und Integration in den sowjetischen Machtbereich vorschlugen – natürlich unter ihrer Führung, was Moskau indes ablehnte.12

Der zweite interne Grund hat damit zu tun, dass die Alliierten die Friedensverträge mit Deutschland und seinen Verbündeten vor dem Staatsvertrag mit Österreich abschließen wollten. Zu einem Friedensvertrag mit Deutschland ist es bekanntlich auf Grund der Teilung des Landes nicht gekommen, wohl aber mit Hitlers Bundesgenossen Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Italien. In diesen Friedensverträgen wurden auch territoriale Fragen (Südtirol, Triest) entschieden, die als bindend für den späteren Staatsvertrag mit Österreich waren. Die Historiografen sind sich heute weithin darin einig, dass es die Unerfahrenheit und das Ungeschick der österreichischen Delegation unter Karl Gruber gewesen ist, die zum Verbleib Südtirols bei Italien geführt haben.13

3.

Für einen Autor, der normalerweise literarische Texte auf Mehrdeutigkeit hin liest, ist es spannend zu bemerken, dass auch juristische Texte nicht frei von absichtsvollen Widersprüchen und Zweideutigkeiten sind. Das beginnt schon mit dem Streit um den Namen des Vertrags, der die ambivalente Lage Österreichs und die sich daraus ergebenden narrativen Elemente widerspiegelt. Dieser Vertrag konnte nicht Friedensvertrag heißen, weil das an Deutschland angeschlossene Österreich sich mit den siegreichen Alliierten nicht in einem Krieg befunden hatte. Darüber hinaus wird in allen Dokumenten der Alliierten seit 1943 unermüdlich betont, dass Österreich ein Opfer der Aggression Hitlers gewesen sei und seine Staatlichkeit zurückerlangen sollte. Dem entspricht die neutrale Bezeichnung «Staatsvertrag», auf die vor allem die österreichische Delegation bestanden hat.

Im Widerspruch zu dieser entlastenden Erzählung steht freilich die Tatsache, dass Österreich wie Deutschland von den Siegern des Zweiten Weltkriegs einer Besatzung unterworfen und nicht als gleichberechtigter Partner behandelt wurde, was sich im Fortlauf des Verhandlungsmarathons ändern sollte. Der Vertrag enthält viele Verbote, zum Beispiel jenes einer Vereinigung und engen bilateralen Kooperation mit Deutschland, oder Auflagen wie Minderheitenrechte, die Anerkennung von Verträgen (etwa jenem mit Italien, der den rechtlichen Verzicht auf Südtirol manifestiert) und eingeforderte Maßnahmen wie die Bekämpfung des Nationalsozialismus. Dass viele dieser Forderungen moralisch gerechtfertigt waren, ändert nichts an dieser Asymmetrie, schließlich hätte das souveräne Österreich alle diese Punkte als souverän gewordener Staat aus eigenem Impetus selbst fixieren können. Auch die wirtschaftlichen Forderungen wie der Abbau von Erdöl in Niederösterreich oder die Übertragung von Eigentumsrechten der DDSG (Erste Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft) an die Sowjetunionerweist auf ein Narrativ, das mit Niederlage und Entschädigung zu tun hat.

Ein elementarer Widerspruch besteht auch zwischen den militärischen Bestimmungen des Staatsvertrags, der auf eine weitgehende Entmilitarisierung des Landes hinausläuft, und der nachfolgenden, aber schon zuvor mit Moskau vereinbarten Erklärung einer Neutralität, ohne die die Sowjetunion offenkundig nicht bereit war, den Staatsvertrag zu unterzeichnen und ihre Truppen aus dem Osten des besetzten Landes abzuziehen. Denn mit der Ausrufung der Neutralität kommt die Frage ins Spiel, ob diese von dem Land, das sie ausspricht, auch militärisch gewährleistet werden kann. Dies gilt umso mehr, als alle Versuche der österreichischen Delegation, vor allem von den Westmächten eine Garantie für den territorialen Bestand des wiedererstandenen Staates zu bekommen, fehlschlugen, sei es aus Mangel an geopolitischen Interessen wie im Falle der USA, sei es wie im Falle Großbritanniens wegen negativer historischer Erfahrungen, zwang doch die Garantieerklärung für Polen die britische Regierung, nach dem Überfall Hitlers auf Polen in den Krieg gegen Hitler einzutreten, den sie im Falle Österreichs und der Tschechoslowakei vermieden hatten. Im Schicksal der schutzlos Putin ausgelieferten Ukraine wird ein sich wiederholender Mechanismus westlicher Politik sichtbar.

4.

Neutralität bedeutet nicht die Abwesenheit des Krieges, sondern setzt dessen Möglichkeit, wenn nicht Realität voraus. Neutral erklärt man sich oft unfreiwillig, weil man sich angesichts eines militärischen Konflikts in einer Gefahrensituation befindet. Von welcher Seite die Gefahr droht, ist im konkreten Fall evident. So wurde die Neutralität auf Druck Moskaus verkündet, in der Hoffnung, diese gegen jene Macht wenden zu können, die diese Neutralität einforderte. Auch hier ist ein Unterschied zwischen Staatsvertrag und Neutralitätsvertrag zu konstatieren. Basiert nämlich der Staatsvertrag auf dem Gedanken, Österreich einen Zusammenschluss mit Deutschland zu verhindern, so setzt die Neutralität die bipolare Situation zwischen dem Westen und der kommunistischen Welt bereits voraus. Die Neutralität sollte aus sowjetischer Perspektive verhindern, dass Österreich sich politisch und militärisch in den Westen integriert, umgekehrt würde sie – so das österreichische Kalkül – vor der realen Bedrohung durch die Sowjetunion schützen. Dass dies nicht, eben durch Garantieerklärungen der Westmächte, gelang, wurde nach und nach durch die Schaffung eines Sicherheitsregelwerks (KSZE/OSZE) und durch die Tatsache, dass Wien zum Standort der UNO avancierte, nur unzureichend kompensiert.

Die Vorstellung, dass Ausrufung und Anerkennung militärischer Neutralität automatisch zu einem Status von Sicherheit führt, verdankt sich einem mythischen Verständnis von Neutralität. Neutralität – auch das zeigt der österreichische Fall ganz klar – ist nicht das Ergebnis freien souveränen Handelns, sondern ist – das gilt übrigens auch für die malträtierte, unfreiwillig bündnisfreie Ukraine unserer Tage – eine Reaktionsform. Neutralität ist das Ergebnis von Krieg und Konflikt und setzt voraus, dass sich zwei Länder über den politischen Status eines dritten einig sind. Zwar erkannten die westlichen Alliierten – eher ungern – die militärische Neutralität des Landes an, aber sie dachten nicht daran, zusammen mit der Sowjetunion eine territoriale Garantie für den wiedererstandenen Staat abzugeben. So stand das heimlich von den USA bescheiden aufgerüstete Land ohne externe Sicherheitsgarantie und ohne eine Armee da, die die proklamierte Neutralität militärisch absichern konnte. Die Tatsache, dass das neutrale Österreich zum Beispiel die militärische Besetzung Ungarns 1956 und Prags 1968 schadlos überstanden hat, ist kein zwingender Beweis für das Abschreckungspotenzial der österreichischen Neutralität. Hätte – etwa im Falle eines militärischen Widerstands der überfallenen Länder – der Konflikt auf Österreich übergegriffen, wäre es vermutlich nicht dazu gekommen, dass die westlichen Staaten das Land militärisch verteidigt hätten. Die Herrschaftslogik der Sowjetunion, einer «kalten», das heißt statischen Gesellschaft im Sinne Claude Levi-Strauss’, war indes konservativ und defensiv, auf den Erhalt des nach 1945 errungenen Besitzstandes in der Mitte und im Osten Europas bedacht; demgegenüber ist die Russische Föderation von heute revisionistisch, strebt sie doch danach, die alte imperiale Herrlichkeit, die 1991 zu Grabe getragen wurde, wiedererstehen zu lassen. Ihr Revisionismus wird nur gebremst durch ihre ökonomische und bis zu einem gewissen Grad auch militärische Schwäche.

Neutralität ist kein Wert und bedeutet nicht, wie der Mythos suggeriert, moralische Unschuld. Es gibt dafür genügend Beispiele. So lässt sich das zeitweilige Entgegenkommen der Schweiz und Schwedens gegenüber Hitler durchaus moralisch problematisieren, was ja auch geschehen ist. Überhaupt schließt die militärische Neutralität aus, sich einem Aggressor in der Nachbarschaft entgegenzustellen. Man duckt sich und lässt ihn gewähren, in der Hoffnung, dass einem selbst nichts passiert. Die diplomatische Logik schließt jedwede Parteinahme aus, damit aber auch die Bereitschaft, die eigenen Werte einer zivilen Demokratie im Ausnahmefall auch mit Waffengewalt zu verteidigen.

Neutralität ist nicht zwangsläufig pazifistisch. Sie kann im Falle großer Mächte, die sich zeitweilig neutral verhalten (so wie gegenwärtig Indien oder China), politischem und strategischem Kalkül entspringen, um auf Nummer sicher zu gehen und abzuwarten, wer den Krieg gewinnt. Aber auch für kleine Mächte ist die Proklamation einer immerwährenden Neutralität irreführend, weil sie ihren ohnehin geringen Spielraum unnötig beschränkt. Im Gegensatz zur Neutralität von Großmächten geraten kleine politische Entitäten nur allzu leicht unter die Räder der militärisch, ökonomisch und politisch Mächtigeren. Der fragile Staat Belgien, selbst Produkt einer inneren Neutralisierung, hat das im 20. Jahrhundert zweimal erleben müssen. Oder um ein Beispiel aus der Antike, dem Peloponnesischen Krieg zu wählen: Auch den Bewohnern der Insel Melos hat es nicht geholfen, dass sie nacheinander Konzessionen an die beiden kriegsführenden Parteien Sparta und Athen gemacht haben. Am Ende wurde das neutrale Melos in Schutt und Asche gelegt, seine Bevölkerung, wie Thukydides berichtet, getötet und versklavt. In einer zugespitzten Situation kann Unentschiedenheit gefährlich, ja tödlich sein.14

Narrativ gesprochen ist der österreichische Mythos von der bewährten Neutralität eine typische significatio post festum. In Wirklichkeit war sie geopolitisch und juristisch betrachtet äußerst schwach. Politiker wie Leopold Figl, Adolf Schärf und Bruno Kreisky haben in einer schwierigen Situation das Bestmögliche für ihr Land herausgeschlagen. Das ist ein beträchtliches Verdienst. Aber dass die ungeschützte Neutralität Österreichs, dieses Erbe des Krieges, als ein role model, als Tor zu einem immerwährenden Frieden missverstanden worden ist und wird, war schon damals absurd. Es ist auch keinem ost- oder mitteleuropäischen Land, das sich von der sowjetischen Hegemonie befreit hat, je in den Sinn gekommen, sich für neutral zu erklären, schon deshalb nicht, weil die Voraussetzungen für Neutralität, zwei stabile Blöcke in einem statischen Zustand, abhandengekommen sind.

Zu den unterschlagenen Fakten gehört auch der Preis für die mit der Sowjetunion ausgehandelte Neutralität: die periphere Lage in der westlichen Welt. Lange Zeit konnten Politik und Wirtschaft des Landes nicht von dem neuen transnationalen europäischen Raum, EWG und später EU, profitieren. Österreich blieb im Vergleich mit dem Westen und Norden Europas ein vergleichsweise rückständiges Land, das erst durch den Zusammenbruch des kommunistischen Systems und die Aufnahme in die Europäische Union zu vergleichbaren Ländern aufschließen konnte. Erst durch den Beitritt zur Europäischen Union ist das neutrale Österreich aufgrund seiner militärischen Kooperation mit europäischen NATO-Ländern innerhalb der EU erstmals in den Genuss einer, wenn auch im Vergleich mit der NATO schwächeren, Beistandspflicht gekommen. Pointiert formuliert garantiert nicht die Neutralität, sondern die NATO den Frieden in Europa, allerdings nur jenen Ländern, die Teil dieser Strukturen sind.

Die Geschichte ist nicht zu Ende. Der Mythos, der diesen Befund nahelegte, beginnt sich angesichts all der globalen Bedrohungen aufzulösen. Er wird nur mehr durch die Macht der Gewohnheit und den frommen Wunsch nach Selbsttäuschung aufrechterhalten. Mit der Implosion des Mythos tauchen neue Optionen und Orientierungen auf: Selbstverteidigung und Kooperation, Teilnahme am Aufbau einer europäischen Streitmacht. Und sehr viel wahrscheinlicher: ein Beitritt zur NATO, weil nur dieses Bündnis die Stärke besitzt, den Frieden zu bewahren: dadurch, dass man für den Ernstfall gerüstet ist. Österreich wird von der Zeitenwende nicht verschont, aber es hat die Tradition, an lange geglaubten Mythen festzuhalten. Es ist, wie schon Musil wusste, eine retardierende politische Entität.15

Die programmatische Periode der Postmoderne mit ihrer Tendenz zu globaler Neutralisierung auch des Krieges selbst ist indes vorüber. Der Mythos der Neutralität, dieses narrative Gewebe aus Illusionen, frommen Wünschen und einem Hauch von Provinzialismus, erweist sich als ein Hindernis und führt dazu, sich als Trittbrettfahrer neuer politisch-militärischer Konstellationen wieder an die vermeintlich sichere Peripherie zu begeben. Neutralität ist auch keine politische Platzreservierung für eine Schiedsrichter- oder Moderatorenrolle. Wer einen Konflikt moderiert, wird von den Interessen Mächtigerer entschieden.

Seit dem Überfall auf die Ukraine ist die europäische Sicherheitsordnung, die auch ein Projekt der wechselseitigen Neutralisierung implizierte, implodiert. Wir treten in eine Phase ein, in der sich die demokratische und menschenrechtliche Welt den Herausforderungen autoritärer Regime gegenübersieht, die Konflikte im Krisenfall nicht friedlich aushandeln, die Friedfertigkeit für ein Zeichen militärischer Schwäche halten und die den Primat der Machtpolitik in sich tragen. Für die westliche Welt wird es zu einer schicksalshaften Herausforderung, wie sie mit Mächten umgehen soll, die ihre pazifistischen Werte verachten und sie als Schwäche deuten. Das postkommunistische China beobachtet den Krieg in der Ukraine genau. Sein Blick ist zugleich auf Taiwan gerichtet. Das Zeitalter der Neutralisierung, wie das Carl Schmitt genannt hat, ist vorbei.16

Das muss, gegen Schmitt gewandt, nicht automatisch bedeuten, dass autoritäre, nationalistische und populistische Mächte und Kräfte am Ende obsiegen müssen. Insofern ist die Niederlage Hitlers, Mussolinis und all der anderen mit ihnen verbündeten politischen Gewaltanbeter lehrreich und ermutigend. Damals waren es zwei Demokratien, die das zustande gebracht haben, die USA und England.

Dietmar Hübner: Einführung in die philosophische Ethik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014; Jürgen Czogalla: «Dietmar Hübner: Das Lügenverbot bei Kant». In: philosophisch-ethische-rezensionen.de 2016, heruntergeladen am 10.6. 2022, 10:41.

Hayden White: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Aus dem Amerikanischen von Brigitte Brinkmann-Siepmann und Thomas Siepmann. Stuttgart: Klett-Cotta 1986, S. 101–122.

Roland Barthes: Die Mythen des Alltags. Vollständige Ausgabe. Aus dem Französischen von Horst Brühmann. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 251–316.

Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979, S. 68–126.

Theodor Lessing: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München: Matthes & Seitz 1983.

Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Englischen von Christoph Münz und Benedikt Burkhard. 2., erweiterte Ausgabe. Frankfurt/Main: Campus 1996.

Wolfgang Müller-Funk: Die Kunst des Zweifelns. Einträge zur Philosophie in ungefügen Zeiten. Wien: Sonderzahl 2021, S. 134–157.

Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne (1983). Aus dem Englischen von Meino Büning. Berlin: Rotbuch 1991.

Ernst Bruckmüller: «Niemand rief ‹Österreich ist frei› vom Balkon», derStandard.at 08.02.2005, heruntergeladen am 10.6.2022, 11:04.

Gerald Stourzh/Wolfgang Mueller: Der Kampf um den Staatsvertrag 1945–1955. Ost-West-Besetzung, Staatsvertrag und Neutralität Österreichs. 6., gründlich überarbeitete und erweiterte Neuauflage. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag 2020; Felix Ermacora: Österreichischer Staatsvertrag und Neutralität. Frankfurt/Main: Alfred Metzner Verlag 1957; Ders.: 20 Jahre österreichische Neutralität. Frankfurt/Main: Alfred Metzner Verlag 1975.

Zit. nach: Gerald Stourzh/Wolfgang Mueller: Der Kampf um den Staatsvertrag 1945–1955, S. 537.

Dies., S. 151f.

Dies., S. 75–80.

Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges. Übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterung versehen von Georg Peter Landmann. München: dtv 1991, S. 431–440.

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek: Rowohlt 1978, S. 32.

Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (1963). Berlin: Duncker & Humblot 1991, S. 79–95.

Published 19 July 2023
Original in German
First published by Wespennest 183 (2022)

Contributed by Wespennest © Wolfgang Müller-Funk / Wespennest

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Read in: EN / DE

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