Allfällige Gedenktage und Gedankenjahre führen vor Augen, wie verschieden, oft auch konträr in Europa die Erinnerungen sind. Der verbreiteten Deutung des 8. Mai 1945 als “Tag der Befreiung” können vor allem Sprecher jener Nationen nicht beipflichten, bei denen die deutsche Besatzungsherrschaft nahtlos und auf Jahrzehnte in sowjetische Besatzung überging. Ein Symbol dafür waren die neun Speziallager, welche die Sowjetische Militäradministration (SMAD) von 1945 bis 1950 in Ostdeutschland unterhielt, und zwar an Orten, die zuvor der SS für Konzentrationslager gedient hatten, und es ist frappierend, wie nahtlos zwei totalitäre Diktaturen mit ihrem Wesensmerkmal, dem Lagersystem, ineinander griffen. Einzelne Häftlinge fanden sich zweimal im selben Lager, erst als Gegner des Nationalsozialismus, dann als “konterrevolutionäre” Agenten oder Sozialdemokraten.
Es ist nicht leicht, an solchen Orten ein Gedenken zu inszenieren, das die tragische Doppel-Erfahrung im gebotenen Respekt überliefert, ohne die totalitären Phänomene gleichzusetzen. Dazu muss die zeitliche Abfolge der beiden Diktaturerfahrungen ebenso berücksichtigt werden wie die fatale Einheit des Ortes. Für den Einzelnen war völlig gleichgültig, welchem System er zum Opfer fiel, aber analytisch bleibt die Differenz wichtig, und sie muss sich in Ritualen der Erinnerung niederschlagen. Das Haus des Terrors in Budapest, wo 1945 die Kommunisten in die Folterstätte der nationalsozialistischen Pfeilkreuzler einzogen, gilt als mißlungenes Beispiel für die Aufarbeitung der Geschichte des “Jahrhunderts der Extreme” (Hobsbawm). Selten gelingt die Balance auf Anhieb, in der Regel stellt sich eine unselige Hierarchie und Konkurrenz der Opfergruppen ein, die weniger “braune” und “rote Diktatur” gleichsetzt als eine kollektive Erfahrung gegen die andere aufrechnet. Ein zynischer body count soll die “andere Seite” zum Schweigen bringen.
Wer das “Holocaust-Gedächtnis” in den Vordergrund rückt, stuft oft, bewusst oder unbewusst, stalinistischen Terror geringer ein oder entschuldigt ihn damit, dass der Kommunismus – anders als der Nationalsozialismus – humane Absichten verfolgt und fortschrittliche Letztbegründungen gehabt habe. Wer das “GULag-Gedächtnis” mobilisiert, übersieht oft, wieder bewusst oder unbewusst, die Verstrickung von Opfern des Stalinismus in die Kollaboration mit dem Nationalsozialismus. Und wer diese herausstreicht, verharmlost womöglich die poststalinistische Diktatur bis 1990 und ignoriert, dass Teile Osteuropas schon vor der Besatzung durch die Nazis in Folge des Pakts der Sowjetunion mit dem Deutschen Reich von russischen Truppen besetzt und “gesäubert” wurden.
So droht das alte Cui bono? des Kalten Krieges über die Wahrheit zu siegen und wird die politische Teilung des Kontinents verewigt. Seit 15 Jahren bestreiten die nachkommunistische Linke und die vorkommunistische Rechten mit vergangenheitsbezogenen Vorwürfen den politischen Tages- und Wahlkampf; bei Postkommunisten entdeckt man den unbelehrbaren roten Kern, die bürgerlich-konservative Seite wird entsprechend braun eingefärbt. Oder man nutzt den Schnelldurchgang durch zwei Diktaturen, um ganze Nationen reinzuwaschen, indem allfällige Verfehlungen als bloße Begleiterscheinung durchgängiger Okkupation deklariert werden.
Der Schriftsteller Jorge Semprun, einst Mitglied der Kommunistischen Partei Spaniens und von 1943 bis 1945 Häftling in Buchenwald, erklärte zum 60. Jahrestag der Befreiung der nationalsozialistischen Konzentrationslager, die EU-Erweiterung könne kulturell und existentiell erst dann gelingen, “wenn wir unsere Erinnerungen miteinander geteilt und vereinigt haben werden.” Die Behauptung, die Zukunft Europas hänge von gemeinsamer Erinnerung ab und die Bearbeitung einer diktatorischen Vergangenheit sei unabdingbar für die Demokratisierung, ist keineswegs Gemeingut. Die meisten plädieren für ein baldiges und möglichst komplettes Vergessen der Schmerzensgeschichte – also für kollektive Amnesie und Amnestie. Doch hat Semprun Recht: Forciertes Vergessen bedeutete praktisch, dass Täter das Leid von Opfern, womöglich ihrer Opfer ignorieren. Nationales Selbstbewusstsein durch dritte Standpunkte zu objektivieren, ist sicher schwierig. Denn während Nationalgeschichte auf eigene Triumphe verwies, ist eine supranationale Erinnerung in der Anerkennung eigener Missetaten und fremder Opfer begründet.
Weitere Faktoren bedingen angeblich die Uneinheitlichkeit und Asymmetrie der europäischen Erinnerung. So behauptet man, der Zweite Weltkrieg (und darin ja erst seit 20 oder 30 Jahren eingeschlossen: der Mord an den europäischen Juden) sei eine Erfahrung, die alle Europäer gemacht hätten, während die Diktatur Stalins und der Realsozialismus den Osteuropäern vorbehalten geblieben sei. Dagegen spricht, dass der Holocaust auch in England oder Portugal bei weitem nicht die Aufmerksamkeit genießt, die er nach Jahren geschichtspolitischer Bemühungen mittlerweile auch in Frankreich oder Polen fand. Die singuläre Stellung der Juden im “Dritten Reich” hat in den Narrativen nach 1945 weitergewirkt, während der stalinistische Terror “stochastisch” war, also buchstäblich jeden jederzeit treffen konnte und advocacy in diesem Sinne nicht hergestellt hat, es sei denn, ganze Völker werden zu Opfern stilisiert, wie im Baltikum.
Dass die kommunistische Diktatur im westlichen Gedächtnis eine untergeordnete Rolle spielt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs starke kommunistische Parteien aktiv waren, die vor stalinistischen Praktiken nicht gefeit waren; affiziert davon waren noch die antiautoritären Protestbewegungen, besonders mit ihrer China-Begeisterung und der leichtfertigen Adaption des Maoismus. Bedeutender für die Mitverantwortung des westlichen Europa am Kommunismus ist noch, wie sich Westeuropa mit kommunistischen Regimen zu arrangieren verstand; zur Wahrung der friedlichen Koexistenz und Vermeidung einer atomaren Konfrontation blieb der andere Teil Europas seinem Schicksal überlassen.
Die Autosuggestion, der Westen sei von Stalin nicht betroffen gewesen, bricht aber endgültig zusammen, wenn damit keine vergangene Erfahrungs- und Leidensgemeinschaft gemeint ist, sondern die Problemgemeinschaft von heute. Dass diese besteht, zeigen die aus der Erfahrung des sowjetischen Totalitarismus bedingten Reflexe, wenn Polen und Letten im Irak-Krieg wie selbstverständlich an die Seite Amerikas treten lassen.
Braucht Europa eine gemeinsame Erinnerung? Sind es nicht eher Werte oder Interessen oder äußere Gefahren, die das vereinte Europa zusammenhalten? Andererseits: Können Gruppen und Gemeinschaften, kann eine moderne Gesellschaft ohne gemeinsame Erinnerung funktionieren? Die klassischen Nationen Europas haben das verneint und gefunden, man benötige einen Vorrat an geteilten Erinnerungen, um innerhalb gesetzter Grenzen solidarisch handeln zu können. Was ist dann mit dem vereinten Europa?
Der den Europäern angebotene negative Gründungsmythos des Holocaust wirkt auf den ersten Blick plausibel, insofern Antisemitismus und Faschismus gesamteuropäische Erscheinungen waren und der Mord an den europäischen Juden ohne die breite Kollaboration europäischer Regierungen und Menschen unmöglich gewesen wäre. In diesem Sinne hat das Stockholm International Forum on the Holocaust den allzuständigen Auftrag für Gegenwartsbewältigung und Prävention. Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg! wurde zum europäischen Handlungsmotiv, als der Krieg in Jugoslawien Westeuropa in den 1990er Jahren zu Entscheidungen zwang, die zur Umkehrung der alten Parole führten: Nie wieder Auschwitz, also humanitäre militärische Intervention! Innen- wie außenpolitisch wurde die Holocaust-Erinnerung im Übrigen ein “weiches” Beitrittskriterium, wenn Kroaten, Bosniern und Serben eine Aufarbeitung der Vergangenheit nach europäischen Standards und speziell der Türkei die Anerkennung des Genozids an den Armeniern im Ersten Weltkrieg nahe gelegt werden.
Aber die Hoffnung, Europa könne man in einer gemeinsamen Erinnerung an den Holocaust einen, wird fragwürdig, wenn sie der Aufarbeitung kommunistischer Menschheitsverbrechen in Osteuropa als Matrix vorgegeben würde. Schon die Rede vom “roten Holocaust” erweckt den Eindruck, der Nachweis kommunistischer Verbrechen an sich würde nicht genug Beweiskraft entfalten. Und das “heiße Gedächtnis” der ostmitteleuropäischen Zeitgeschichte ist nicht die Judenverfolgung, es sind die Folgen der sowjetischen Besatzung und, in zweiter Linie, eigene Beiträge zur kommunistischen Diktatur. Für ein genuin europäisches Erinnern ist damit ohnehin nicht viel erreicht. Die ungarische Soziologin Eva Kovacs hat gezeigt, wie das aus den USA importierte Holocaust-Gedächtnis zum Universalcontainer für Erinnerung an ganz verschiedene Opfergruppen werden konnte, speziell seit dem Jugoslawienkrieg unter dem Oberbegriff “ethnische Säuberungen”. Damit kann man zwar die universale Ablehnung rassistisch oder religiös motivierter Vertreibung unabhängig vom Ereignis moralisch begründen, aber die konkrete Erinnerung an die fast totale Auslöschung der Juden in Europa wird damit ortlos, der historische Bezug zu Tätern und Opfern geht verloren. Es wäre paradox, wenn am Ende überhaupt weniger der Opfer von Nationalsozialismus und Kommunismus gedacht würde als – der Vertriebenen, die so allgemein gesprochen ebenfalls “ethnischen Säuberungen” zum Opfer gefallen sind und damit zur behaupteten Signatur des 20. Jahrhunderts zählen.
Die Schwierigkeit der europäischen Erinnerungskultur besteht folglich darin, das Singuläre an der industriell-bürokratischen Vernichtung der europäischen Juden herauszustellen, ohne sie damit dogmatisch dem historischen Vergleich zu entziehen und die Ausrottung der “Klassen- und Volksfeinde” im sowjetischen Machtbereich herunterzuspielen.
Grundsätzliche Bedenken gegen eine Europäisierung der Erinnerung kommen von Verfechtern eines Europa der Vaterländer, denen jede pathetische Aufspreizung des Europa-Gedankens suspekt ist, wenn zugleich supranationale Gremien die Souveränität der Mitgliedsstaaten beeinträchtigen und in Verfassungen eingreifen. Wer solche Gefahren wittert, wird die gesamteuropäische Kommemoration für eine Überanstrengung halten, die am Ende nur alte Konflikte anheizt. Europa ist in dieser Sichtweise vorrangig eine Interessengemeinschaft, die ihrem Wesen nach als Freihandelszone prosperiert und nur bei massiven Angriffen von außen kollektiv handelt; memorabel sind Abwehrschlachten gegen äußere Feinde und Barbaren wie die Nazis, deren Niederringung im Mai 1945 Gemeingut ist. Sollen wir uns erst gar nicht auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts besinnen und sie lieber reflektiert “vergessen”? Der spontan einsichtige Impuls hat prominente Fürsprecher gefunden, aber Demokratisierungsprozesse in Übergangsgesellschaften – und das waren nach 1945 alle europäischen Nationen! – bleiben ohne kritischen Durchgang durch die eigene Vergangenheit prekär. Sicher kann und soll man an die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration nach 1945 erinnern. Aber wer einer europäischen Gesellschaft politische Identität geben möchte, wird die Erörterung und Anerkennung strittiger Erinnerungen ebenso hochschätzen wie Vertragswerke, Währungsunion und offene Grenzen.
Erinnerung lässt sich nicht durch Staatsakte und Gedenkrituale wie zum 8. Mai oder 27. Januar regulieren. Europas kollektives Gedächtnis nach 1989 ist ebenso vielfältig wie seine Nationen und Kulturen. Die Inhalte kann man nicht vorschreiben, wohl aber Formen respektvoller Auseinandersetzung einüben. Europäisch kann mit anderen Worten der Weg sein, Dissense und offene Fragen an die Geschichte zu erörtern und daraus behutsam Lehren für die Gegenwart der europäischen Demokratien zu ziehen.
Der Artikel wurde 2006 im Rahmen eines Senior Fellowships der Körber-Stiftung am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien erarbeitet.
Published 20 December 2006
Original in German
Contributed by Transit © Claus Leggewie / Transit / Eurozine
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