Europa brennt

René Scheu trifft Ulrich Beck

Deutschlands bekanntester Soziologe ist besorgt: Der alte deutsche D-Mark-Nationalismus finde sich nunmehr in den beinahe imperialistischen Strukturen der EU wieder, sagt Ulrich Beck. An den neu entstandenen finanziellen Abhängigkeiten drohe die Union zu zerreissen. Aber selbst wenn – wäre das tatsächlich so schlimm? Ein Streitgespräch.

René Scheu: Herr Beck, steht Europa eine Zeit sozialer Unrast bevor?

Ulrich Beck: Ja, und die Zeichen dafür sind in der derzeitigen Krise bereits erkennbar. Natürlich kann man sagen, dass Europa immer schon in der Krise war – das Wort “Krise” ist fast ein Synonym für Europa. Aber die derzeitige Situation verfügt über andere Merkmale. Der drohende Zusammenbruch hat die Machtlandschaften des Kontinents bereits dramatisch verändert: Wir finden eine neue, fast imperialistische Struktur zwischen Geldgeberländern und Geldnehmerländern vor. Das ist der Hintergrund aller bestehenden und kommenden sozialen Konflikte zwischen den EU-Staaten, aber auch innerhalb der EU-Staaten.

RS: Andererseits – wer bezahlt, befiehlt. Die Eurokrise akzentuiert bloss bereits bestehende Konflikte zwischen EU-Staaten und macht Überlegungsfehler sichtbar, die der Union von Anfang an anhafteten. Denn die Frage ist wirklich: Warum sollen die Deutschen gezwungen sein, für die Griechen zu bezahlen?

UB: Klar, gab es immer schon ähnliche Konstellationen zwischen Geber- und Nehmerstaaten. Aber dass sie zu einer sich beschleunigenden Dynamik von ökonomischer und sozialer Ungleichheit führen, ist eine neue Erfahrung, die erst in der globalisierten Welt in den Vordergrund tritt. Das Recht, die Grenzen, die Währung – das alles ist europäisch, nicht aber die Politik. Nun zeigt sich, dass ein grosser Teil Europas dem nationalstaatlichen Denken verhaftet geblieben ist. Die Nationen reagieren auf die sich weitende Kluft konsequent mit nationalen Selbstbehauptungsgesten. Die neuen zivilen Konflikte innerhalb der EU-Staaten spielen sich zwischen den Kräften ab, die die imperialistische Struktur für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren. Diese Gesten, das sage ich ganz offen, sind sehr beunruhigend.


RS: Wer die Lage optimistisch deutet, kommt hingegen zum Schluss: Die Eurokrise konfrontiert im Zeichen drohenden Unheils die Europäer mit der Situation, den ökonomischen und politischen Tatsachen ins Auge zu blicken. Sie müssen sich fragen, welches Europa sie denn eigentlich wollen.

UB: Das ist richtig. Wir malen den Zusammenbruch an die Wand, um ihn zu verhindern. Gleichzeitig geschieht jedoch etwas anderes. Mit der Eurokrise hat sich eine Trennlinie zwischen Ländern innerhalb der engen Eurozone und jenen in der weiteren EU etabliert. Die Euromitglieder sehen sich gezwungen, auf die Krise zu antworten, strategische Entscheide zu treffen und neue Institutionen wie die Fiskal- und Bankenunion hervorzubringen. Dies geschieht freilich unter immer geringerer Beteiligung jener Länder, die der Eurozone nicht angehören. Damit tritt hier die Konstellation zutage, über die Europa lange gestritten hat: ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Und innerhalb des schnellen, kleinen Europas hat jenes Land das Zepter übernommen, das über die grösste Wirtschaftskraft verfügt: Deutschland. Die Konsequenz ist, dass Deutschland zu einer neuen europäischen Führungsmacht aufgestiegen ist. Europa hat eine ungekrönte Königin, und sie heisst Angela Merkel. Über den Umweg unübersichtlicher Verhandlungen praktiziert Deutschland ein unilaterales System, in dem eigene Erfolgsrezepte unreflektiert auf alle anderen projiziert werden. Die Kehrseite davon ist, dass Deutschland für Fehler verantwortlich gemacht werden wird, für die es eigentlich nichts kann.

RS: Ich verstehe Ihren Punkt. Aber es ist doch nicht die Aufgabe der deutschen Bürger und Steuerzahler, die Lasten der neuen EU zu tragen. Das steht geradezu im Widerspruch zur vielgepriesenen europäischen Solidarität.

UB: So kann ein Schweizer reden, aber nicht ein Deutscher. Weil sich Deutschland als wirtschaftlich stärkstes Land darstellt und es unter den neuen Konfliktlinien zu einer Renationalisierung kommt, nimmt es eine Rolle ein, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr haben wollten. Das ganze politische Selbstverständnis seit 1945 lief in Deutschland darauf hinaus: kein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland! Elemente eines europäischen Deutschlands wären vorhanden, aber die Zeichen der Zeit weisen in die Richtung eines deutschen Europas, und zwar unter Bedingungen, die ich als deutschen Euro-Nationalismus bezeichnen würde.

RS: Eine harte Formulierung. Fakt ist: die Deutschen hatten im Gegensatz zu den allermeisten anderen Euroländern in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine starke und stabile Währung. Ist es nicht ein ökonomisches Gebot der Vernunft, die Währung stabil zu halten?

UB: Ja, gewiss, aber die Frage ist: wie? Der D-Mark-Nationalismus, den wir nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt haben, wird einfach auf den Euro übertragen. Man unterwirft Europa denselben Stabilitätsnormen und ökonomischen Vorstellungen, die man in Deutschland für erfolgreich hält. Dies mündet in die knallharte Politik nach der Devise: Entweder ihr handelt nach unseren Vorgaben oder wir entziehen euch das Geld.

RS: Ihre Darstellung scheint mir zu einseitig. Die deutsche Politik vertritt doch mehrheitlich die von Ihnen formulierte Position, von SPD über CDU bis FDP. Einzig “Die Linke” widersetzt sich. Wenn man Umfragen halbwegs trauen darf, beurteilen die deutschen Bürger die Situation freilich anders als ihre politischen Repräsentanten. Die Mehrheit sagt: Wir bezahlen für die Griechen, die jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt haben. Und es ist interessant zu sehen, was im Gegenzug eine Minderheit der griechischen Politiker und ein Gutteil der griechischen Bevölkerung sagt: Die Deutschen wollen uns wieder kolonialisieren. Griechische Medien zeichnen Frau Merkel mit einem Hakenkreuz.

UB: Solche Kriegsassoziationen müssen mit aller Kraft zurückgewiesen werden. Wer so spricht, verkennt den Kern der Sache. Es geht heute um eine ökonomische Dominanz – und dadurch um politische Macht. Anderseits bin ich auch darüber irritiert, wie wenig die neue hegemoniale Rolle Deutschlands in Deutschland selbst öffentlich debattiert wird.

RS: Auch hier führt meine Schweizer Optik zu einer anderen Beurteilung der Lage. Die deutsche Politik will den Ball zweifellos flach halten. In allen grösseren deutschen Zeitungen und Zeitschriften finden jedoch Debatten zur gegenwärtigen und künftigen Rolle Deutschlands in Europa statt – und zwar mit einer für helvetische Verhältnisse wohltuenden Direktheit.

UB: Ja, es wird viel diskutiert. Aber der Perspektivwechsel funktioniert nicht. Man sieht sich selbst nicht mit den Augen der anderen. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass wir in all der Streiterei eine Tatsache zumeist ausblenden: Deutschland hat wirtschaftlich auch enorm vom Euro profitiert – der deutsche Handelsbilanzüberschuss wäre in dieser Form ohne die Eurozone, die die meisten deutschen Exporte absorbiert, nicht möglich gewesen.

RS: Auch über diese Frage debattiert Deutschland gerade trefflich. Dass es auch einen positiven Euroeffekt für die deutsche Exportindustrie gibt, ist unbestritten – ebenso wie die Tatsache, dass Deutschland letztlich Nettozahler ist. Neuerdings haftet der deutsche Staat, also letztlich alle deutschen Steuerzahler, aufgrund des permanenten europäischen Rettungsschirms mit mindestens 190 Milliarden Euro für die Union. Das ist kein Klacks, zumal angesichts der ebenfalls beunruhigenden ausgewiesenen Staatsschuldenquote Deutschlands von über 80 Prozent implizite Verpflichtungen nicht mitgerechnet sind.

UB: Der Export bleibt für Deutschland entscheidend, und sollte der Euro auseinanderbrechen, hätte die deutsche Exportindustrie mit gigantischen Einbrüchen zu rechnen. Es liegt also im deutschen Interesse, europäisch zu handeln, also eine Haftungsgemeinschaft anzustreben, vorausgesetzt, die Partner verpflichten sich, einen “europäischen Finanzminister” zu akzeptieren. So weit konnte es allerdings nur kommen, weil die europäischen Institutionen für die Krise nicht gewappnet waren.

RS: Wie meinen Sie das?

UB: Die EU verfügt über keine eigenen Steuereinnahmen. Bei europäischen Wahlen stehen meist nationale Themen im Vordergrund. Wie kann dabei eine europäisch-demokratische Bürgergesellschaft entstehen? Die EU ist letztlich immer noch ein Bund von Nationalstaaten, in dem letztere das Sagen haben. Das rächt sich nun.

RS: Es ist in der Tat erstaunlich, dass in all diesen übereilten Krisengipfeln und Diskussionen jene Vertreter kaum zu Wort kommen, die das Schicksal der EU schliesslich allein angeht: die Bürger.

UB: Das stimmt. Ich habe mit Daniel Cohn-Bendit vor einigen Monaten ein Manifest verfasst: “Wir sind Europa”. Das Überraschende war, dass alle, die in Europa Rang und Namen haben, ihre Unterschrift unter das Manifest gesetzt haben. Wir haben dazu aufgefordert, Europa von unten her neu zu gründen. Denn selbst wenn wir in Europa eine Antwort auf die Eurokrise finden würden, bleibt die Frage: Wo ist der europäische Bürger?

RS: Ja, wo ist er?

UB: Er hatte noch kaum Gelegenheit, eine eigene europapolitische Identität zu entwickeln. Wir plädieren in unserem Manifest dafür, für alle ein freiwilliges Europajahr einzurichten. Was Schüler und Studenten schon praktizieren, soll auf europäischer Ebene für alle gelten, Rentner, Theologen, Beamte, Handwerker. Das Bürgerengagement wird auf eine europäische Ebene übertragen und trägt dazu bei, dass ein europäisches Gesellschaftsbewusstsein entsteht.

RS: Ihr europäischer Idealismus in Ehren, aber die Rede von einer europäischen Identität ist reichlich abstrakt, sozusagen eine Kopfgeburt. Denn was sollte das sein? Ein Schwede und ein Grieche könnten im Hinblick auf Staatsverständnis, Mentalität, Kultur unterschiedlicher kaum sein.

UB: Sie gehen von Europa als nationaler Identität aus. Gerade das trifft auf Europa nicht zu. Niemand ist nur Europäer. Aber alle sind auch Europäer. Im übrigen: auch der Nationalstaat war eine Kopfgeburt, und bei allen Problemen, die er mit sich gebracht hat, so hat er doch geholfen, Identität zu stiften. Eine europäische Identität würde sich freilich darin unterscheiden, dass das nationalstaatliche Entweder-oder-Denken – entweder wir oder die – überwunden würde; sie wäre vielfältiger, offener, toleranter.

RS: Für mich klingt das eher so, als würde der Nationalismus einfach eine Ebene nach oben gehievt – mit dem Ziel, dass am Ende einer solchen Entwicklung ein europäischer Supernationalstaat steht. Den Reichtum Europas sehe ich demgegenüber in der Differenz, der Vielfalt, dem Wettbewerb von Gesellschaften und Staaten.

UB: Sie denken Europa im nationalen Blick. Das ist falsch. Europa ist keine Nation und wird es nie werden. Ja, die Differenz, die Anerkennung der Vielfalt – das ist Europa. Ich habe das “kosmopolitisches Europa” genannt. Es geht um Anerkennung der Andersheit der anderen – nach innen und nach aussen. Das Ziel wäre es eben, ein solches weltoffenes Europa von unten zu schaffen, das Haus der Demokratie, das teilweise bereits existiert, zu beziehen, zu bewohnen – eine Verwurzelung und Verbreiterung der Demokratie im transnationalen europäischen Raum. Angenommen, diese Praxis eines europäischen Jahrs entstünde, so würden damit Netzwerke von Erfahrungen und Wünschen entstehen, die dann auch gegen das “Brüssel-Europa”, das den Menschen fremd geblieben ist, geltend gemacht werden könnten. Die Frage ist doch: Wie will sich Europa selbst organisieren?

RS: Also würden Sie das alte politische Projekt EU bloss durch ein neues politisches Projekt ersetzen – und wären mit denselben Problemen und Schwächen konfrontiert.

UB: Gerade nicht! Die heutige EU ist ein Eliteprojekt der ersten Stunde, von oben geplant und durchgeführt. Man hat immer gedacht: Wir Technokraten wissen letztlich besser als die Bürger, was für sie selbst gut ist. Die Eurokraten haben demokratische Institutionen geschaffen, aber unklar gelassen, wie sich diese zum nationalen Rahmen verhalten. Und wir haben es bisher nicht geschafft, die in Nationalstaaten lebenden Menschen an europäischen Prozessen zu beteiligen.

RS: Ich sehe: In dieser Frage werden wir uns nicht einig. Ich komme darum zurück zur Frage der sozialen Unrast, die in der Tat eine europäische Dimension angenommen hat. Brennende Autos in den Banlieues in Frankreich, die Indignados in Spanien, die Ereignisse in London von letztem Sommer: Was haben diese Aufstände miteinander zu tun?

UB: Wir haben in Europa eine Generation gut ausgebildeter junger Leute, die vor den verschlossenen Toren des Arbeitsmarktes stehen. Die Paradoxie besteht darin, dass diese junge Generation besser ausgebildet ist als je zuvor und wir trotzdem eine Arbeitslosigkeit von bis zu 50 Prozent haben – in Spanien und Griechenland, aber auch in Grossbritannien, Frankreich; sehr viel weniger in Deutschland, wo die real existierende Arbeitslosigkeit mit flexiblen Zeitarbeitsmodellen überspielt wird. Eine der entscheidenden Fragen ist in der Tat: Wie kann es sich dieses alternde Europa leisten, seine Jugend aus dem Arbeitsmarkt auszuschliessen? Wir wissen aus historischen und soziologischen Analysen, dass es die durch Krisen zerriebene Mittelschicht ist, in der die grössten Protestpotentiale schlummern. Werden sie aktiviert, sind die Wirkungen kaum mehr zu kontrollieren.

RS: Die Jungen von heute sind die Sündenböcke der Politik von gestern. Sie wollen arbeiten, können aber nicht. Sie leben im Prekariat. Es ist trotz der ständigen Verabreichung politischer Beruhigungspillen davon auszugehen, dass sie irgendwann aus ihrem Schlummer erwachen.

UB: Das Prekariat ist das Ergebnis der neuen Risikogesellschaft im Beschäftigungssystem: Es trifft stets die, die am wenigsten zu sagen haben. Das ist eine Situation, deren Brisanz noch kaum begriffen wurde. Die neuen Generationen sind vernetzt, verfügen über neue Kommunikationsmöglichkeiten und sind hochgradig individualisiert. Und das Interessante dabei: sie sind vielleicht die Vorreiter der Bildung einer europäischen Identität. In allen Rubriken nationaler Zeitungen wird auf den ersten Seiten über Unruhen in anderen Städten und Ländern berichtet. Die neuen Mitglieder des europäischen Prekariats beginnen ein gemeinsames europäisches Schicksal zu erleben. Wir wurden von einem “arabischen Frühling” überrascht. Vielleicht wird es auch einen “europäischen Frühling” geben?

RS: Das wäre freilich eine destruktive Art der Identität. Und es wäre wohl nicht die, die Ihnen vorschwebt.

UB: Es ist eine paradoxe Art von Identitätsbildung. Die Geschichte hat gezeigt, dass auch der Nationalstaat aus solchen paradoxen Krisen hervorgegangen ist. Damals haben sich über Feindbilder nationale Identitäten gebildet. Heute sind es nicht mehr andere Nationen, sondern andere Institutionen, die als Feindbilder dienen, die Banken, die etablierte Politik selbst. Ich hoffe, dass die Krise, positiv gewendet, ein Stück Europabewusstsein erzeugt.

RS: Das wäre die optimistische Variante. Die pessimistische Variante lautet: Die soziale Unrast nimmt in einzelnen Ländern zu und führt zu sozialen Spannungen, im Extremfall zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

UB: Kein vernünftiger Mensch kann gegenwärtig die Möglichkeit von Revolutionen, Ordnungs- und Staatszerfall ausschliessen. Es geht nicht nur um Ökonomie, um den Euro, es geht um die Werte Europas. In Griechenland wird längst offen Jagd auf Immigranten gemacht.

RS: Das sind bereits Zerfallserscheinungen. Wird es in naher Zukunft europäische “Failed States” geben?

UB: Es kann zu einer Negativdynamik kommen, in der Staaten mitten in Europa zerfallen. Es ist für mich unbegreiflich, wie Leute glauben oder hoffen können, dass sich Europa zurückentwickelt in die Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts – als Fortschritt! Als Antwort auf globale Finanzrisiken, Klimawandel! Das, so glaube ich, wäre tatsächlich eine Katastrophe. Die Vorstellung, man könne die zutiefst miteinander verbundenen europäischen Realitäten einfach auseinanderdividieren, ohne dabei immense Kosten und Zusammenbrüche zu verursachen, ist eine grosse Illusion. Man spricht über die Kosten der Griechenlandrettung. Aber man schweigt über die Kosten, die entstünden, wenn alles zusammenbräche. Mit gutem Grund – sie sind unvorstellbar.

RS: Nun stimmen Sie aber in die neue politische Rhetorik ein, die nach folgendem Muster funktioniert: Es gibt keine Alternative, es gibt nur einen Weg, die Flucht nach vorne. Damit erweisen Sie dem von Ihnen favorisierten Europa einen Bärendienst – die Bürger entfremden sich von der Politik immer weiter, bis sie am Ende den Glauben an die Politik ganz verloren haben und für radikale Botschaften empfänglich werden.

UB: Wir wohnen einer politischen Gratwanderung bei, da haben Sie recht. Es gehört zum Wesen einer echten Krise, dass es keinen Königsweg gibt. Täglich werden neue Entscheidungen getroffen, deren Wirkungen nicht absehbar sind. Darum plädiere ich für einen kosmopolitisch-europäischen Blick, der in allen politischen Gremien und Entscheidungen präsent sein sollte. Die meisten haben längst erkannt, wollen aber nicht zugeben, dass die neuen Nationalstaaten nicht die alten Nationalstaaten sind. Sie sind durchgängig europäisiert. Um das einfache und eingängige Bild zu gebrauchen: Europa ist wie ein Rührei, und wer das Gelbe vom Weissen trennen will, muss scheitern. Trotzdem handeln wir so, als würden wir nach wie vor im 19. Jahrhundert leben. Die lebensweltliche Realität ist eine andere. Der einzig “autonome Nationalstaat” ist heute, zugespitzt gesagt, Nordkorea. Ist das das Idealbild der Nationalisten? Wir sollen alle werden wie Nordkorea? Wir sind bis in die Knochen, die Blutbahn und bis in das Hirn hinein längst kosmopolitisiert. Mental sind wir jedoch nach wie vor Gefangene des Nationalstaates.

RS: Nationalstaaten sind letztlich künstliche Gebilde, die ohne die Zustimmung der Bürger zustande kamen. Handel treibende Nationalstaaten hüten sich jedoch davor, einen Krieg anzuzetteln. Die letzten 70 Jahre des Friedens im nationalstaatlich geprägten Europa sind der beste Beweis dafür. Warum dieses Nationalstaaten-Bashing?

UB: Europa hat das Wunder vollbracht, wie aus Feinden Nachbarn werden. Dabei haben sich Praxis und Verständnis von Nationalstaaten in den letzten 70 Jahren radikal verändert. In einer Welt voller Interdependenzen – die Angelsachsen sprechen von “Interconnectedness” – wird der Nationalismus zum Feind dessen, was bis heute Nation heisst. Denn das nationale Interesse setzt mittlerweile voraus, dass man mit den anderen kooperiert, dass man sich mit ihnen vernetzt, um die Probleme, die in einer globalisierten Welt stets gemeinsame Probleme sind, auch gemeinsam zu lösen. Wir haben allzu lange an der Gegenüberstellung von vereintem Europa und alten Nationalstaaten festgehalten – und dabei nicht bemerkt, wie stark die Konzepte längst miteinander verschmolzen sind. Ich spreche von “kosmopolitischen Nationen”. Nun ist es höchste Zeit, dass wir uns über ein kosmopolitisches Europa Gedanken machen – und uns fragen, wie sich in dieser neuen Ordnung demokratische Mitsprache und Bürgerengagement auf überzeugende Weise verwirklichen lassen.

Published 8 October 2012
Original in German
First published by Schweizer Monat 10/2012

Contributed by Schweizer Monat © Ulrich Beck, René Scheu / Schweizer Monat / Eurozine

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