Frankreich wählt seinen Monarchen
Am 22. April steht die erste Runde der Präsidentschaftswahlen an. Die
Direktwahl eines Staatsoberhaupts, das noch dazu solche Machtfülle
besitzt, ist in Europa die große Ausnahme. Doch in Frankreich nimmt
inzwischen die Kritik an den Institutionen der V. Republik zu. In der
gültigen Verfassung seien vor allem die Mängel des präsidialen wie des
parlamentarischen Systems vereint.
Ob man ihn als “republikanischen Monarchen” sieht oder als “Wächter
institutioneller Stabilität”, der französische Staatspräsident ist der
“Eckstein” im institutionellen Gefüge der französischen Verfassung vom 4.
Oktober 1958. Die Krise der IV. Republik vor 50 Jahren hatte eine
leidenschaftliche Debatte darüber ausgelöst, welche Institutionen für
Frankreich am geeignetsten wären. Am Ende setzte sich die Konzeption von
General de Gaulle durch, die das Produkt einer bestimmten Sicht der
jüngeren französischen Geschichte war.
Zwei Dinge machten einen tiefen Eindruck auf General de Gaulle: die
Machtlosigkeit des Staatspräsidenten Albert Lebrun angesichts der
Ereignisse von 1940, die mit dem Blitzsieg der Nazi-Wehrmacht endete, und
der rasche Zusammenbruch der Institutionen der Dritten Republik. Das
erklärt de Gaulles Bestreben, die Kontinuität des Staats gegen die
Unwägbarkeiten des politischen Lebens und internationalen Geschehens
abzusichern. Deshalb legte er Wert darauf, dass der Staatspräsident als
eine Art nationaler “Schiedsrichter” eine längere Amtszeit hat als die
Abgeordneten (nicht fünf, sondern sieben Jahre) und mit eigenen
Machtbefugnissen ausgestattet ist. Unter diesen Prämissen wurde General
de Gaulle erster Präsident der V. Republik.
Die Verfassung der Fünften Republik enthält einerseits Schlüsselelemente
des parlamentarischen Systems – so ist die Regierung gegenüber dem
Parlament verantwortlich -, macht aber andererseits auch Anleihen beim
Präsidialsystem. In den Kompetenzbereich des Élysée-Chefs fällt unter
anderem die Abhaltung von Referenden, die Ernennung des
Ministerpräsidenten und die Auflösung des Parlaments. Dass der
Staatspräsident auch für die Außenpolitik zuständig ist, ergab sich
hingegen erst im Lauf der Zeit aus der Praxis. Allerdings fällt nach
Artikel 16 im Fall einer schweren Krise alle öffentlichen Gewalt dem
Staatspräsidenten zu – eine Prärogative, von der de Gaulle 1961 beim
Putsch der französischen Generäle in Algier Gebrauch machte.
Eine Verfassung mit caesaristischen Zügen
In den Debatten von 1958 übten François Mitterrand, Pierre Mendès-France
und die Kommunistische Partei Frankreichs heftige Kritik an der neuen
Verfassung, die sie als “caesaristisch” geißelten. Ihr Widerstand
richtete sich vor allem gegen die Notstandsbestimmungen in Artikel 16,
gegen die Unterordnung der Volksvertretung unter den Staatspräsidenten,
die sich vor allem darin zeigt, dass das Staatsoberhaupt nicht der
parlamentarischen Kontrolle unterliegt, seinerseits aber das Parlament
auflösen kann. Dieses Ungleichgewicht führte lange Zeit später zum
Phänomen der Kohabitation: Der Staatschef kann auch dann im Amt bleiben,
wenn der Wähler seiner Partei eine Abfuhr erteilt hat.
Nach der Verfassung von 1958 wurde der Präsident noch von einem
Wahlmännerkollegium (collège électoral) gewählt. Erst 1962 machte de
Gaulle den damals heftig umstrittenen Vorschlag, den Staatspräsidenten
durch allgemeine und unmittelbare Wahlen zu legitimieren. In den Augen de
Gaulles erforderten die starken politischen Befugnisse des
Staatspräsidenten eine Wahl durch alle stimmberechtigten Bürgerinnen und
Bürger. Auch hielt er es für unabdingbar, dass derjenige, der im
Kriegsfall über den Einsatz von Atomwaffen zu entscheiden hat, der Nation
direkt verantwortlich ist.
Die neue Regelung wurde nach dem misslungenen Anschlag auf de Gaulle am
22. August 1962 beschlossen – unter Umgehung der Volksvertreter im
Parlament. Beim anschließenden Referendum vom 6. November sprachen sich
62 Prozent der Abstimmungsberechtigten für die Verfassungsänderung aus.
Das Vorgehen des Staatschefs wurde durch das Wahlvolk abgesegnet, auch
wenn einige Parlamentarier de Gaulle beschuldigten, mit diesem
Volksentscheid die Verfassung verletzt und “bonapartistisch” gehandelt zu
haben.
Die Institutionen der V. Republik sind das Ergebnis zum einen der
politischen Umstände (insbesondere der Algerienkrise), zum anderen des
Denkens von General de Gaulle, dessen Frankreichvision transzendentale
Züge trug. Sie gehören aber auch zur einer langen, bereits 1791
begonnenen Suche nach der idealen Regierungsform, die sich um die Frage
drehte: Wie lassen sich Volksvertretung und staatliche Stabilität
miteinander vereinbaren? Darauf kann es keine einfache Antwort geben.
Seit der Französischen Revolution hat Frankreich 14 Verfassungen erlebt.
Im Vergleich zu den USA, wo noch immer die erste Verfassung gilt, zeigt
sich hier eine große Diskontinuität, wobei man freilich nicht vergessen
darf, dass die US-Verfassung seit ihrer Verabschiedung zahlreiche
Erweiterungen und Änderungen (durch zum Teil sehr wichtige Amendments)
erfahren hat.
Alle Nachfolger de Gaulles, François Mitterrand eingeschlossen, haben
mit der neuen Regierungsform ihren Frieden gemacht. Und der
sozialistische Ministerpräsident Lionel Jospin hat 2002 die
institutionelle Vorrangstellung des Staatschefs sogar noch gestärkt,
indem er die Reihenfolge der Wahlen änderte und die
Präsidentschaftswahlen vor den Parlamentswahlen stattfinden ließ.
Die normative Kraft der Mythen
Heute hat die Verfassung der V. Republik eine so starke normative Kraft
entwickelt, dass sie einige unbezweifelte Mythen begründet. Diese
“offiziellen” Auffassungen werden meist mit dem einleitenden Attribut
“bekanntlich” präsentiert. “Bekanntlich” sind zum Beispiel “die
Franzosen” voll dafür, dass der Präsident durch Volksentscheid gewählt
wird. Daran könnte man aber Zweifel haben, wenn man die Wahlbeteiligung
betrachtet. So ist etwa der Anteil der Stimmenthaltungen beim ersten
Wahlgang der Präsidentschaftswahlen zwischen 1965 und 2002 von 15,3 auf
28,4 Prozent angestiegen. Und beim Referendum vom 24. September 2000, bei
dem es um die Reduzierung der Amtszeit des Staatspräsidenten von sieben
auf fünf Jahre ging, schafften es nur etwa 30 Prozent der
Stimmberechtigten ins Wahllokal.
Gleichermaßen “bekanntlich” stellen die Direktwahl und die umfassenden
Amtsbefugnisse des Präsidenten den Ausweg aus der Sackgasse früherer
parlamentarischer Regierungssysteme dar. Dabei ist es eher so, dass
seither die demokratischen Verfahren in der Praxis entwertet wurden und
dass die Wahlen eher eine Ergebenheitsgeste als eine freie Entscheidung
darstellen. Diese Entwicklung geht großenteils auf die Verfassung von
1958 zurück, vor allem aber auf das Referendum von 1962, mit dem 62
Prozent der Abstimmenden (46 Prozent der Stimmberechtigten) die
allgemeine und unmittelbare Wahl des Staatspräsidenten absegneten.1
Fragt man die Wähler, ob sie es richtig finden, dass der Staatspräsident
durch allgemeine und unmittelbare Wahlen bestimmt wird, so wird
vorausgesetzt, dass sie die Machtfülle des Staatspräsidenten befürworten
und sich, weil sie ihn wählen dürfen, auch mit den weniger demokratischen
Entwicklungen abfinden, die dessen starke Stellung mit sich bringt. Seit
den Anfängen der V. Republik versuchte man mittels aufwändiger
Propaganda, diese politische Sichtweise in den Köpfen zu verankern. Es
galt dabei das parlamentarische Systeme zu diskreditieren und die
Vorstellung vom Staatspräsidenten als einem “Schiedsrichter” durchsetzen,
der, nachdem er vom Volk legitimiert ist, dem Parlament keine
Rechenschaft mehr schuldig ist.
Diese Darstellung setzt auch, ohne es auszusprechen, einen Schlussstrich
unter den zwei Jahrhunderte währenden Konflikt zwischen Republikanern
und Monarchisten. Damit wird eine fast hundertjährige Geschichte des
Parlamentarismus ausradiert und als negative Tradition hingestellt.
Dieses Projekt wird seit 1958 so intensiv betrieben, dass sogar
Mitglieder der linken Partei Parti Radical de Gauche (PRG), die
eigentlich in der Tradition des Parlamentarismus steht, sich diese
falsche historische Darstellung mittlerweile zu eigen machen. So schrieb
etwa der Jurist Roger-Gérard Schwartzenberg, Abgeordneter der PRG und
früher Forschungsminister in der Regierung Jospin: “Mit Ausnahme der
kurzen revolutionären Periode zwischen Varennes und dem 18. Brumaire
(1791-1799) institutionalisierten unsere Verfassungen stets ein mächtiges
Staatsoberhaupt – ob als König, als Ersten Konsul, als Kaiser oder als
Präsidenten der Republik.”2
Nichts ist von der Wahrheit weiter entfernt. Schon 1789 engagierten sich
die einen Politiker für die konstitutionelle Monarchie – wie etwa
Mirabeau (1749-1791), Wortführer des Dritten Standes und 1791 Präsident
der Nationalversammlung – und andere dagegen, wie der Journalist Camille
Desmoulins (1760-1794), einer der Initiatoren des Sturms auf die
Bastille. Der Kampf für oder gegen die Republik war in dieser
Konfrontation bereits vorgezeichnet.
Die Volkserhebung vom 10. August 1792 setzte mit dem Sturz der Monarchie
zugleich das allgemeine Wahlrecht und das Prinzip der Volkssouveränität
durch. Fast 100 Jahre lang wurde dieser Sieg der demokratischen
Prinzipien wieder in Frage gestellt, zunächst vom Kaiserreich, dann von
der monarchistischen Restauration und schließlich durch die Zweite
Republik (1848-1851). In der Tat war die Verfassung von 1848 das Werk der
“Ordnungspartei”, die nach der Niederschlagung der Arbeiterbewegung
durch General Louis Cavaignac über das Land herrschte. Die Gegner der
neuen Verfassung waren außerstande, Widerstand zu leisten, und so wurde
der Präsident der Republik in allgemeinen und unmittelbaren Wahlen
gewählt. Der Sieger hieß Louis-Napoléon Bonaparte.
Dasselbe Szenario hätte sich nach dem Zusammenbruch des Zweiten
Kaiserreichs und dem Massaker an der Pariser Commune im Mai 1871 beinahe
wiederholt. Aufgrund des unklaren Kräfteverhältnisses zwischen
Republikanern und Monarchisten blieb die Entscheidung für eine der beiden
Staatsformen einige Zeit in der Schwebe. Erst unter dem Präsidenten
Patrice de Mac-Mahon und gegen dessen politische Überzeugung schwang das
Pendel wieder in Richtung der Republikaner zurück. 1875 wurden drei
Gesetze erlassen, die die verfassungsmäßige Grundlage der Dritten
Republik bildeten und weitgehend unverändert bis 1940 in Kraft blieben:
Die Legislative stützte sich auf ein Zweikammersystem, den Senat und die
Abgeordnetenkammer, deren Mitglieder über das allgemeine Wahlrecht
ermittelt wurden, das allerdings nur den Männern vorbehalten war und erst
am 21. Oktober 1945 durch das Frauenstimmrecht ergänzt wurde. Als
Mac-Mahon wiederholt versuchte, ein autoritäres Regime durchzusetzen,
musste er seinen Abschied nehmen. Bei den Senatswahlen vom 5. Januar 1879
entschied sich, wie schon zwei Jahre zuvor bei den Parlamentswahlen,
eine Mehrheit der Wähler für die Republik.
Damit herrschte in Frankreich bis 1958 ein politisches System, das –
abgesehen vom Vichy-Regime (1940-1944) – der Legislative, das heißt dem
Parlament, den Vorrang einräumte. Dieses System überstand mehrere schwere
Krisen, die die extreme Rechte zum Sturz der parlamentarischen Ordnung
zu nutzen suchte – etwa in der Korruptionsaffäre um die
Panama-Gesellschaft von 1889, in der Dreyfus-Affäre (1894-1906) oder
durch den Putschversuch rechtsgerichteter Gruppen vom 6. Februar 1934.
Die Totengräber der parlamentarischen Legitimität
Kapituliert hat dieser Parlamentarismus dann aber erst vor dem
Naziregime, zuerst in München 1938 und dann in Vichy 1940. Doch nach der
Befreiung erstand er von Neuem. Auch die Vierte Republik (1945-1958) war
ein parlamentarisches System, das freilich von den Anhängern des
Präsidialregimes, allen voran General de Gaulle, ständig attackiert
wurde.
De Gaulle, der das parlamentarische System mit “Parteienregime” und
Parlamentarismus mit Staatsschwäche gleichsetzte, instrumentalisierte die
Ablehnung der Kolonialkriege, in denen die IV. Republik versackte. Dabei
vergaß er geflissentlich seine Mitverantwortung für diese Kriege, denn
die blutige Repression in Sétif am 8. Mai 1945, die sich im Rückblick als
Vorspiel zum Algerienkrieg darstellt, ging auf das Konto der
provisorischen Regierung unter de Gaulle. Und die machte am 16. August
1945 nicht General Philippe Leclerc, sondern Admiral Thierry d’Argenlieu
zum Generalgouverneur für Indochina. Der Admiral gab den Befehl zur
Bombardierung Haiphongs und wurde damit zum Hauptverantwortlichen für den
Beginn des Indochinakriegs.
Nun wäre es ungerecht, der IV. Republik die Gesamtverantwortung für die
Kolonialkriege zuzuschreiben, die schließlich zu ihrem Scheitern führten.
Aber man muss ihr doch vorwerfen, dass sie diese Konflikte mehr als zehn
Jahre fortgeführt und so ihre humanistischen Grundsätze verleugnet hat.
Und vollends unbegreiflich ist, dass der Republikaner und Sozialist Guy
Mollet – Regierungschef vom 31. Januar 1956 bis 21. Mai 1957 – vor der
Koloniallobby kapitulierte, die Truppen in Algerien verstärken ließ und
die Menschenrechtsverletzungen der Armee deckte.3 Wer die Grundsätze
verrät, in deren Namen er gewählt ist, wird zum Totengräber der
parlamentarischen Legitimität.
Das Ende der Vierten Republik hatte also mehr mit der Schwäche des
politischen Personals zu tun als mit der des Systems. Wahre Demokraten
hätten beispielsweise nie die peinliche Wahlrechtsreform von 1951
betrieben, mit der sich die herrschenden Parteien ihre Pfründen sichern
wollten.4 Das parlamentarische System, dem die Parteien ja dienen
sollten, konnte damit nicht mehr richtig funktionieren. Die notorische
Instabilität der französischen Regierungen in den 1950er-Jahren war nur
Ausdruck des völligen Legitimitätsverlusts von Führungspolitikern, die
das politische System durch eigenes Verschulden zu Fall brachten. In
seiner Rede, die er am 1. Juni 1958 gegen die Ernennung von de Gaulle
hielt, zog der Sozialist Pierre Mendès-France, Regierungschef in den
Jahren 1954/55 und seit 1950 erklärter Gegner des französischen
Kolonialismus, folgende Bilanz: “Die Vierte Republik geht an ihren
eigenen Fehlern zugrunde. Dieses System verschwindet, weil es die
Probleme, mit denen es konfrontiert war, nicht zu lösen verstand.” Doch
es sei falsch, das parlamentarische System als solches zu verurteilen:
“Nur der schlechte Gebrauch, den man davon machte, hat uns zur
Machtlosigkeit verurteilt und uns derart versagen lassen.”
Man kann die Vierte Republik also nicht ausschließlich unter dem
Blickwinkel ihres Untergangs beurteilen und erst recht kann man deswegen
nicht einfach 100 Jahre Parlamentarismus auf die Anklagebank setzen. Die
Vierte Republik hat – wie die Dritte Republik – zahlreiche große
historische Persönlichkeiten hervorgebracht, und an historische Figuren
wie Jean Jaurès, Georges Clemenceau, Aristide Briand oder Pierre
Mendès-France wird man sich noch erinnern, wenn viele Funktionäre der
Fünften Republik längst vergessen sein werden. In den Zeiten des
Parlamentarismus konnten sich die großen öffentlichen Aufgabenbereiche
entfalten, in Sonderheit das öffentliche Schulwesen, wurde das Prinzip
der Laizität (der strikten Trennung von Kirche und Staat) und die
Einkommensteuer eingeführt, wurde das Arbeitsministerium geschaffen und
die wichtigsten Sozialgesetze erlassen.
So instabil die Vierte Republik, zumal in ihren letzten Jahren, auch
gewesen sein mag, sie schaffte nach dem Zweiten Weltkrieg den
Wiederaufbau des Landes und die Stabilisierung eines europäischen
Friedens. Die Vierte Republik setzte den Entkolonisierungsprozess in
Tunesien und Marokko in Gang und schuf in allen anderen Kolonien den
gesetzlichen Rahmen für die spätere Unabhängigkeit.
Dennoch hatten sich die Kräfteverhältnisse 1958 so sehr verschoben, dass
die wichtigsten Träger des parlamentarischen Systems keinen Widerstand
mehr leisten, ja nicht einmal mehr eine würdige Figur machen konnten. Von
einigen wenigen Persönlichkeiten abgesehen, fehlte es an moralischer
Substanz, um sich de Gaulles Angriffen und dem von ihm vorgeschlagenen
Regimewechsel widersetzen zu können. Die Verfassung der Fünften Republik,
die ein Werk de Gaulles und seines engsten Mitarbeiters Michel Debré5
war, rückte den Staatschef ins Zentrum der Staatsgewalt. Bestätigt wurde
er in dieser Rolle durch das Verfassungsreferendum von 1962, das die
Direktwahl des Präsidenten verankerte.
Einige Politiker stürzten sich damals in ein letztes Gefecht für das
parlamentarische System – darunter ein gewisser François Mitterrand mit
seinem berühmten Pamphlet “Der permanente Staatsstreich”6. Doch als
Mitterand dann 1981 selbst Staatspräsident wurde, ging er auf Abstand zu
seiner früheren Position. Auf seiner ersten Pressekonferenz meinte er
nur: “Diese Regelungen waren vor mir gefährlich, und sie werden es nach
mir sein. Einstweilen werde ich mich mit ihnen arrangieren.”7 Dieses
“einstweilen” dauerte leider etwas länger. Dass ein Politiker der Linken
mit seinem monarchischen Gehabe dieser personalisierten Machtausübung
seinen Segen gab, hat zu der politischen Konfusion in der
Verfassungsdebatte wesentlich beigetragen.
Doch die heute herrschende Einmütigkeit ist bloße Fassade, hinter der
sich eine tief greifende Krise der Institutionen verbirgt. Angeblich
sorgt die Verfassung von 1958 für Kontinuität. Angeblich ermöglicht sie
effizientes politisches Handeln. Tatsächlich aber lässt sie es zu, dass
diese Kontinuität zu Lasten der Volkssouveränität gesichert wird – unter
anderem dadurch, dass sich der Staatspräsident vor dem Parlament nicht zu
verantworten hat. Während seiner Amtszeit übt er alle wesentlichen
Machtbefugnisse ohne jede Kontrolle aus. Die Regierung, die er in
souveräner Entscheidung ernennt, sichert ihm seine Macht.
Dies ist der Wesenskern jedes Präsidialsystems. Sogar in der Verfassung
der USA, in der die Machtbefugnisse von Präsident und Kongress besser
austariert sind, ist eine solche Negation der Demokratie angelegt. Sie
lässt es zu, dass der Staatschef neue Truppen in den Irak schickt, obwohl
das Wahlvolk bei den Kongresswahlen im November 2006 den Demokraten die
Mehrheit im Repräsentantenhaus verschafft und damit gezeigt hat, dass es
das Gegenteil will. In einer parlamentarischen Demokratie hätte man
George W. Bush absetzen und einen von der Mehrheit der Wähler gewünschten
Politikwechsel einleiten können. Aber wie soll man sich der Politik
eines Präsidenten widersetzen, der nach wie vor zur Ausübung seiner Macht
legitimiert ist? Nach André Tardieu, der Clemenceau bei den
Friedensverhandlungen von Versailles beriet, setzt die Ausübung der
Volkssouveränität einen “gefangenen Souverän” voraus.
Wenn die französischen Institutionen in der Lage sind, soziale
Aufruhrstimmungen wie den Mai 1968 oder die Unruhen im Winter 2005 zu
überstehen, zeigt dies nur, dass sich die gesellschaftlichen Widersprüche
nicht mehr in die Institutionen hinein übersetzen. Wer sich unter
solchen Bedingungen für die politische Stabilität des heutigen Frankreich
begeistert, verwechselt Ursache und Wirkung: Demokratische Bestrebungen
können sich derzeit eben nur noch auf der Straße artikulieren. Aus dem
Argument der Regierungsstabilität, das so häufig als Hauptargument gegen
den Parlamentarismus benutzt wird, spricht nur allzu oft
antidemokratische Gesinnung. Als die sozialistische Regierung unter
Pierre Mauroy 1983 mit ihrer rigiden Sparpolitik begann, stellte sie die
Kontinuität der Macht über die Souveränität des Volks, das sich 1981 für
eine andere Politik ausgesprochen hatte. Die viel beschworene Stabilität
ging auf Kosten der Demokratie.
Und es gibt ein weiteres Paradox: Obgleich die Verfassung der Fünften
Republik einen starken Staat garantieren soll, erleichtert sie die
Unterordnung der politischen Macht unter globalisierte Wirtschafts- und
Finanzinteressen. Der nationale Wille verliert seine Durchsetzungskraft,
wenn ihm die Unterstützung des Volks abhanden kommt. Nur eine
demokratische Meinungsbekundung, die gegen die Absichten der politischen
Klasse gerichtet war, konnte einen europäischen Verfassungsvertrag
verhindern, der die Interessen von Einzelnen über das Gemeinwohl stellt.
Das Parlament sollte unter demokratischen Bedingungen eigentlich die
philosophischen und sozialen Konflikte innerhalb eines Landes
widerspiegeln. Heute jedoch ist es auf die stupide Rolle einer
Registrierkammer reduziert. Da es dem Präsidenten oder einem potenziellen
Präsidentschaftskandidaten untergeordnet ist, hält es sich eher an den
allgemeinen Konsens und äußert nur selten abweichende Meinungen. Das
gesamte politische Leben hängt an den Präsidentschaftswahlen. Das aber
führt zu einer Personalisierung der Macht, was wiederum auf Kosten von
Sachfragen und politischen Diskussionen geht. Die Parteien funktionieren
damit letztendlich wie “Rennställe”, die Konkurrenz zwischen Personen
verdrängt das Wesentliche: die Auseinandersetzung um Ideen. Die
Aktivisten bilden nur noch das Fußvolk von Kandidaten, die ihrerseits auf
ihren medialen Auftritt reduziert sind, also zu Marionetten ihrer
Imageberater. Unter diesen Bedingungen ähnelt die Präsidentschaftswahl
mehr und mehr einem Plebiszit.
Der weiße Blazer der Ségolène Royal
Ein von der Vorsehung bestimmter Mann, eine von der Vorsehung bestimmte
Frau – das ist es, was die Leute beschäftigt. Zumal es mit einem
Mediensystem korrespondiert, das sich nicht mehr als Mittler kritischer
Informationen versteht, also über soziale oder außenpolitische Fragen
aufklärt, sondern nur noch als Sprachrohr führender Politiker fungiert.
Über die Launen eines Nicolas Sarkozy, die weißen Blazer einer Ségolène
Royal oder die persönlichen Konflikte innerhalb der grünen Partei lässt
sich offenbar einfacher berichten als über die Missstände in einem
Supermarkt, in dem die Beschäftigten unter illegalen Verhältnissen
gearbeitet haben und im Keller eingesperrt wurden, als die
Gewerbeaufsicht kam. Dieser Vorfall ereignete sich im Oktober 2006. Zwei
Wochen lang erschien kein einziges Wort darüber in den Medien.
Das Falsche – und das Gefährliche – am präsidialen Systems ist im Grunde
die Vorstellung, dass sich die Vielfalt einer Bevölkerung auflöst, wenn
diese eine bestimmte Ausdrucksform annimmt. Das Wahlvolk, das in einer
Demokratie die staatlichen Gewalten legitimiert, kann in der Regel nicht
von einer einzelnen Person repräsentiert werden, außer auf dem Niveau des
kleinsten gemeinsamen Nenners.
Die Personalisierung der Staatsgewalt, mag sie auch verfassungsgemäß und
an Wahlen gebunden sein, verleiht dem Präsidentenamt eine
transzendentale Bedeutung, die aufgrund ihrer irrationalen Dimension zu
einer Verarmung der politischen Debatten führt. Tatsächlich sollten aber
die gesellschaftlichen Interessenkonflikte und sozialen Kämpfe in die
Institutionen hineingetragen werden. Nur im Parlament können und müssen
diese Widersprüche thematisiert werden. Es gibt keinen
Gesellschaftsvertrag ohne vitale Gegensätze. Es gibt keine Demokratie
ohne Streit.
Wie kann man die Präsidentschaftswahl heute noch als “Begegnung zwischen
einer Person und dem Volk” bezeichnen, wenn sich um die nächste
Präsidentschaft im Grunde nur Anhänger des europäischen
Verfassungsvertrags bewerben, den eine klare Wählermehrheit am 29. Mai
2005 abgelehnt hat? Liegt die tiefere Bedeutung des 29. Mai nicht darin,
dass sie – jenseits der Grabenkämpfe zwischen rechts und links – einer
Abfuhr an ein zunehmend perverses politisches System darstellte, das eine
wirkliche Repräsentation der Gesamtheit der Staatsbürger nicht mehr
zulässt? Und die Antiliberalisierungsgruppen haben zweifellos den Fehler
gemacht, dass sie mit ihrem Wunsch nach einem Präsidentschaftskandidaten,
der das Nein zur EU-Verfassung repräsentiert, selbst in die
Personalisierungsfalle tappten.
Das Allgemeininteresse muss sich in einem parlamentarischen System über
die Bildung von Mehrheiten und Regierungen herstellen, die sich vor den
Volksvertretern rechtfertigen müssen. Dabei ist klar, dass das
parlamentarische System erneuert werden muss. Das Wahlsystem muss so
gestaltet sein, dass sich darin die tatsächliche politische
Mannigfaltigkeit abbilden kann. Das Kontrollrecht – und der Status – der
Volksvertreter muss endlich wieder aufgewertet werden. Rang und Rolle des
Referendums, die heute dem Ermessen des Präsidenten obliegen, sind neu
zu überdenken. Nach wie vor bedarf es des parlamentarischen Rahmens, um
dem Willen der Wähler Gestalt zu geben, und zwar in seiner Vielfalt wie
in dem, was alle verbindet.
Vor mehr als 400 Jahren beschrieb Étienne de La Boétie, Schriftsteller
und Freund von Montaigne, in seiner Abhandlung “Von der freiwilligen
Knechtschaft” drei Arten von Tyrannen: “Die einen haben die königliche
Gewalt kraft der Wahl des Volkes; die andern durch die Gewalt ihrer
Waffen; die dritten auf Grund der Erbfolge ihres Geschlechtes (…), und
so verschieden die Mittel sind, durch die sie zur Herrschaft kommen, so
ist doch die Manier der Herrschaft immer recht ähnlich: die Erwählten
regieren, wie wenn sie Stiere gefangen hätten und sie zähmen wollten; die
Eroberer verfahren mit den Untertanen wie mit ihrer Beute; und die
Erbfürsten wie mit ihren natürlichen Sklaven.”8
Der 21. April 2002, als Zehntausende aus Protest gegen den
rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Jean-Marie Le Pen auf die
Straße gingen, aber auch der 29. Mai 2005 haben uns von der Notwendigkeit
überzeugt, dass die Institutionen dem Wahlvolk zu seinem Ausdruck
verhelfen müssen. Denn es sind die Wähler, die der Politik ihre
Legitimität verleihen. Wieder einmal in der Geschichte ist der dritte
Stand nichts, wieder einmal muss er alles werden. Wieder einmal müssen
wir die Institutionen von Grund auf neu gestalten: Wir brauchen eine
verfassungsgebende Nationalversammlung.
In der neuen Verfassung von 1958 war festgelegt worden, dass der
Präsident nicht mehr von den Abgeordneten, sondern von einer
Notabelnversammlung gewählt werden sollte. Doch 1962 überraschte Charles
de Gaulle die Parteien mit seinem Vorschlag, der Präsident solle direkt
vom Volk gewählt werden.
Roger Gérard Schwartzenberg, "1788: Essai sur la maldémocratie", Paris
(Fayard) 2006.
Dagegen traten andere Regierungsmitglieder von ihrem Amt zurück, zum
Beispiel Alain Savary im Oktober 1956, aus Protest gegen die Entführung
eines marokkanischen Flugzeugs mit Führungsmitgliedern der FLN durch die
französische Armee.
Es handelt sich um eine Variante der Verhältniswahl, die die
regierenden Parteien kurz vor den Parlamentswahlen 1951 beschlossen, um
sich ihre Mehrheit in der Nationalversammlung zu sichern. Das Verfahren
besagt, dass diejenigen Parteien, die vor der Wahl eine Listenverbindung
eingegangen sind und gemeinsam die Stimmenmehrheit erlangen, alle Sitze
erhalten, die für das jeweilige Departement vorgesehen sind. Wie sie die
Sitze untereinander aufteilen, bleibt ihnen überlassen.
Michel Debré war damals Justizminister unter Charles de Gaulle, der
ihn anschließend zum Ministerpräsidenten ernannte (1959-1962). Danach
diente er in der Ära Pompidou noch als Außen- und Verteidigungsminister.
François Mitterrand, "Le Coup d'Etat permanent", Paris (Plon) 1964.
Mitterand argumentierte, durch die Direktwahl des Präsidenten trete
dieser aus seiner Rolle als "Schiedsrichter" heraus und werde zum
autoritären Herrscher auf Kosten des Parlaments.
Le Monde, 26. September 1981.
Étienne de La Boétie, "Von der freiwilligen Knechtschaft". Neuausgabe
der Übersetzung von Gustav Landauer, Münster (Klemm & Oelschlaeger) 1991.
Published 20 April 2007
Original in French
Translated by
Bodo Schulze
First published by Le Monde diplomatique (Berlin) 4/2007
Contributed by Le Monde diplomatique (Berlin) © André Bellon/Le Monde diplomatique (Berlin) Eurozine
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