Bis vor Kurzem meinte die Linke, politische Kunst solle, der sozialistischen Orthodoxie folgend, die üblichen linken Formen von Politik anwenden. Die Kunst sollte also ein Schatten der “Realpolitik” sein. Heute jedoch ist die Linke heterodox. Sie vertritt die Meinung, dass die politische Kunst wie sie eine heterodoxe Politik verfolgen solle. Dieselbe Denkweise also, bloß ein neues Schema.
Die von Artur Zmijewski gemeinsam mit Joanna Warsza und dem Kunstkollektiv Woina kuratierte 7. Berlin Biennale 2012 bot die Gelegenheit, die Formen radikaler politischer Kunst und Kunstausstellungen zu analysieren. Aber was genau stimmte nicht an diesem Experiment? Dass sie keine Kunst zeigte? Oder dass es überhaupt kein Bedürfnis nach Kunst gab? Wo findet man heute “das Politische”? Gibt es für politisch Radikale einen Ort im Ästhetischen?
Angesichts dieser Fragen erscheint es zweckmäßig, die gegenwärtigen Formen der politischen Aktion als Blaupause dafür zu nehmen, “was linke heute Politik ist”. Auf den Straßen können wir momentan horizontale, unhierarchische, basisdemokratische Aktionsmuster beobachten. Sollten wir versuchen, diese in der Kunst zu kopieren? Denn eines stimmt ja: Die radikale Politik äußert sich heute in Aktionen, Demos, Kundgebungen und politischen Bewegungen, bei denen es um neue Formen der Organisation und des Handelns geht. Die Ideologie liegt in der Form. Überträgt man die Organisationsform dieser Proteste auf die Kunst, könnte man den Eindruck gewinnen, man wende “die Ideologie” unserer Zeit an, die eben die radikalste Ideologie zur Veränderung der heutigen Gesellschaft darstellt.
Und doch fehlt dabei ein entscheidendes Detail. Die Ideologie der heutigen Linken liegt nämlich nicht in den Formen, die sie gefunden hat, sondern in der Suche nach Formen. Die derzeit angewandten Formen repräsentieren weder die Bewegung noch ihre Politik. Die Bewegung zeichnet sich vielmehr durch ihr “Verständnis von Form” aus, und somit ist es auch überflüssig zu betonen, dass in dieser Bewegung keinerlei Vertretung die Vertretenen ersetzen kann und alle Repräsentation demnach nur temporär sind.
Die heterodoxen, horizontalen, antiautoritären Bewegungen von heute zeichnen sich also durch ein spezifisches Formverständnis aus. Wie man sich organisiert, ist entscheidend, nicht warum man sich organisiert. In der Praxis bedeutet dieses Formverständnis, permanent mit Formen zu experimentieren, deren Richtung einzig einem ethischen Kompass folgt. Wir sind nicht gegen Formen per se, wir wollen keine Formlosigkeit. Aber wir machen auch keine Kompromisse und legen keinerlei Aktions-, Protest-, Kunst-, Kunstveranstaltungsform als “politische Idealform” fest.
Nur so bekommt der Aufstand Biss, nur so wird er zum Rachen des Tigers. Keine Form lässt sich verlässlich wiederholen. Alles bleibt stets ein Experiment, bei dem im Vorhinein niemand das Ergebnis weiß. Alles, was wir wissen, ist, dass wir auf der Hut sein und ein offenes Ohr für neue Experimente haben müssen. Neue Formen bedeuten nicht immer, dass etwas “geschaffen” werden muss. Neue Experimente benötigen nicht unbedingt Kreativität oder Fantasie. Manchmal findet man per Zufall einen neuen Stern, der natürlich schon Millionen Jahre lang da war.
Kopiert man diese politischen Formen in der Kunst, zerstört man den Hunger der Kunst nach eigenen neuen Formen. Man muss sich bloß folgende Frage stellen: Wie macht man eine Ausstellung im Sinn der Occupy-Bewegung? Es reicht doch nicht, wenn man einfach deren Form erfasst und kopiert. Das wäre lediglich eine Geste. Ein diskreter Selbstmord der Kunst. Man mag diese Geste oder man mag sie nicht, wie bei den Likes/Dislikes auf Facebook. Die “echte” Occupy-Bewegung hingegen, die eben die Occupy-Bewegung sein will und nicht eine Ausstellung oder eine Biennale, gibt sich nicht damit zufrieden, wenn sie einmal eine Form gefunden hat. Sie kann jederzeit ihre Form ändern.
Wie sollen wir als KünstlerInnen also mit der Hierarchielosigkeit der neuen Protestbewegungen umgehen? Wie können wir sie uns aneignen? Wie können wir ihren basisdemokratischen Aspekt in der Kunst aufgreifen? In der Politik ist es einfach: Man unterstützt eine Bewegung oder nimmt an ihr teil, wenn man kann. Der Kunst jedoch kann man nicht “beitreten”, selbst wenn sie partizipatorisch angelegt ist. Man kann sie nicht machen, ohne ihr/e “MacherIn” zu sein. In der neuen Linken geht es aber gerade darum, dass es keine “MacherInnen” gibt.
Außerdem macht es nicht wirklich Sinn, politische Kunst zu unterstützen. Man kann die arabische Revolution, die AktivistInnen auf dem Tahrir-Platz oder die weltweiten Occupy-Bewegungen unterstützen. Aber die Berlin Biennale? Den AktivistInnen im New Yorker Zucotti-Park konnte man eine Pizza spendieren. Aber was würde es bedeuten, einem Meeting auf der Berlin Biennale eine Pizza liefern zu lassen?
Ich glaube, dass Problem oder vielmehr die Lösung des Problems liegt in der Auseinandersetzung damit, wie wir horizontale, basisdemokratische, Occupy artige Kunstveranstaltungen und Kunstwerke “aufnehmen”. Wir sollten nicht darüber reden, wie wir sie erzeugen können, oder was wir tun, wenn wir sie erzeugen. Stattdessen sollten wir darüber nachdenken, wie wir sie begreifen, wie wir mit ihnen umgehen. Nicht wie wir sie “unterstützen” können. Sondern was wir mit dieser Kunst “machen” sollen.
Warum zum Beispiel fühlen wir uns gegenüber herkömmlicher Kunst wohler und sicherer? Wenn man zum Beispiel einen Text verstehen, das heißt seine Bedeutung erfassen will, dann soll er nicht zu experimentell sein. Dasselbe gilt auch in der Politik: Wenn man etwas Wichtiges besprechen will, ist eine experimentelle Form der Besprechung eher fehl am Platz. Man möchte, dass Bedeutungen mit möglichst wenig Informationsverlust vermittelt werden. Andernfalls verfehlen sie ihren Zweck.
Genau das war aber nicht der Fall bei den Antiglobalisierungsbewegungen. Obwohl sie experimentell waren, erfüllten sie dennoch ihren Zweck. Die Besetzung des Tahrir-Platzes war nicht nur “schön”, sondern auch effektiv. Sie wurde, wie man weiß, weder durch politische Parteien, Bündnisse, Befehle, Hierarchien, Masterpläne oder was auch immer organisiert. Trotzdem war sie erfolgreich. Sie bedeutete nicht nur das Ende des Mubarak-Regimes, sondern stärkte auch das Selbstvertrauen der ÄgypterInnen.1 Die Tahrir-Bewegung setzt die Revolution bis zum heutigen Tag fort. Ihr Geist spiegelt sich in einem historischen Zitat des schweizerisch-französischen Avantgardefilmers Jean-Luc Godard:
Reporter: Herr Godard, Sie stimmen gewiss zu, dass jede Geschichte einen Anfang, eine Mitte und ein Ende haben muss.
Godard: Ja, sicher, aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Wollen wir also eine politische Bewegung, die einem Vorbild folgt? Offenbar nicht. Wollen wir eine Kunst, die einem Vorbild folgt? Das würde uns wahrscheinlich gefallen, aber ich halte es für fraglich, ob dies möglich ist. Wenn ich zum Beispiel frage, wie man einen experimentellen Roman verstehen soll, dann habe ich immer bestimmte Romane oder Kunstwerke im Blick. Zum Beispiel meine ich B. S. Johnsons Roman The Unfortunates oder Himmel und Hölle von Julio Cortázar. Beide sind Produkte der 1960er-Jahre, Himmel und Hölle erschien 1963, The Unfortunates 1968. Beide Bücher basieren auf demselben Prinzip, nämlich dass sich die LeserInnen ihre eigene Ordnung darin suchen müssen. The Unfortunates erschien in Form von 27 einzelnen Kapiteln in einer Schachtel. Das “erste” und das “letzte” Kapitel sind als solche ausgewiesen. Die 25 Kapitel dazwischen, die zwischen zwölf Seiten und nur einen Absatz lang sind, kann man in jeder beliebigen Reihenfolge lesen. Wie jedes Kunstwerk ist auch dieses Buch ein Objekt. Hier jedoch verliert man leicht eines der Kapitel, lässt es beispielsweise irgendwo liegen. Oder man vergisst die Reihenfolge, in der man sie gelesen hat. Jedenfalls: Wenn man nicht im Vorhinein weiß, dass dies ein wichtiger experimenteller Roman ist, den man lesen sollte, wenn man also durch Zufall auf so ein Schachtelbuch stößt, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass man es gar nicht lesen will.
Ähnlich verhält es sich mit dem Narrative Turn in den Geschichtswissenschaften, der ebenfalls in den 1960er-Jahren mit Hayden White begann. Er führte zu spannenden experimentellen Geschichtsbüchern, bei denen man sich die Lesereihenfolge aussuchen kann. Beispiele dafür sind Hans Ulrich Gumbrechts 1926 – Ein Jahr am Rand der Zeit oder Sven Lindqvists A History of Bombing, beides großartige Werke. Gumbrechts Buch besteht aus “Textbausteinen”, die die “Stimmung von 1926” evozieren sollen, während Lindqvists Buch 22 verschiedene Anfänge, aber kein Ende hat. Das Problem von Letzterem ist, dass man, wenn man den Zugang des Autors zur Geschichte des Bombens schätzt, mehr wissen will. Kurz, man möchte mehr dieser “Geschichten” “konsumieren”. Der netzwerkartige Charakter der Texte wirkt dennoch ermüdend. Man wird erschöpft, weil man leicht vergisst, wo im Text man war. Die Struktur des Texts ist so klasse, so hypertextuell, so unhierarchisch, aber das Leseerlebnis ist nicht so toll und außerdem doch ein wenig hierarchisch, weil man die Geschichte des Bombens eben nicht in einem “normalen Buch” nachlesen kann. Ein wenig erinnert das an den folgenden Witz: “Why do anarchists only drink herbal tea? – Because proper tea is theft!”2
Ich mag Gumbrechts Vorstellung von einem Buch, das eine bestimmte Zeit nicht verständlich machen, sondern deren Zeitgeist evozieren will. Die Wände der Zeit mit den Händen greifen. Das Leseerlebnis solcher Bücher lässt uns ahnen, wie sich eine basisdemokratische Politik in der Kunst anfühlen könnte. Ist “proper tea” heute noch Diebstahl?
Zwischen dem Mörder (dem Buch) und seinem Opfer (dem/der Lesenden) oder zwischen dem Opfer (dem Buch) und dem Eindringling (dem/der Lesenden, der/die nicht wirklich liest) bleibt immer eine Leerstelle. Beide existieren niemals nur für sich.
Vgl. insbesondere Mohammed Bamyehs "Eindrücke" der Revolution in "The Egyptian Revolution: First Impressions From the Field" auf www.jadaliyya.com/pages/index/561/the-egyptian-revolution_first-impressions-from-the/ oder Mark LeVines Anmerkungen zum "schwarzen Block" in Ägypten in "Revolution Back In Black" auf www.aljazeera.com/indepth/opinion/2013/02/201322103219816676.html/
Vgl. Pierre Joseph Proudhon's Diktum "Eigentum ist Diebstahl", engl. "property is theft".
Published 5 June 2013
Original in English
Translated by
Thomas Raab
First published by Springerin 2/2013
Contributed by pringerin © Süreyyya Evren / Springerin / Eurozine
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