Europa und die rechte Versuchung

Einen Kollateralnutzen hat der anhaltende Konflikt um die Ukraine bereits: Von der Notwendigkeit einer “neuen Erzählung” für die Europäische Union ist heute nicht mehr die Rede. Eben noch schien die große alte Erzählung – die EU als eine Frage von Krieg und Frieden – ausgedient zu haben. Doch mit der Krimkrise wird die Erinnerung an inzwischen fast 70 Jahre in Frieden und Freiheit in Westeuropa reaktiviert. Plötzlich verlieren selbst vermeintlich historische Debatten, wie jene um die 100. Wiederkehr des Ersten Weltkriegs, ihren bloß historischen Charakter, werden erstaunlich widersprüchliche Analogien hergestellt: Einerseits wird Russland mit dem österreich-ungarischen Imperium, dem Habsburger “Völkergefängnis” von 1914 verglichen – ermattet, bedrängt und am Rande der Auflösung. Andererseits wird an das fatale Appeasement des Westens gegenüber der deutschen Einverleibung des Sudetenlands erinnert. Allerdings wird dabei meist unterschlagen, dass es sich bei Hitler 1938 um einem längst zum Weltkrieg entschlossenen Diktator handelte, wovon man im Falle Putins, bei aller berechtigten Kritik an seiner Annexionspolitik, dann wohl doch nicht wird ausgehen müssen.

The official run-up to the 2014 European elections, European Parliament, Brussels. Photo: © European Union 2013 – European Parliament. Source:Flickr

In jedem Fall erleben derzeit die Europäer, wie der äußere “Feind” die eigenen Reihen wieder zusammenschweißt: Umso hässlicher Putin, desto heller strahlt die EU. Die Union entdeckt sich wieder als Schicksalsgemeinschaft. “Altes und neues Europa? Diese Einteilung ist Vergangenheit”, jubiliert die Die Zeit.1 Und Joschka Fischer sekundiert: “Vielleicht ist das der Beginn der Vereinigten Staaten von Europa.”2

Wenn es denn so wäre! Doch außer einem Übermaß an Erwartung gibt es dafür wenig Anzeichen. Zwar steckt in der Attraktivität der EU als Soft Power in der Tat potentielle Schubkraft für die europäische Integration. Allerdings hat die Sache einen entscheidenden Haken: Damit ist noch kein einziges Problem der Eurounion gelöst.3

Eurokrise heißt (noch) nicht EU-Krise

Tatsächlich gilt es zweierlei zu unterscheiden: Seit Beginn der Eurokrise wurde in aller Regel nicht das Projekt der Europäischen Union in Frage gestellt, als einer aus der Kriegserfahrung der letzten Jahrhunderte erwachsenen Werte- und Friedensgemeinschaft. Ganz anders verhält es sich dagegen mit dem Projekt der Währungsunion. An dieser sind in den letzten Jahren zu Recht massive Zweifel aufgekommen. In der Eurokrise ist aus einer Gemeinschaft der Freien und Gleichen ein knallhartes Gläubiger-Schuldner-Verhältnis geworden. Und noch ist keineswegs ausgemacht, ob die Krise überwunden werden kann – allen Meldungen von neuen “Wunderheilungen” in Griechenland zum Trotz.4 So aber ist die Sorge durchaus berechtigt, die Eurokrise könne mittelfristig doch die Europäische Gemeinschaft als solche in Misskredit bringen.

Ob dagegen die Krimkrise tatsächlich zum erhofften Geburtshelfer eines neuen EU-Bewusstseins taugt, ist zumindest zweifelhaft. Faktisch haben die EU-Institutionen in der Krise keinen Legitimationsgewinn erfahren, im Gegenteil: Wenn Europa in der Krise mit einer Stimme sprach, dann nicht mit der von Catherine Ashton, Manuel Barroso, Herman Van Rompuy und Martin Schulz,5 sondern mit der Angela Merkels. In der Krise wurde das stärkste Land Europas fast wie selbstverständlich zu seinem Sprachrohr. Und Angela Merkel – auf dem Zenit ihrer Macht, national wie international völlig unangefochten – agierte quasi als Kanzlerin ganz Europas, zu Lasten der europäischen Institutionen.

Merkel auf dem Zenit ihrer Macht

Geradezu folgerichtig führte die Krimkrise denn auch zu keinem größeren Interesse an der kommenden Europawahl. Selbst die erstmals europaweit antretenden Spitzenkandidaten der unterschiedlichen politischen Listenverbindungen konnten dem “Wahlkampf” keinen Schub verleihen.

Denn auch hier schritten die Kanzlerin und ihre Union mit schlechtem Beispiel voran. Anstatt die kommende Wahl offensiv zu einer Entscheidung über die europäischen Spitzenkandidaten Martin Schulz und Jean-Claude Juncker zu machen, plakatiert die Union nur Eine: Angela Merkel. Der christdemokratische Nationalegoismus unterläuft damit sogar auf den Plakaten die transnationale Demokratie Europas: EU-Parlament hin oder her, die deutschen Wähler, so das Signal der Unions-Plakate, sollen sich vor allem darauf verlassen können, dass die Kanzlerin auch in Zukunft nationale Interessen in Brüssel vertreten wird. Daher spricht wenig dafür, dass sich bei den großen Parteien im nationalen Maßstab etwas Grundsätzliches am Ergebnis von 2009 ändern wird. Vielmehr dürfte die Merkel-Union ihre 37,8 Prozent noch einmal verbessern. Auch der SPD wird dies um einige Prozentpunkte gelingen, was allerdings kein Kunststück ist: Schließlich stellten die damaligen 20,8 Prozent den absoluten Tiefpunkt der SPD-Geschichte dar.

Erst nach der Europawahl wird sich zeigen, was Angela Merkel mit ihrer gewaltigen Machtfülle anstellt. Von der deutschen Kanzlerin wird maßgeblich abhängen, ob der Sieger der Parlamentswahl auch der nächste, gleichzeitig zu ernennende Chef der EU-Kommission wird. Dieser wird zwar vom EU-Parlament gewählt – allerdings auf Vorschlag der nationalen Regierungschefs, die somit über die wirklich wichtigen Posten Europas entscheiden.

Unabhängig davon, ob am 25. Mai Schulz’ Sozialdemokraten oder Junckers Konservative die Nase vorn haben (was gegenwärtig noch nicht eindeutig absehbar ist) – in jedem Fall wäre die Ernennung des Wahlsiegers zum Chef der Kommission eine enorme Aufwertung des EU-Parlaments und damit ein Dienst an der Vertiefung der EU. Damit könnte Merkel europäische Größe zeigen, doch in beiden Fällen dürfte sie wenig Neigung dazu verspüren: Der wortgewaltige Schulz könnte ihr als Deutscher und Sozialdemokrat Konkurrenz machen, und der selbstbewusste Juncker war noch nie ihr Favorit. Alles spricht daher dafür, dass keiner von beiden zum Zuge kommt, sondern eher der polnische Ministerpräsident Donald Tusk.

Bereits im Oktober vergangenen Jahres hat Angela Merkel klar gemacht, dass sie “keinerlei Automatismus” sehe zwischen dem Ausgang der EU-Wahl und dem Anspruch auf Kommissionsposten. Laut EU-Vertrag sollen bei der Ernennung der Kommission zwar die Mehrheitsverhältnisse berücksichtigt werden, die wirklichen Kandidaten sollten sich nach Ansicht Merkels jedoch deutlich von den Kandidaten der Parteien unterscheiden.6 Klarer kann man die Wahl des EU-Parlaments kaum abwerten.

In eine ähnliche Richtung hatte bereits das Bundesverfassungsgericht entschieden, als es die Dreiprozentsperrklausel für die Wahl am 25. Mai kippte. Weil das EU-Parlament erst auf dem Weg sei, sich als institutioneller Gegenspieler der EU-Kommission zu profilieren, bedürfe es keiner Sperrklausel – im Gegensatz zum Bundestag, “wo die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung nötig ist.”7

Der rechte Durchmarsch

Hier zeigt sich das ganze Dilemma der realexistierenden europäischen Demokratie: Das EU-Parlament verdient bisher eigentlich seinen Namen nicht. Es wählt keine Regierung und hat nicht einmal das Recht, Gesetzesinitiativen einzubringen.

Auch aufgrund seiner aktuellen Abwertung müssen wir allerdings auf eines gefasst sein: Ob des allgemeinen Desinteresses an dieser Wahl werden diverse starke Rechtsparteien in das EU-Parlament in Straßburg einziehen. Sie nämlich haben längst ihre Chance erkannt und mobilisieren nach Kräften gegen die “EU-Bürokratie”. Spätestens am Abend des 25. Mai werden wir erkennen: Die gängigen Schwarz-Weiß-Zeichnungen – hier die aufgeklärte EU, dort die russische “Gegen-EU” (“Die Zeit”) – gehen an der Realität vorbei, der Nationalismus macht vor den Grenzen der EU nicht Halt, im Gegenteil: Die rechts-autoritäre Versuchung ist längst im Innern der Union angekommen. Entsolidarisierung und Renationalisierung greifen immer weiter um sich. In Deutschland als finanziellem Nutznießer der Eurokrise drückt sich dies bisher nur in Kleinparteien aus. So wird die Entscheidung aus Karlsruhe der NPD einen ersten Abgeordneten in einem überregionalen Parlament bescheren. Hinzu kommt die AfD, die wohl auch bei einer Dreiprozentklausel den Einzug klar geschafft hätte, nun aber mit Sicherheit mit einigen Abgeordneten im EU-Parlament vertreten sein wird.

Dramatischer ist die Lage dagegen in den Krisenländern: In Athen hat sich mit der Goldenen Morgenröte eine faschistische Partei fest etabliert. In Ungarn, das soeben die autoritäre Regierung Viktor Orbans bei den nationalen Wahlen klar bestätigte, wird auch bei der kommenden Europawahl die rechtsradikale Jobbik deutlich zulegen. Aber auch im alten, karolingischen EU-Kerneuropa, nämlich in Frankreich und den Niederlanden, stehen mit Marine Le Pen und Geert Wilders zwei Rechtspopulisten vor gewaltigen Zugewinnen. Der Front National droht sogar zur stärksten Partei in Frankreich zu werden, genauso wie in Großbritannien die United Kingdom Independence Party (UKIP) von Nigel Farage. Die fatale Ironie der Geschichte: Angesichts eines derartig rechts gestrickten Parlaments in Straßburg wird die Neigung, dieses und damit die EU zu stärken, nicht gerade zunehmen.

Angela Merkel wird sich in ihrer Form des intergouvernementalen Regierens in Europa nur allzu gern bestätigt sehen. Dabei kommt gerade Deutschland und speziell der Bundeskanzlerin eine besondere Verantwortung dafür zu, in der nächsten Legislaturperiode diesen Rechtstrend in Europa umzukehren. Alles hängt entscheidend davon ab, ob die ökonomische Krise gelöst wird. Zwar werden im Falle Griechenlands erste, wenn auch geringe Wachstumszahlen aufgetischt; zudem ist das Land soeben mit eigenen Staatsanleihen an die internationalen Devisenmärkte zurückgekehrt. Faktisch aber ist die Staatsverschuldung unverändert hoch, sehen die griechischen Wirtschaftsdaten noch schlechter aus als vor vier Jahren. So stellte die OECD unlängst fest, dass die Zahl der Menschen, denen nach eigenen Angaben Geld für Lebensmittel fehlt, inzwischen höher ist als in Ländern wie China oder Brasilien.8

Ohne eine Überwindung dieser zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung in ganz Europa wird der Kontinent daher auch seine politische Krise nicht überwinden. Mit bloßer Haushaltssanierung allein ist es dabei nicht getan: “Arbeitslosigkeit, gerade die von Jugendlichen, dürfte die Rückzahlung von Staatsschulden als das Kernproblem Europas ablösen”, prognostiziert nicht etwa der griechische Oppositionsführer Alexis Tsipras, sondern Anshu Jain, Co-Vorstandschef der Deutschen Bank.9 Ohne eine Verringerung der großen wirtschaftlichen Ungleichgewichte im Euroraum wird es daher kein stabiles Europa geben, dürfte sich der Rechtstrend folglich fortsetzen. Um Europas Kaufkraft zu stärken, muss Deutschland endlich bereit sein, einen Teil seiner Handelsbilanzüberschüsse wieder im eigenen Land zu investieren. Gegen den Nationalegoismus der Merkelschen Spar- und Unterbietungspolitik benötigen wir die Alternative eines anderen, solidarischen Europas. Nur mit Hilfe einer derartigen Politisierung der Debatte wird auch die erforderliche Zustimmung für die EU zu stärken sein.

Heute steht Europa an einem historischen Scheideweg: Auf der einen Seite droht die Renationalisierung, nun auch via Straßburg. Die Alternative dazu ist eine verstärkte demokratische Europäisierung, was jedoch keineswegs bloße Euro-Verteidigung bedeutet. Im Gegenteil: Ein primär monetäres Europa, das allein auf dem Euro gründet, gibt offenbar nicht die taugliche Antwort auf die aktuelle Krise Europas. Gerade angesichts der Krimkrise kann die EU lernen, dass ein gemeinsamer europäischer Markt samt einheitlicher Währung keineswegs ausreicht, um zu einer echten politischen Union zu werden. Ohne eine europaweite Diskussion über die Finalität – nämlich Ziel und Zweck der EU – wird die erforderliche demokratische Vertiefung Europas letztlich nicht zu erreichen sein. Die Krise um die Ukraine bietet durchaus die Chance, den Wert der EU neu zu ermessen und ihren Zusammenhalt zu stärken. Der bisherige Weg einer bloßen Erweiterung (nun auch um die assoziierte Ukraine) wird dafür allerdings nicht ausreichen.

Am Ende der Entwicklung müsste vielmehr ein politisch geeintes, demokratisches Europa stehen, mit eigenen handlungsfähigen Institutionen. Das aber verlangt den Einzelstaaten im Ergebnis einen enormen Souveränitätsverzicht ab: nämlich den Aufbau eines echten, demokratisch gewählten EU-Parlaments, das seinerseits eine europäische Regierung wählt, die über den Nationalstaaten angesiedelt ist.

Auch wenn dies momentan reichlich utopisch erscheint, spricht vor allem eines dafür: Eine derartige demokratische Machtteilung in Europa ist für niemanden so wichtig wie für die Bundesrepublik als stärkster Staat in der Mitte des Kontinents. Denn ungeachtet der gegenwärtigen Machtfülle Angela Merkels: Einen hegemonialen Zuchtmeister, ob politisch oder ökonomisch, hat Europa noch nie geliebt – und in der Regel auch nicht lange ertragen. Das jedenfalls lehrt die Geschichte.

Matthias Krupa und Michael Thumann, Stolz, Europäer zu sein, in: Die Zeit, 20.3.2014.

Christian Rothenberg, "Russen werden höchsten Preis zahlen". Fischer lobt Merkel und schweigt zu Schröder, www.n-tv.de, 21.3.2014.

Im Gegenteil: Der Assoziierungsvertrag mit der Ukraine führt zu erheblichen neuen monetären Problemen.

Vgl. Rückkehr an den Kapitalmarkt: Griechenlands dubiose Wunderheilung, www.spiegel.de, 7.4.2014.

Die drei Herren durften dafür 2012 den Friedensnobelpreis für die Europäische Union entgegennehmen.

Vgl. Merkel: EU vote not decisive on commission President, http://euobserver.com, 25.10.2013.

Zit. nach Dreiprozenthürde bei Europawahl ist verfassungswidrig, www.zeit.de, 26.2.2014.

Vgl. Rückkehr an den Kapitalmarkt: Athen will erstmals wieder Staatsanleihen ausgeben, und David Böcking und Giorgos Christides, Auktion von Staatsanleihen: Griechen misstrauen Finanzplänen ihrer Regierung, beide www.spiegel.de, 9.4.2014.

Vgl. "Die Welt", 20.3.2014; vgl. auch den Beitrag von David Stuckler und Sanjay Basu in diesem Heft.

Published 14 May 2014
Original in German
First published by Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2014

Contributed by Blätter für deutsche und internationale Politik © Albrecht von Lucke / Blätter / Eurozine

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