Enzyklopädist des Internationalen
Ein Gespräch mit Antonin J. Liehm
Antonin J. Liehm, 1924 in Prag geboren, hat sein Leben der Überwindung der intellektuellen Teilung Europas verschrieben. In Westeuropa machte ihn sein 1984 gegründetes Zeitschriftennetzwerk Lettre internationale bekannt, doch der kosmopolitische Publizist und Cinéast hat in seinem Leben zwischen Prag, Philadelphia, New York und Paris zahlreiche weitere Angriffe auf den “Provinzialismus der großen Kulturen” geführt. Sie sind in diesem Gespräch ebenso Thema wie die Enzyklopädisten, Karl Marx und Antonin Liehms Großmutter. Im Grunde aber geht es immer um das Eine: die Idee einer internationalen Zeitschrift.
Roman Schmidt: Wo wollen wir beginnen?
Antonin Liehm: Im Jahr 1945. Ich war 21 Jahre alt und hatte in Prag zusammen mit E.F. Burian, dem berühmten Theatermacher, die Wochenzeitschrift Kulturni politika (Kulturpolitik) gegründet. Kulturni politika war eine pro-kommunistische Kulturzeitschrift, aber keine Parteizeitschrift, sie wurde zuletzt vom Schriftstellerverband herausgegeben. Ich war zwar Mitgründer, aber in vielerlei Hinsicht der Kleinste in der Runde. Jedenfalls verstand ich nichts vom Zeitschriften machen. Glücklicherweise gab es um mich herum, im Beirat, tschechoslowakische Intellektuelle, die mich anleiteten. Mit ihnen traf ich mich wöchentlich und dann blieben sechs Tage, um das Heft fertig zu stellen.
Nebenher arbeitete ich seit 1948 in der Presseabteilung des Außenministeriums. Der ehemalige tschechoslowakische Außenminister Clementis hatte mir den Posten verschafft. 1952 wurde er im stalinistischen Slansky-Prozess gehängt, es waren überhaupt schwere Jahre zwischen 1948 und 1956. Was meine kleine Geschichte angeht, so flog ich aus dem Außenministerium raus und Kulturni politika wurde eingestellt. 1956 stellte man mich wieder ein, nur um mich vier Jahre später wieder zu entlassen. So war die politische Konjunktur. Aber in diesem Jahr bin ich zu Litérarní noviny gekommen.
RS: Litérarní noviny, die große Unbekannte. Erzählen Sie doch bitte, welche Rolle diese Zeitung für das intellektuelle Leben in der Tschechoslowakei spielte.
AL: Dafür werden wir noch einmal einen Schritt zurückgehen. Sie müssen wissen, dass es vor dem zweiten Weltkrieg mit Lidové noviny (Volkszeitung) eine große linksliberale Tageszeitung gab, die deutlich intellektuell geprägt war. Mit dem Argument, der Schriftstellerverband brauche nur eine Zeitschrift, sollten Lidové noviny und Kulturní politika Ende der 1940er Jahre zu einer neuen Zeitschrift fusionieren. Der Schriftstellerverband würde dadurch eine Zeitung bekommen – aber eben nur eine. Es folgte unweigerlich das zweite Argument, nämlich: ein Schriftstellerverband brauche doch keine Tageszeitung. Auch die russischen Genossen hätten keine Tageszeitung, sondern mit Literaturnaja Gazeta (Literaturzeitung) ein Wochenblatt. Prag würde auch nur eine Wochenzeitung bekommen und diese solle heißen wie ihr russisches Pendant, auf tschechisch also: Litérarní noviny. Die Mitarbeiter sollten von den eingestellten Kulturní politika und Lidové noviny kommen, doch genau das geschah nie.
Der Titel blieb dennoch, die Titel bleiben immer, und die Tschechoslowakei hatte mit Litérarní noviny schließlich eine neue, streng stalinistische Wochenzeitung. So blieb es bis zum Tauwetter von 1956. Dann allerdings öffnete sich die Zeitung, es gab mehr Raum für lebendige Kunst und Literatur, sodass ich, als ich 1960 aus dem Außenministerium rausflog, in eine deutlich veränderte, offene Litérarní noviny eintreten konnte. Die Zugehörigkeit zum Schriftstellerverband verlieh ihr einen zusätzlichen Freiraum, den die Parteizeitungen nicht hatten. Im Jahre 1960/61 gelang es uns schließlich, in einer Art inneren Revolution die Redaktionsleitung zu übernehmen: Der alte Chefredakteur wurde abberufen. Wir konnten nun Dinge veröffentlichen, die seit ’48 niemand mehr hatte bringen können. Soweit es ging, reizten wir den neuen Freiraum aus. Die Auflage stieg enorm: 130.000 am Beginn der 60er Jahre. Wir machten Politik durch Kultur, Theater, Literatur und Philosophie. Man las uns als eine politische Zeitung im Medium der Kultur. Eine kulturpolitische Zeitschrift, in der Tradition jener an die Intelligenz gerichteten Zeitungen der 1920er Jahre. Das also war Litérarní noviny in den 1960er Jahren und ich glaube sagen zu können, dass sie eine sehr gute Zeitung war.
RS: Welchen Sinn macht es, Litérarní noviny und die spätere Bewegung der Dissidenten in Beziehung zu setzen?
AL: Man muss hier vorsichtig sein und zwei Generationen auseinander halten, die im Westen gerne amalgamiert werden. Die Generation der Litérarní noviny war nicht, was man später die Dissidenten nannte. Havel und andere, die Liberalen der 70er und 80er Jahre, hatten ihre eigene kleine Zeitschrift. Sie wussten, wohin sie wollen. Ich glaube nicht, dass man das von uns sagen kann, wir wussten nur, was wir nicht wollen. Wir waren eine kommunistische Reformbewegung, keine Dissidenten, der Begriff passt hier nicht. Vergessen Sie die Zeit nicht: Wir reden über die Breschnew-Ära, da war an einen Umsturz gar nicht zu denken.
RS: Entschuldigen Sie, wenn ich an dieser Stelle – und etwas generalisierend – eine Frage stelle, die mir vielleicht nicht zusteht: Warum erfährt Europa heute so wenig Solidarität von den osteuropäischen Intellektuellen, die früher zurecht den Mangel an Solidarität der westeuropäischen Intellektuellen beklagt hatten? Sollten sich diese Leute nicht wehren, wenn, wie im Irakkrieg geschehen, ein neuer Keil zwischen die europäischen Regionen getrieben wird?
AL: Sehen Sie es so: Wovon träumten die osteuropäischen Intellektuellen damals? Von Europa. Und heute? Von Amerika. Aber von Amerika wissen sie nichts und von Europa wissen sie nichts mehr. Es ist eine große Unsicherheit zu spüren, wenn Sie genau hinhören. Ich glaube, dass dies auch mit dem Status der Kultur zu tun hat: In Osteuropa war Kultur äußerst wichtig und präsent im öffentlichen Leben, heute ist sie dort völlig unwichtig geworden. Die Schriftsteller haben Existenzängste, einige exponierte Personen ausgenommen. Ihre Pensionen sind weggebrochen, die Literatur bringt ihnen nichts mehr ein. Da heißt es: Machen, was einem angeboten wird, vor allem aber den Mund halten.
Aber ich möchte noch einmal auf meine Generation und unsere Situation bei der Litérarní noviny zurückkommen. Vielleicht lässt sie sich mit einer Geschichte beschreiben: Frankreich zur Zeit Ludwigs des XV. wie des XVI. war ein totalitärer Musterstaat. Das Volk hatte keine Rechte, die herrschende Klasse alle Rechte und die Ideologie wurde von der Kirche überwacht. In diesem Klima treffen sich Mitte des 18. Jahrhunderts vier Menschen, allesamt Angehörige der herrschenden Klasse, bei einem kleinen Buchhändler und Verleger. Sie beginnen, mehrmals jährlich kleine Hefte herauszugeben über tabuisierte Fragen, Tatsachen, Probleme… Das und nichts anderes ist die große Encyclopédie: kleine Hefte.
RS: Eine Keimzelle…
AL: Ja, und zwar eine mit sehr großem Einfluss auf das gesamte Denken, obwohl sie im totalitären Staat natürlich rigide überwacht wurde. Allerdings, und das war ihr Glück, von Malesherbes, der als Chef der Zensur seine schützende Hand über die Veröffentlichung hielt. Eine Zeitschrift braucht solche Verbündete. Der Encyclopédie gelang es mit der Zeit, in die herrschende Ideologie durchzudringen, sie zu infiltrieren und progressiv zu verändern. Sie zerstörte, natürlich zusammen mit anderen Faktoren, die Hegemonie der Kirche in Fragen der Ideologie. Und dann gab es die unehelichen Kinder dieser gelehrten Blätter: Manifeste und Pamphlete, die zirkulierten und die Bewegung der Aufklärung in eine politische umschlagen ließen. Diderot, Voltaire, d’Alembert und Holbach waren keine Revolutionäre, sie wollten das System grundsätzlich reformieren und mindestens “englische Verhältnisse” in Frankreich herbeiführen. Erst als sie bereits nicht mehr lebten, formierte sich in der Krise – und gegen den Hunger – jene politische Bewegung, die in der Revolution kulminierte.
RS: Litérarní noviny waren gleichsam die Enzyklopädisten von Prag ’68?
AL: In gewisser Weise, ja. Litérarní noviny spielte strukturell, zusammen mit anderen, die Rolle, die der Enzyklopädie in Frankreich zukam. Ein besonderer Ort in einem totalitären Staat. Sie müssen zudem die Auflage bedenken: 130.000 in so einem kleinen Land und die Zeitung war jeden Donnerstag in zwei Stunden ausverkauft. Wenn Sie die Möglichkeit haben, das über einige Jahre zu machen, können Sie sich schon einbilden, Einfluss zu haben. 1968 war in diesem Sinne nur der Höhepunkt und leider das Ende von etwas, nicht der Anfang. Im Westen redet man immer von “Prag ’68”, wenige sprechen davon, wie es dazu kam. Übrigens sah es zunächst so aus, als würden wir Reformkommunisten es tatsächlich schaffen: Die Zensur kippte im Frühjahr 1968 und man überließ uns ihr ehemaliges Gebäude für die Redaktion der Litérarní noviny. Sie sollte, wieder unter dem Titel Lidové noviny, zu einer Tageszeitung ausgebaut werden, zu deren Chefredakteur man mich ernannte. Wir wollten am 15. September Einzug feiern. Am 28. Oktober 1968, dem tschechischen Nationalfeiertag, sollte dann die erste Ausgabe von Lidové noviny als Tageszeitung erscheinen. Nun, wie sie wissen, rollten am 21. August die Panzer der Roten Armee in Prag ein.
RS: Sie verließen die Tschechoslowakei 1969 und lebten zunächst in Paris. Was wurde aus ihren Zeitungsplänen?
AL: Litérarni noviny wurde über die Grenzen hinaus bekannt, das Problem war: Niemand konnte sie lesen, denn sie erschien auf tschechisch. Unsere Idee, meine und die von Freunden im Ausland, war daher, so etwas wie Literarny noviny auch woanders zu machen. Nirgendwo in Europa existierte Vergleichbares. Wir wollten ein europäisches Forum für intellektuelle Debatten nach dem Vorbild der Literarny noviny schaffen. Aber zum einen hatte ich meine Sprache verloren, ich konnte deutsch, englisch, französisch sprechen, aber nicht gut genug schreiben. Zum anderen und schlimmer war, dass wir einfach kein Geld fanden. Auf intellektueller Ebene hat man als Exilant immer viele Freunde, wirtschaftlich ist das viel schwieriger. Noch nicht einmal für mich selbst reichte es. Ich ging nach Amerika, hatte dort für ein Jahr eine Stelle als Universitätslehrer angeboten bekommen und sollte danach in Paris eine Anstellung erhalten. Dreizehn Jahre später habe ich sie bekommen, erst an Paris VII, dann an der EHESS. In den Jahren dazwischen war ich jeden Sommer in Europa, zwei, drei Monate lang. Wer kann, tut’s, wer nicht, lehrt’s, heißt es in den USA immer. Ich habe also Film und “europäische Kultur” gelehrt und die Idee zu meiner internationalen Zeitschrift gehegt.
RS: Zwischenzeitlich sah es so aus, als würde es klappen, zusammen mit Günter Grass und Heinrich Böll.
AL: L76 sollte diese Zeitschrift heißen und hieß sie ja dann auch. Grass und Böll hatten mir angeboten, eine Ost-West-Zeitschrift zu machen. Vor allem Grass wollte das, Böll war schon krank, wenn ich mich recht erinnere. Ost-West, das interessierte mich überhaupt nicht, ich wollte eine wirklich internationale Zeitschrift. Wir haben es diskutiert und uns tatsächlich darauf geeinigt. Ich fuhr also zufrieden in die USA zurück und stellte einen internationalen Beirat zusammen. Irgendwann erreichte mich ein Brief des Verlegers, dass Grass der Auffassung sei, das Ganze geriete zu international und nicht deutsch genug. Er hat sich bedankt, mir 100 Dollar für meine Bemühungen geschickt und mich eingeladen, in der Zeitschrift zu schreiben. Das war’s. Sie können sich denken, wie wütend ich war. Den Titel L76, der ihnen gefiel, haben sie übrigens behalten. Ich hatte ihn damals vorgeschlagen, eine persönliche Reminiszenz an das legendäre Prager Theater “D”, in dem ich als Jugendlicher gearbeitet hatte. Man änderte dort mit jeder Spielzeit den Namen: D37, D38 und so weiter. So sollte es auch bei L76 sein. Aus L76 wurde eine gewöhnliche, provinzielle Zeitschrift, die friedlich im Schlaf gestorben ist.
RS: War ihr ursprüngliches Konzept für L76 schon das spätere von Lettre internationale?
AL: So ist es. Lettre hätte Jahre zuvor erscheinen können. Seit dieser Geschichte mit L76 wusste ich: Irgendwann mache ich das – auch ohne Grass. Es war um 1980 nicht mehr unmöglich, ein bisschen Geld aufzutreiben. Sie müssen wissen, dass einige der osteuropäischen Emigrantengruppen reich waren, einige lebten schon seit der Revolution von 1848 im Exil und hatten es zu Geld gebracht. Für die Idee einer internationalen Zeitschrift konnte man von denen etwas bekommen, wenig, aber immerhin. Es gab dann mehrere Gründungsversuche. In Österreich, mit Martin Pollack, dem späteren Mitteleuropakorrespondenten des Spiegel, wäre es fast geglückt. Dann hab ich es in Deutschland und in Italien versucht, bevor ich endlich in Paris einen alten Freund wiederfand, Paul Noirot. Der hatte eine kleine Zeitschrift ohne Geld, Politique aujourd’hui, die Redaktion bestand aus einem Zimmer mit Küche. Dort ist 1984 Lettre mit dem entstanden, das eben da war. Es hat während der gesamten Jahre nie gereicht, um Honorare zu zahlen. Ich musste tagsüber als Dozent arbeiten, aber wir hatten eine Studentin, die unsere Redaktionssekretärin war und etwas Geld dafür bekam. Die einzigen, die wir nach Tarif entlohnten, waren die Übersetzer. Das Konzept von Lettre war von Beginn an, die Texte so gut übersetzen zu lassen, dass ein französischer Leser glaubt, er läse sie im Original. Wir hatten immer die besten Übersetzer, aber sonst keinen Cent.
RS: 1984 erscheint die erste Ausgabe. “Kafka” steht auf dem Titel.
AL: Ja, dazu gibt es eine nette Geschichte. Im Centre Pompidou fand zu der Zeit eine große Kafka-Ausstellung statt. Wir wollten die Eröffnung nutzen, um Lettre der Welt vorzustellen. Was wir vergessen hatten, war, dass das Wochenende zuvor ein verlängertes war. Der Druck wurde nicht rechtzeitig fertig und die Eröffnung fand ohne Lettre statt. Und so ging es uns eigentlich immer.
RS: Dennoch gab es Lettre, mit Unterbrechungen, in Frankreich bis ins Jahr 2000. Bourdieus internationales Zeitschriftenprojekt Liber war zum Beispiel deutlich kurzlebiger…
AL: Liber hat deshalb nicht funktioniert, weil sie dieselbe Zeitschrift in mehreren Ländern machen wollten. Das geht nicht. Das war nie die Idee hinter Lettre. Man muss sich auf gemeinsame Grundsätze verständigen und dann, in jedem Land, eine eigenständige Zeitschrift entwickeln. Im Fall von Lettre waren die gemeinsamen Wurzeln der Wunsch, die intellektuelle Teilung Europas zu überwinden, der Europagedanke überhaupt – in einem kulturellen Sinn natürlich, ich rede nicht von der EU – aber auch Nord-Süd-Fragen. Zudem hatten wir ästhetische und formale Vorlieben, zum Beispiel für den Essay. Aber daraus mussten unterschiedliche Zeitschriften entstehen. Anders geht es nicht. Wir hatten vor, zwischen den einzelnen Ausgaben ungefähr fünfzig Prozent Überschneidung der Texte zu erreichen, um einen Kommunikationszusammenhang zu schaffen. Der Rest sollte von der Redaktion mit eigenen Texten bestritten werden, die aber potentiell auch in anderen Ländern erscheinen könnten. In der Praxis war das äußerst schwierig, nicht zuletzt wegen der Kommunikationstechnologien, die uns zur Verfügung standen. Wir hatten keine Email, noch nicht einmal Fax, die ganzen Texte zirkulierten auf dem Postweg. Es war furchtbar teuer und dauerte lang. Aber auch inhaltlich gab es Auseinandersetzungen und die Ausgaben haben sich auseinander entwickelt anstatt zusammenzukommen.
RS: Worin bestand der konzeptionelle Ansatz bei der Heftgestaltung?
AL: Lettres Kernidee in dieser Hinsicht war, nicht auf die Jagd nach Themen, sondern nach Texten zu gehen. Hatten wir einen guten Text, sei er deutsch, amerikanisch, russisch, dann suchten wir für ihn eine Umgebung. Andere Texte, die ihn umkreisen, kommentieren, obwohl sie gar nicht eigens dafür verfasst wurden. Ich will nicht leugnen, dass dies auch aus der Not geboren war, denn wir konnten ja keine Texte bestellen. Wir waren darauf angewiesen, eine Collage zu machen, ausgehend von einem wunderbaren Text. Waren die Artikel einer Ausgabe fertig gestellt, so suchten wir nach Poesie, gingen in Museen auf die Suche nach passenden Bildern. Unser Ziel war, ein play of mirrors um einen Text herum zu erzeugen.
RS: Was machte diese zentralen Lettre-Texte aus?
AL: Sie sollten ohne erklärende Fußnoten in allen Umgebungen erscheinen können, wenigstens in europäischen. Hatte ein Text Leser zur Voraussetzung, die mit ihrer Umgebung verwachsen sind, so kam er für Lettre nicht in Frage. Oder er musste so lange umgeschrieben werden, bis er ein Zeitungstext wurde, der international gültig ist. Das ist heute anders, die deutsche Ausgabe von Lettre International zum Beispiel scheut sich nicht mehr vor Fußnoten und bringt äußerst lange, wissenschaftlich orientierte Texte. Sie ist eine wunderbare Zeitschrift, aber sie ist in diesem Modus nicht internationalisierbar. Man kann sie nur in Deutschland machen. Nicht in Frankreich, nicht in Italien, nirgendwo würden Texte dieses Umfangs und in dieser Zusammenstellung gekauft werden. Nicht bei einer Zeitschrift, die am Kiosk zu kaufen ist. Das ist ein alter Traum, aber er funktioniert nur in Deutschland. Insofern gibt es heute keine Lettre internationale mehr, was es gibt sind Lettres nationales. Ich frage mich ernsthaft, ob – Deutschland ausgenommen – der Typus von gedruckter Zeitschrift, der Lettre sein sollte, mit derselben Begründung heute, in Zeiten globaler Internetkommunikation, noch möglich ist. Ich glaube es nicht, es ist auch ökonomisch nicht mehr möglich.
RS: Ist es denn inhaltlich noch nötig?
AL: Der ursprüngliche Sinn von Lettre ist weg, daran gibt es keinen Zweifel. Lettres Legitimation lag in der Überwindung des Kalten Krieges, der Zweiteilung Europas. Frank Berberich, der Herausgeber der deutschen Lettre, hat das sofort begriffen: Er macht heute eine andere Zeitschrift. In der deutschen Lettre gibt es lange Reportagen, neue Themen, wissenschaftliche Essays. Vielleicht geht es so, aber, wie gesagt, nur in Deutschland und auch das wird schwieriger. Denn im Grunde haben Sie mir die Frage nach der Zukunft dessen gestellt, was Edgar Morin die culture cultivée nennt. Wenn man genug Geld hat, kann man für seine Freunde Lettre in Kleinstauflage produzieren. Aber darum ging es ja nicht, die Idee von Lettre war, am Kiosk zu liegen und dabei gut zu sein und zu bleiben. Ich glaube nicht, dass das noch einmal so sein kann. Gucken Sie arte? Dann wissen Sie jetzt, was ich meine: der Verfall einer Idee.
Aber wissen Sie, im Grunde bin ich für die Zukunft nicht kompetent. Meine Großmutter sagte immer: Der Mensch ist in eine Welt geworfen, von der er überhaupt nichts versteht und er verlässt eine Welt, von der er gar nichts mehr versteht. Fragen Sie mich also besser nicht nach der Zukunft.
RS: Dann lassen Sie mich eine Frage nach der Vergangenheit stellen. Es gab mehrere historische “Vorläufer” von Lettre in der Geschichte der internationalen Zeitschriften. Ich vermute, Sie erinnern sich an die Revue Internationale/Gulliver, die deutsche, französische und italienische Intellektuelle, erfolglos, Anfang der sechziger Jahre zu gründen versuchten?
AL: Natürlich, aber Sie müssen entschuldigen, ich erinnere mich nicht mehr an die Details. Wir haben bei der Gründung von Lettre und auch schon vorher viel mit Hans Magnus Enzensberger diskutiert. Er war ja auch an Gulliver beteiligt. Letztlich gingen unsere Vorstellungen wohl doch auseinander, man sieht das am Kursbuch. Es ist so: Natürlich können Sie, von einer Gruppe ausgehend, eine kompromisslose Zeitschrift machen. Es ist auch nichts Falsches daran, aber ein internationales Forum wie Lettre funktioniert so nicht. Wir waren der Überzeugung, dass es in Schweden Texte gibt, die man in Arabien lesen sollte und umgekehrt; dass es in Bulgarien Texte gibt, die man in Frankreich kennen sollte und umgekehrt. Wenn Sie diesen Ansatz haben, verbietet sich manche Polemik. Nehmen Sie das heutige Russland: eine unendlich komplizierte Angelegenheit. Wenn Sie davon etwas verstehen wollen, sollten sie keine Anti-Putin-Zeitschrift machen. Putin ist, was er ist. Es gibt tausend andere Dinge an diesem Land zu verstehen. Dafür gibt es übrigens auch andere Autoren als Ryklin, wie zu Breschnews Zeiten andere als nur Solschenizyn – Lettres Absicht war immer, so etwas sichtbar zu machen, am Bild zu arbeiten und es schärfer zu machen.
Was heute fehlt ist ein neuer Marx. Nicht wegen der Perspektive oder der großen Entwürfe, sondern um die neuen Dinge zu beschreiben und zu benennen. Il faut nommer les choses. Deshalb haben Frank Berberich und die deutsche Lettre recht, wenn sie die literarische Reportage in den letzten Jahren so stark gemacht haben. Wir müssen wieder sehen lernen.
Mit Antonin Liehm sprach Roman Schmidt im Dezember 2006 in Paris.
Published 23 September 2008
Original in German
First published by Sens public 11/2007
Contributed by Sens public © Antonin Liehm, Roman Schmidt / Sens public / Eurozine
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