Falsche Fährte

Kigali hat sich getraut. Nach zwölf Jahren der Zurückhaltung, die ein
abgrundtiefes Misstrauen mehr schlecht als recht verhüllte, hat die
ruandische Regierung Mitte November 2006 die diplomatischen Beziehungen
zu Paris abgebrochen. Die Botschafter wurden zurückbeordert, das
französische Kulturzentrum und die französische Schule in Kigali
geschlossen. Die ruandische Presse reflektierte die Gefühle der
Regierung, die von Verbitterung bis zu Empörung reichen.

Anlass zu diesem Schritt war der richterliche Untersuchungsbericht des
Terroristenfahnders Jean-Louis Bruguière, der am 17. November der Pariser
Staatsanwaltschaft zugestellt wurde. Darin wird der Erlass von neun
internationalen Haftbefehlen gegen Personen aus der engen Umgebung des
ruandischen Staatspräsidenten Paul Kagame gefordert.

Paris hat sich bisher damit begnügt, auf das Prinzip der Gewaltenteilung
zwischen Politik und Justiz hinzuweisen. Im vorliegenden Fall sind
freilich Zweifel angebracht, ob die Gewalten wirklich strikt getrennt
sind.

Zu den zivilen und militärischen Amtsträgern, die Richter Bruguière im
Visier hat, gehören James Kabarebe, Generalstabschef der Armee, Faustin
Nyamwasa Kayumba, Ruandas Botschafter in Indien, und Charles Kayonga,
Generalstabschef der Landstreitkräfte. Die Staatsanwaltschaft gab
Bruguières Ersuchen statt, lehnte allerdings eine Anklageerhebung gegen
den ruandischen Staatschef selbst ab. Die Beschuldigten müssen nunmehr
bei Reisen ins Ausland, insbesondere in europäische Länder, mit
Behinderungen rechnen.

Die Anklagen beziehen sich auf folgende Vorgeschichte: Am 6. April 1994
um 20.30 Uhr wurde das aus der tansanischen Hauptstadt Daressalam
kommende Flugzeug des ruandischen Präsidenten Juvénal Habyarimana im
Anflug auf den Flughafen von Kigali abgeschossen. Im Anschluss an den
Abschuss der Präsidentenmaschine wurden in Ruanda eine Million Tutsi –
und gemäßigte Hutu, die sich dem Genozid widersetzten – regelrecht
abgeschlachtet.

Nachdem die Angehörigen von drei französischen Mitgliedern der
Flugzeugbesatzung Klage eingereicht hatten, begann der für terroristische
Fälle zuständige Untersuchungsrichter in Paris 1998, die Hintergründe
des Attentats zu untersuchen. Seitdem hat der Richter in acht Jahren
fünfzig Zeugen vernommen. Sein Befund ist in einem 64-seitigen
Schriftsatz zusammengefasst, in dem Paul Kagame als mutmaßlicher Mittäter
bezeichnet wird.

Kagame war zur Zeit des Attentats Oberbefehlshaber der Ruandischen
Patriotischen Front (RPF), die einen bewaffneten Kampf gegen das Regime
Habyarimana führte. Statt sich aber schlicht an die Fakten zu halten,
lässt sich Bruguière auf hochpolitische Erwägungen ein, indem er
schreibt, Kagame habe mit der Entscheidung für das Attentat “bewusst für
ein Vorgehen votiert, das in der damals außerordentlich angespannten Lage
in Ruanda unweigerlich blutige Repressalien als Gegenreaktion nach sich
ziehen musste”.

Die Argumentation des französischen Untersuchungsrichters, die schon vor
längerer Zeit durchgesickert war,1 beruht auf drei Annahmen: Erstens hat
General Kagame als Chef der aus Tutsi bestehenden und von Uganda aus
operierenden RPF den Befehl zum Abschuss des Flugzeugs seines Gegners
gegeben. Zweitens war dieses Attentat das auslösende Signal zum
Völkermord. Drittens wollte Kagame die Machtergreifung um jeden Preis,
obwohl er wusste, dass für die in Ruanda lebenden Tutsi die Gefahr eines
Massakers bestand. Die Folgerung: Kagame und seine Leute sind die
eigentlichen Schuldigen am Völkermord. Quod erat demonstrandum.

Dass diese Logik in Kigali für Empörung sorgte, überrascht nicht. Wären
Bruguières Thesen zutreffend, könnten sie bei den Tutsi, die vor der
Machtergreifung der RPF in Ruanda lebten und dem Massaker entronnen sind,
das Ressentiment erwecken, sie seien bewusst geopfert wurden. Die These
würde zudem an den Grundfesten des Regimes rütteln, das beharrlich
argumentiert, angesichts der Passivität der internationalen Gemeinschaft
sei der RPF keine Wahl geblieben, als das Morden durch ihr militärisches
Eingreifen zu stoppen. Desgleichen verweist die Regierung in Kigali
darauf, dass die ruandische Armee den Krieg nur deshalb in die
Demokratische Republik Kongo hineingetragen und jahrelang große Gebiete
des Nachbarlandes besetzt gehalten habe, weil sie die Sicherheit der
ruandischen Bürger garantieren und jede gewaltsame Rückkehr der
genozidären Kräfte unterbinden musste.

Im Übrigen hält es Ruandas Regierung für ausreichend, dass die von
Soldaten und Offizieren des RPF begangenen Verbrechen bereits von der
eigenen Militärgerichtsbarkeit geahndet wurden. Und weil sie Völkermord
und Kriegsverbrechen nicht auf dieselbe Stufe stellen mag, sperrt sie
sich hartnäckig dagegen, dass sich der Internationale Strafgerichtshof
für Ruanda (International Criminal Tribunal for Ruanda, ICTR) im
tansanischen Arusha mit den Übergriffen und Morden befasst, die von den
Truppen der RPF 1994 und während des Krieges im Kongo verübt wurden.
Entsprechend scheute sich Kigali auch nicht, die internationale Justiz zu
behindern, indem etwa Zeugen gehindert wurden, in Arusha auszusagen.

Ruanda sieht in dem Vorgehen des Untersuchungsrichters Bruguière
keineswegs nur eine Angelegenheit der französischen Justiz. Zwar bemühte
sich Dominique Decherf, der letzte Botschafter Frankreichs, im Auftrag
des französischen Außenministerium um eine Annäherung, doch Ruanda wirft
Frankreich vor, seine Entwicklungshilfe seit zwölf Jahren auf ein Minimum
beschränkt zu haben. Zudem habe Paris die neue Regierung Kigali bei
internationalen Geldinstituten angeschwärzt und viele afrikanische
Vermittlungsangebote vom Tisch gewischt.

In Frankreich hat die Kontroverse um den Abschuss des
Präsidentenflugzeugs bisweilen seltsame Blüten getrieben, etwa als die
Entdeckung der Blackbox (in einem Schrank der UN-Zentrale) gemeldet und
gleich wieder dementiert wurde. Bisweilen übertönt sie die weit
wichtigere Frage, ob die französische Armee den Mordbanden Unterstützung
gewährt hat. Gabriel Périès und David Servenay2 behaupten, diese
Unterstützung sei nach dem Ausbruch der Feindseligkeiten im Jahre 1990
intensiviert worden, aber schon vorher habe es eine ideologische Schulung
gegeben. So seien wichtige Akteure des Genozids wie Oberst Théoneste
Bagosora von Paris in Techniken der Guerillabekämpfung trainiert worden.

Offenbar haben französische Militärangehörige während des Kriegs, den
die RPF gegen das Regime Habyarimana führte (1990 bis 1994), die
Regierungstruppen ausgerüstet und ausgebildet. Und auch nach dem
Friedensabkommen von Arusha im August 1993 blieben französische
Militärausbilder im Lande. Eine Kommission des französischen Parlaments,
die 1998 Ruanda bereiste, hat Paris zwar weitgehend von dem Vorwurf
entlastet, die mordenden Streitkräfte unterstützt zu haben, doch damit
war die Kontroverse nicht beendet.

Die “Opération Turquoise” ist auch nicht aufgeklärt

Die Debatte droht im Gegenteil neu aufzuflammen. In Kigali trat eine
nationale Untersuchungskommission zusammen, mit dem Auftrag, “die
Verwicklung Frankreichs in den Völkermord zu ermitteln”. Vor diesem Forum
sagten Angehörige der am Genozid beteiligten Armee- und Milizeinheiten
im Dezember 2006 aus, “französische Ausbilder” hätten sie im Umgang mit
Granatwerfern und anderem Kriegsgerät, aber auch im Nahkampf mit blanker
Waffe und bloßen Fäusten trainiert. Und sie berichteten, dass über die
kongolesische Stadt Goma auch dann noch französische Waffen geliefert
wurden, als der Völkermord bereits im Gange war.

Diese Zeugen schilderten auch den zwiespältigen Charakter der “Opération
Turquoise”, also die Bildung einer militärischen Schutzzone durch die
Franzosen, die dem Morden keineswegs ein Ende setzte.3 Mehrere Bücher und
Dokumentarfilme4 wie auch eine nicht offizielle Untersuchungskommission
hatten schon vorher eine französische Verwicklung thematisiert, was
französische Militär- und Geheimdienstkreise auf die Palme trieb.

Die Anordnung des Untersuchungsrichters Bruguière ist nur der vorläufige
Endpunkt einer Kontroverse, die sensible Punkte berührt und etliche
Fragen aufwirft.

Als Erstes ist zu fragen, ob die Ermittlungen der französischen Justiz
nicht doch parteiisch sind. Von fünf möglichen Erklärungen ließ der
Untersuchungsrichter nur eine einzige zu: dass das Attentat auf das Konto
der RPF geht. Um genau dies zu beweisen, lud er vorwiegend Zeugen vor,
die seine These untermauerten: Erstens Offiziere der alten ruandischen
Armee, die heute wegen Völkermords in Arusha vor Gericht stehen. Zweitens
Hauptmann Paul Barril, den ehemaligen Chef der Eingreiftruppe der
französischen Nationalgendarmerie (GIGN), der sich im Auftrag der Witwe
des Präsidenten Habyarimana im Mai 1994 dienstlich nach Ruanda begab,
nach eigener Aussage aber schon früher, also zur Zeit des Mordens, in
Kigali präsent war. Und drittens Überläufer der RPF, die nach Europa und
in die USA geflüchtet waren.

Der gesprächigste unter diesen Überläufern und gleichzeitig einer der
Hauptzeugen des Untersuchungsrichters ist Major Abdul Ruzibiza, den wir
im Juni 2003 in Kampala getroffen haben. Die ugandischen
Sicherheitsbehörden hatten ihn der Generaldirektion der französischen
Geheimdienste präsentiert. Nachdem er in Paris vor Richter Bruguière
ausgesagt hatte, erhielt er politisches Asyl in Norwegen, wo er sich bis
heute aufhält.

Seine Vorgesetzten in der ruandischen Armee, darunter General James
Kabarebe, versichern allerdings, Ruzibiza sei im April 1994 in Byumba,
also im Norden des Landes, und lediglich als angelernter Hilfssanitäter
eingesetzt gewesen. Bei so niedrigem Dienstgrad sei es ausgeschlossen,
dass er, wie er behauptet, an einer Generalstabssitzung der RPF
teilgenommen habe.

Die Aussagen Ruzibiza zu diesem Punkt sind voller Widersprüche. Zunächst
hatte er ausgesagt, dem mit dem Attentat betrauten “Network Commando”
angehört zu haben; heute behauptet er, er habe sich lediglich – als
eingeschleuster Techniker – auf Erkundungspatrouille auf dem Hügel von
Massaka befunden, von dem aus das Flugzeug beschossen wurde.5 Ein
weiterer Zeuge, Emmanuel Ruzigana, ist nach Veröffentlichung des
Untersuchungsberichts abgesprungen. Er schrieb Bruguière: “Sie
beschuldigen mich fälschlicherweise der Zugehörigkeit zu diesem ‘Network
Commando’, dessen Existenz ich im Übrigen bestritten habe.”

Dennoch stützte sich der Richter bei seinen Schlussfolgerungen auf die
Aussagen dieser beiden Kronzeugen: Ein RPF-Kommando, darunter zwei
Schützen, habe sich vom Sitz des ruandischen Parlaments, wo ein
RPF-Kontingent von 600 Mann einquartiert war, zum Hügel von Massaka
aufgemacht und dort die Ankunft des Präsidentenflugzeugs abgewartet. Nach
erfüllter Mission sei das Kommando im Taxi zu seiner Einheit
zurückgekehrt. Am Tatort habe das Kommando zwei Raketenwerfer
zurückgelassen, anhand derer man später die verwendeten Geschosse habe
identifizieren können: Boden-Luft-Raketen russischer Herkunft vom Typ
Sam-16 aus den Beständen Ugandas, des Verbündeten der RPF.

Hätte der französische Richter an Ort und Stelle ermittelt, wäre ihm
nicht entgangen, dass der Hügel von Massaka in der Verlängerung der
Landepiste und der Militärbasis von Kanombe liegt und sich zur fraglichen
Zeit fest in der Hand der Präsidentengarde Habyarimanas befand. Vor Ort
hätten ihm Zeugen berichten können, dass auf den wenigen Kilometern
zwischen dem Parlament und der angeblichen Sam-16-Stellung zur Tatzeit
nicht weniger als sieben Checkpoints eingerichtet waren, an denen die in
höchste Alarmstufe versetzte Präsidentengarde rigorose Ausweis- und
Fahrzeugkontrollen durchführte.

Wie also sollten damals – leicht erkennbare – Tutsi das von Blauhelmen
der Unamir (United Nations Assistance Mission for Rwanda) bewachte
Parlamentsgelände verlassen und anschließend sämtliche von ihren
Todfeinden gehaltenen Kontrollposten passiert haben? Und selbst wenn sie
nach Massaka durchgekommen wären, hätten sie dort ein Versteck finden
müssen. Das aber war kaum möglich in einem Gebiet zwischen dem Waisenhaus
Saint Agathe, das ebenfalls von der Präsidentengarde verteidigt wurde,
und der la Ferme genannten Häusergruppe, die zum Besitz des Staatschefs
gehörte und zu der nur die Präsidentengarde und französische
Militärangehörige Zutritt hatten. Im Übrigen führen die beiden Straßen
nach Massaka durch unbefahrbares Sumpfgelände.

Ein kontroverses Thema ist auch die Herkunft der Luftabwehrraketen. Der
Richter, der für seine Ermittlungen nach Moskau gereist ist, will einen
Bestand von vierzig Flugkörpern identifiziert haben, die von der
ehemaligen UdSSR nach Uganda geliefert und dann von Staatschef Yoweri
Museveni an die RPF übergeben worden sei. Der Identifikationsbericht und
die Fotos der Raketenwerfer stammen aus den Papieren der
Ermittlungskommission des französischen Parlaments. Peinlicherweise
musste man nach einer Expertise der Fotos feststellen, dass die Sam-16
fest auf ihren Raketenwerfern installiert, also nicht abgeschossen waren.
Worauf die Kommission folgerte, die Fotos seien vermutlich gefälscht.

Die richterliche Beweisführung vernachlässigt auch die Erkenntnisse, die
dem Internationalen Strafgerichtshof in Arusha (ICTR) beim Prozess gegen
Oberst Théoneste Bagosoraden vorlagen, der als Kopf des Genozidplans
gilt. Daraus geht hervor, dass die ruandische Regierungsarmee, die einen
Luftangriff aus Uganda befürchtete, seit 1992 verzweifelt versucht hatte,
Boden-Luft-Raketen zu beschaffen. In Arusha lag als Beweismittel ein
detailliertes Angebot des ägyptischen Verteidigungsministeriums über die
Lieferung von hundert Raketen und zwanzig -werfer aus der UdSSR und
Bulgarien vor. Angesichts der Behauptung, die Regierungsarmee habe keine
Raketen besessen und auch nicht bedienen können, steht zumindest fest,
dass sie alles daran setzte, sich welche zu beschaffen.

Auf einer am 30. November 2006 abgehaltenen Pressekonferenz hat
ICTR-Sprecher Everard O’Donnell dem Untersuchungsbericht von Richter
Bruguières eine erkennbar harsche Abfuhr erteilt. Bei allen bisher vom
Arusha-Gericht gefällten Urteilen, so hebt er hervor, hätten die Richter
stets “eine planmäßig vorbereitete und systematisch organisierte
Verschwörung mit dem Ziel des Völkermords” festgestellt. Die Morde und
das darauf folgende Massaker, das an einigen Orten schon vor dem 6. April
begonnen habe, können demnach keine “spontane Reaktion” auf das Attentat
auf Präsident Habyarimana gewesen sein.

Wer hat die Maschine des Präsidenten abgeschossen?

Der ICTR-Sprecher erinnerte auch daran, dass der Hügel von Massaka und
die Absturzstelle zu dem fraglichen Zeitpunkt von der Präsidentengarde
kontrolliert wurde und dass diese allen Personen, auch den belgischen
Blauhelmen, den Zutritt zu den Flugzeugtrümmern verwehrte. Der Sprecher
wies auch darauf hin, dass die aufgefundenen Raketenwerfer dem
Verteidigungsministerium der Interimsregierung übergeben worden seien,
dessen Chef, Oberst Bagosora, sie nach Gisenyi an der kongolesischen
Grenze schaffen ließ.

Diverse Zeugenaussagen lassen also annehmen, dass die RPF zwar wirklich
Raketen besaß, dass aber auch die Regierungsarmee möglicherweise welche
beschafft hatte. Selbst wenn erwiesen wäre, dass Letztere nicht über die
nötigen Abschussexperten verfügte, hätte sie durchaus ausländische
Spezialisten anheuern können. Genau das behauptet seit zwölf Jahren immer
wieder der Belgier Paul Henrion.

Dieser ehemalige Berufssoldat, der später in den Bausektor wechselte,
lebte seit über dreißig Jahren in Ruanda und hatte Zutritt zum Landgut
des Präsidenten. Er erinnert sich, dass er am Morgen des 6. April in
Massaka gesehen hat, wie Regierungssoldaten ein Panzerabwehrgeschütz in
Stellung brachten. Als er am frühen Abend wiederkam, sah er, dass die
Männer immer noch da waren und den Himmel beobachteten.

Dabei fiel ihm ein Detail auf, das ihm schon am Morgen seltsam
vorgekommen war: Die Männer trugen zwar die Uniform der Präsidentengarde,
hatten ihre Barette jedoch auf ungewöhnliche Weise aufgesetzt: schräg
nach rechts unten, wie es bei den französischen Streitkräften üblich ist,
wogegen die Belgier und die Ruander es schräg nach links unten trugen.
Seither fragt er sich, ob es in der Präsidentengarde insgeheim auch
Ausländer gab.6

Bei der Lektüre des richterlichen Untersuchungsberichts fällt auch auf,
dass der Text, dem achtjährige Ermittlungen zugrunde liegen, zahlreiche
Fehler enthält, die von einiger Leichtfertigkeit zeugen: Die
Stationskennung des zum Mord aufrufenden Hasssenders Radio Télévision
Libre des Mille Collines ist falsch wiedergegeben, die Hutu-Milizen der
Interahamwe werden zu “Interhahawe”, und obwohl die meisten Beschuldigten
hohe Würdenträger des heutigen ruandischen Regimes sind, laufen sie
unter “Staatsangehörigkeit unbekannt”.

Warum musste Richter Bruguière ausgerechnet im November 2006 eine
Untersuchung publizieren, die seit zwei Jahren abgeschlossen war und
unter Missachtung des Ermittlungsgeheimnisses schon vorher in den Medien
breitgetreten worden war? Und warum hat er sie unverändert gelassen,
obwohl aus Arusha neue Erkenntnisse hinzukamen? Wollte der Richter etwa,
kurz vor dem Ausscheiden aus der Justizkarriere und im Hinblick auf die
Aussicht, bei der Parlamentswahl am 10. und 17. Juli 2007 auf der Liste
der französischen Union für eine Volksbewegung (UMP) zu kandidieren, noch
rasch alle anstehenden Fälle abschließen, also auch die
Ruanda-Ermittlungen?

Eines steht fest: Seine spektakuläre Aktion, deren Folgen im
Außenministerium offenbar Bestürzung auslösten, wurde in französischen
Militärkreisen enthusiastisch begrüßt. In der Armee sind nämlich mehrere
unliebsame Verfahren anhängig. Seit zwei Jahren befasst sich der
Militärgerichtshof der Armee mit Klagen von sechs Opfern des Genozids
gegen Franzosen, die an der “Opération Turquoise” beteiligt waren.

Vier dieser Klagen wurden vor Gericht zugelassen. Einer der Kläger, der
ehemalige Seminarist Bernard Kayumwa, der auf den Hügel von Bisesero
geflüchtet war, wirft den Franzosen vor, sie hätten am 27. Juni 1994
seine Tutsi-Gruppe entdeckt und Hilfe versprochen. Tatsächlich seien dann
aber Leute mit Macheten auf sie zugestürzt: “Die Schreie und Explosionen
mussten bis nach Kibuye zu hören gewesen sein.” Sie hätten dann große
Verluste erlitten. Als die Franzosen erst am 30. Juni wiederkamen, seien
sie entwaffnet und nach Kibuye gebracht worden. Dagegen hätten die
Franzosen ihre Gegner, die Interhahamwe, “mit ihren Waffen in den Wald
entkommen” lassen. In Paris beruft man sich zwar immer wieder auf die
Trennung von Justiz und Politik, aber das hat die Staatsanwaltschaft
nicht daran gehindert, sich zweimal zu widersetzen, als das
Militärgericht vor Ort ermitteln wollte. Und nachdem Kigali wegen des
Bruguière-Berichts die diplomatischen Beziehungen zu Paris abgebrochen
hat, sind Ermittlungen in Ruanda vollends unmöglich geworden.

Das zweite Verfahren, das für Frankreich unerquicklich werden könnte,
läuft in Ruanda. Hier arbeitet die nationale Untersuchungskommission
natürlich mit erhöhtem Eifer und hat begonnen, die Archive der
ruandischen Ministerien des Äußeren und der Verteidigung auszuwerten und
zahlreiche Zeugen anzuhören. Die Untersuchungsergebnisse dieser
Kommission werden in etwa die Vorwürfe bestätigen, die Kigali bereits
erhoben hat. Damit ist die nächste Runde im Krieg der Worte zwischen
Frankreich und Ruanda absehbar.

Dieser Konflikt hat im Übrigen auf beiden Seiten auch eine
psychologische Dimension: Die französische Armee könnte es nicht
ertragen, wenn sie ausgerechnet von der RPF schachmatt gesetzt würde, die
im Juli 1994 in Kigali an die Macht kam, ohne mit den Verbündeten
Frankreichs auch nur verhandelt zu haben. Und in Ruanda beschränkt sich
der Vorwurf gegen Frankreich nicht nur darauf, die Täter bei ihrem
Völkermord unterstützt zu haben. Man hat auch verbittert registriert,
dass die französische Regierung – im Gegensatz zu Belgiens
Ministerpräsident Guy Verhofstadt, zu US-Präsident Bill Clinton und zu
UN-Generalsekretär Kofi Annan – noch keinerlei Reue bekundet hat.

Publiziert wurden sie schon von dem Journalisten Stephen Smith (Le Monde, 28. März 2004) und dem Buchautor Pierre Péan, "Noires fureurs, blancs menteurs. Rwanda 1990-1994", Paris, November 2005.

Gabriel Périès und David Servenay, "Une guerre noire. Enquête sur les origines du génocide rwandais (1959-1994)", La Découverte, erscheint am 25. Januar 2007.

Offiziell hatte die mit Billigung der UN im Juli 1994 beschlossene "Opération Turquoise" eine humanitäre Zielsetzung. Das Verhalten der französischen Armee ist allerdings seit jeher kritisiert worden. Diese soll die RPF, die dem Massaker militärisch ein Ende setzte, in ihrem Vormarsch behindert und den Verbrechern die Flucht ermöglicht haben.

Raphaël Glucksmann, David Hazan und Pierre Mezerette, "Tuez-les tous", Dum Dum Films und La Classe Américaine, 2004.

Libération, 28. November 2006.

Die mutmaßlichen Beweggründe der Franzosen waren folgende: Unter internationalem Druck hatte Präsident Juvénal Habyarimana schließlich in die Bildung einer Übergangsregierung eingewilligt. In ihr wären auch Minister aus den Reihen der RPF vertreten gewesen. Vor allem aber hätte das Abkommen einen Umbau der Armee nach sich gezogen, die dann zu vierzig Prozent aus Soldaten und vor allem Offizieren der RPF bestanden hätte. Da diese jünger, besser ausgebildet und kampfbereiter waren, hätten sie Offiziere wie Oberst Bagosora und andere schnell an den Rand gedrängt. Vor allem aber hätte ihre Anwesenheit gewisse undurchsichtige Geschäfte des Präsidentenclans verhindert und überdies die "Militärhelfer" Frankreichs, die sich völlig mit dem Regime identifiziert hatten, ein für alle Mal vertrieben. In den Tagen vor dem 6. April sahen viele Beobachter in Kigali Habyarimanas "Kapitulation" voraus, man gab ihm nur noch wenige Tage. Das ist auch der Grund, warum die Verantwortung für das Attentat bei gewissen Hutu-Extremisten gesehen wurde. Deren erste Aktion nach dem Abschuss des Präsidentenflugzeugs bestand tatsächlich darin, alle gemäßigten Hutu umzubringen, die das Abkommen hätten umsetzen können.

Published 18 January 2007
Original in French
Translated by Josef Winiger
First published by Le Monde diplomatique (Berlin) 1/2007

Contributed by Le Monde diplomatique (Berlin) © Colette Braeckman/Le Monde diplomatique (Berlin) Eurozine

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