Im Vorfeld des Europa-Gipfels in Nizza beschwört EU-Kommissar Antonio Vitorino die Mitgliedsländer, die “Null-Einwanderungs-Politik der letzten 20 Jahre” sei nicht mehr durchzuhalten, weshalb man eine “Politik der Öffnung” einleiten müsse. Was in Europa jedoch neuerdings betrieben wird, ist eine Politik der Selektion. Man umwirbt die an indischen oder marokkanischen Universitäten hervorragend ausgebildeten Fachkräfte. Einige wenige “Unerwünschte”, die es eher zufällig trifft, werden in die Heimat zurückverfrachtet, während der große Rest vor Ort unerträgliche Arbeitsbedingungen hinnehmen muss. Der verstärkte Druck gegen illegale Einwanderer zeugt von der panischen Angst der politisch Verantwortlichen, die Zuwanderungsströme nicht mehr kontrollieren zu können. Die Staaten und ihre Regierungen sollten aber erkennen, dass sie mit der Unterzeichnung zahlreicher internationaler Wirtschaftsabkommen und Menschenrechtsvereinbarungen entscheidend zur Globalisierung der Arbeit beigetragen haben.
Mit der Herausbildung eines globalen Wirtschaftssystems sind ganz neue Bedingungen entstanden, die sich auf die regulierende Rolle des Staates und auf seine Autonomie auswirken, aber auch auf den Charakter der internationalen Beziehungen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob man die Einwanderungsproblematik noch als eine von allen übrigen Bereichen abgekoppelte Dynamik betrachten kann, ob sie noch so unmittelbar und einseitig mit nationaler Souveränität zu tun hat.
In Westeuropa, in Nordamerika und in Japan herrscht heute die Vorstellung, wir hätten es mit einer Krise der Einwanderungskontrolle zu tun. Doch diese Vorstellung steht einer ernsthaften Debatte im Wege. Denn die entscheidende Frage lautet gerade nicht, wie effizient die Staaten ihre Grenzen kontrollieren können. Solche Kontrollen werden immer unvollkommen bleiben. Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Welchen Charakter haben Grenzkontrollen im Zeitalter der Globalisierung? Eine entscheidende Konsequenz der globalisierten ökonomischen Strukturen für die Einwanderungspolitik besteht darin, dass die Souveränität des Staates und seine Fähigkeit zu selbstständigem Agieren eingeschränkt werden. Durch die Realität der ökonomischen Globalisierung sind die Staaten gezwungen, multilateral zu agieren.
Am deutlichsten wird dies an den Aktivitäten der WHO und am Ablau der globalen Finanzkrisen. Sowohl die Beeinträchtigung der staatlichen Souveränität als auch die Einbindung des Staates in das neue globale Wirtschaftssystem haben den Staat selbst transformiert und die Macht der verschiedenen innerstaatlichen Organisationen verändert. Dieselbe Entwicklung hat zugleich die Internationalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen vorangetrieben, insofern immer mehr bi- und multilaterale Vereinbarungen entstanden sind. Angesichts dessen kann man dem Staat nicht mehr eine souveräne Kompetenz bei der Ausgestaltung und Durchsetzung seiner Einwanderungspolitik unterstellen.
Zwar verfügt der Nationalstaat noch immer über die Macht, seine eigene Einwanderungspolitik festzuschreiben, doch angesichts vielfältiger internationaler Verpflichtungen kann er die realen Migrationsbewegungen mit seiner Politik – im konventionellen Sinne des Wortes – nur noch marginal beeinflussen. Statt eine Krise der Kontrolle zu behaupten, müssen wir uns also mit den äußeren Zwängen befassen, denen die Staaten zunehmend ausgesetzt sind – und die ihre Migrationspolitik genau so stark, wenn nicht stärker bestimmen als staatliche Maßnahmen gegen einzelne Menschen an den Grenzen. Dabei zeichnet sich die Einwanderungspolitik der entwickelten Länder nicht gerade durch bedeutende Innovationen aus, wie wir sie aus anderen politischen Bereichen kennen. Drei Schlüsselmerkmale, die in den ökonomisch hoch entwickelten Ländern den Rahmen für die Einwanderungspolitik setzen, sind hier zu erörtern.
Erstens: Die Einwanderung wird als ein Prozess behandelt, der autonom und von anderen Prozessen und Politikfeldern unabhängig ist. Zweitens: Einwanderungsfragen werden als eine unilaterale Angelegenheit betrachtet, als ob sie in völliger staatlicher Souveränität wahrgenommen würden. Drittens: Der Staat gilt als fixe Größe, als völlig unbeeinflusst von den weitreichenden innenpolitischen und internationalen Veränderungen, die sich auf den Staat auswirken. Dass diese drei Merkmale mit den beschriebenen umfassenden Transformationsprozessen immer weniger vereinbar sind und was dies notwendigerweise für die Praxis bedeutet, soll im folgenden aufgezeigt werden.
Beginnen wir mit der angeblichen Autonomie des Migrationsprozesses. Dieser Prozess wird durch wichtige Akteure beeinflusst, die man freilich selten als solche identifiziert. So gibt es:
– multinationale Unternehmen, die maßgeblich zur Internationalisierung der Produktion beitragen, also lokale Kleinproduzenten verdrängen bzw. deren Überlebensperspektive innerhalb der traditionellen Ökonomie beschränken und damit mobile Arbeitskräfte hervorbringen, überdies knüpft die Entstehung neuer Produktionsstandorte im Ausland Verbindungen zwischen den Kapital exportierenden und den Kapital importierenden Ländern;
– Regierungen, die durch ihre militärischen Operationen Menschen entwurzeln und damit Flüchtlings- und Migrantenströme auslösen;
– internationale Organisationen wie der IWF, deren Austeritätsprogramme die Armen der betroffenen Länder verzweifelte Überlebensstrategien aufzwingen, zu denen auch die (nationale oder internationale) Migration gehört;
– Freihandelsabkommen im Rahmen internationaler Konferenzen, die grenzüberschreitende Bewegungen von Kapital, Dienstleistungen und Informationen fördern, wozu vor allem auch die Wanderung qualifizierter Arbeitskräfte gehört.
Warum wird über eine verantwortliche politische Strategie hinsichtlich der internationalen Migrationsströme so viel kurzatmiger nachgedacht als auf anderen Politikfeldern? Wenn es darum geht, die ökonomischen Folgen der Veränderungsprozesse für die Handelsbeziehungen oder die internationale Politik allgemein abzuschätzen, bedenken die Experten die Folgen jeder Entscheidung auf allen möglichen Politikfeldern und versuchen, eine Kompromisslösung zu finden, die den unterschiedlichen Aspekten gerecht wird. Zu diesen Politikfeldern gehört allerdings nie das Einwanderungsproblem. Die Auswirkungen auf dieses Problem werden nicht bedacht – auf der Karte der Politiker kommt es einfach nicht vor.
Die Einwanderungspolitik wird nach wie vor als vollkommen isoliert von den anderen wichtigen Politikfeldern behandelt, als handele es sich tatsächlich um eine völlig eigenständige Sache. Diese Blindheit erklärt, warum die politischen Strategien – egal ob man sie negativ oder positiv bewertet – ihrem Ziel nie gerecht werden. Aber wäre es für diejenigen, die sich an der Diskussion über Einwanderungspolitik beteiligen, nicht nützlich gewesen, besagte Wechselwirkungen mit anderen Politikfeldern zu erkennen und in Rechnung zu stellen? Noch 1988, als ich mich erstmals mit diesen Fragen beschäftigt habe, war es völlig unvorstellbar, über solche Zusammenhänge auch nur zu diskutieren.
Erst im Rahmen der Debatte um die Nafta, also ab 1992, wurde die Fragestellung üblich, wie sich die Bildung dieser Freihandelszone wohl auf die Einwanderung – speziell von Mexikanern in die USA – auswirken würde. Mit dem wichtigen und bahnbrechenden Forschungsbericht, den 1990 die Einwanderungsbehörde im US-Arbeitsministerium vorlegte, war erstmals offiziell anerkannt, dass die Aktivitäten von US-Firmen im Ausland ursächlich zur Entstehung von Migrationsbewegungen beitragen. Damit war eine entscheidende Bresche in den Wall geschlagen, mit dem man die angeblich autonome Einwanderungspolitik von anderen Fragestellungen abgeschottet hatte. Die Kalkulation solcher Wechselwirkungen ist eine komplizierte Sache, komplizierter als die schlichte Annahme, Einwanderung sei nur die Folge von Armut und beruhe auf individuellen Entscheidungen.
Doch alle Anzeichen deuten darauf hin, dass es gerade die entwickelten Länder sind, die zur Entstehung der Verbindungsstränge beitragen, die sich zwischen Emigrations- und Immigrationsland spinnen. Gerade die Aktivitäten der entwickelten Industrien haben erhebliche Auswirkungen auf die Menschen vor Ort und die Art und Weise ihres Überlebens. Sie erzeugen in den unterentwickelten Ländern genau die Bedingungen, die dazu führen, dass die einheimische Bevölkerung in der Emigration eine Überlebensperspektive sieht.
Als Beispiel sei hier auf die Globalisierung des Marktes für Agrarprodukte verwiesen, und auf die Rolle, die hierbei die US-amerikanischen Agrarkonzerne spielen. Sie haben in etlichen Entwicklungsländern zur Entstehung einer exportorientierten Plantagenwirtschaft beigetraten, die automatisch die Überlebensmöglichkeit der Kleinbauern einschränkte. Diese wurden folglich zu Lohnarbeitern auf den Großplantagen, oder sie müssen häufig zwischen beiden Rollen hin- und herpendeln. Das bedeutet in der Regel den Beginn einer (womöglich nur saisonalen) Binnenmigration – und damit den ersten Schritt zur grenzüberschreitenden Migration. Dieses Entwicklungsschema ist in vielen Teilen der Welt zu beobachten und gilt auch für Mexiko und die karibische Region, also die Herkunftsregion eines erheblichen Teils der Migranten in Richtung USA.
Ein zweites klassisches Muster: Wenn die westlichen Gesellschaften ihre Fabrikations- und Montagebetriebe in Niedriglohnländern errichten, trägt die Anwerbung weiblicher Arbeitskräfte dazu bei, die traditionelle Dorfökonomie zu destabilisieren, bei der die jungen Frauen im Produktionsprozess zumeist eine wichtige Rolle spielten.
Die Männer folgten also den Frauen, zunächst in die Stadt, am Ende gehen sie dann mitunter auch ins Ausland, einem ungewissen Schicksal entgegen. Die Arbeit in den westlichen Unternehmen bringt die Menschen mit den betreffenden Kapitalexportländern in Berührung, was die subjektive Distanz der Fremdarbeiter zu diesen Ländern reduziert. Anders ausgedrückt: Wenn ich hier in meinem Land Früchte für die US-amerikanischen Haushalte pflücken kann, wenn ich hier die Einzelteile eines elektrischen Haushaltsgeräts montiere, dann kann ich diese Arbeit ebensogut in den Vereinigten Staaten verrichten.
Überdies ist die Unternehmensleitung bemüht, den Arbeitern nicht nur die nötigen technischen Fertigkeiten zu vermitteln, sondern auch ein gewisses Verhalten am Arbeitsplatz. Dieser Prozess der Anpassung an die industrielle Arbeitsethik bereitet die Arbeiter auf eine Tätigkeit “im Westen” vor. Die allermeisten Emigranten aus Mexiko, Haiti und der Dominikanischen Republik stammen denn auch aus dieser Arbeiterschicht.
Die Ursachenforschung hat ergeben, dass Emigrationsbewegungen weitgehend durch staatliche Maßnahmen auf anderen Politikfeldern bedingt sind. Zahlreiche Untersuchungen in aller Welt gelangen zu dem Schluss, dass es sich hierbei jeweils weder um eine Masseninvasion handelt noch um eine spontane Bewegung der Armut in Richtung Reichtum. Im Lauf der europäischen Geschichte zum Beispiel wanderten trotz fehlender Kontrollen, geringer Entfernungen und einem erheblichen Reichtumsgefälle zwischen den einzelnen Ländern nur wenige Menschen aus ärmeren in reichere Regionen.1
Das weit verbreitete Gefühl, wir hätten es mit einer Krise der Migrationskontrollen zu tun, scheint demnach keineswegs gerechtfertigt. Wenn die Staaten dennoch ein Kontrolldefizit beklagen, so deshalb, weil Migrationsbewegungen einer anderen Dynamik folgen. Migrationsströme sind zeitlich und räumlich stark determiniert und gehorchen spezifischen Mechanismen. Sie dauern eine bestimmte Zeitspanne – häufig rund zwanzig Jahre – und versiegen dann wieder. Überdies kehren mehr Menschen in ihr Heimatland zurück, als im Allgemeinen angenommen wird. Man denke an die jüdischen Intellektuellen und Ingenieure, die aus Israel nach Russland zurückgingen, oder an die zahlreichen Mexikaner, die im Gefolge der US-Regularisierungsprogramme in ihr Land zurückkehrten, weil sie mit regulären Papieren nun frei zwischen den beiden Ländern pendeln können.
Zahlreiche Feldstudien belegen, dass die meisten Menschen nicht auswandern möchten und dass viele, die sich dazu gezwungen sahen, nach einer gewissen Zeit gern zurückgehen würden, wenn dies ohne Weiteres möglich wäre.
Neben der Globalisierung der Wirtschaft ist im Rahmen der internationalen Beziehungen ein Gegengewicht gegen die staatlichen Einwanderungskontrollen entstanden: der verbesserte Schutz der allgemeinen Menschenrechte, wie er im innerstaatlichen Recht, aber auch durch zwischenstaatliche Vereinbarungen kodifiziert wurde. Die “Vergessenen” des Völkerrechts – im Entstehen begriffene Völker, Migranten und Flüchtlinge, die Frauen – werden zu Rechtssubjekten aufgewertet. Ihr neuer Status führt mitunter im staatlichen Institutionengefüge zu heftigen Spannungen. Auch hat in den am meisten entwickelten Ländern die Recht sprechende Gewalt eine neue strategische Bedeutung erlangt, insofern sie sich bereit findet, die Rechte der Immigranten, Flüchtlinge und Asylbewerber gegen die Entscheidungen der Exekutive zu verteidigen.2
Die wachsende Bedeutung des Verwaltungsrechts und die Verrechtlichung der Politik bedeuten auf der Ebene der einzelnen Ländern zugleich weniger Etatismus. Immer häufiger werden in Westeuropa und in den Vereinigten Staaten die Gerichte angerufen, um die Beschlüsse des Gesetzgebers anzufechten. Die zunehmende Verlagerung der Einwanderungskontrolle in die Zuständigkeit der Polizei (die mit dem hohen Stellenwert der persönlichen Freiheits- und Grundrechte in diesen Ländern kaum zu vereinbaren ist) wird daher gewiss auf juristischem Wege angefochten werden. Die Reduktion der Einwanderungspolitik auf ihren polizeilichen Aspekt lässt eine Flut von Rechtsstreitigkeiten auf den Staat zukommen, dessen Fähigkeit zur Regulierung der Migrationsströme dadurch keineswegs gestärkt wird.
Die Globalisierung der Wirtschaft und die diversen Menschenrechtserklärungen haben mithin das Terrain verändert, auf dem sich die zwischenstaatlichen Beziehungen abspielen. Beide Entwicklungen tragen auch dazu bei, neue Formen von Bürgerinitiativen und -aktivitäten hervorzubringen oder zu verstärken, mit einem breiten Spektrum von Trägern, das von Wirtschaftsverbänden bis zu internationalen Nichtregierungsorganisationen reicht. Die Immigration ist immer stärker mit solchen neuen Betätigungsfeldern verflochten – oder sogar in sie eingebunden -, und entzieht sich damit, zumindest teilweise, der Kontrolle durch den souveränen Staat.
Indes hat auch der Staat das Seine dazu beigetragen, der neuen Weltwirtschaftsordnung aus den Startlöchern zu helfen. Der Weltkapitalismus hat seine Ansprüche gegenüber den Nationalstaaten durchgesetzt, worauf diese mit neuen Rechtsformen reagierten. Sie mussten eine neue Wirtschaftsgeografie erfinden, d. h. als kollektive Akteure neue Handlungsmodalitäten entwickeln, die nötigen Infrastrukturen zur Verfügung stellen, neue rechtliche Regime erarbeiten und legitimieren.
Da immer mehr staatliche Mechanismen grenzüberschreitend funktionieren und transnationale Wirkungen entfalten, können die Regierungen wesentliche Probleme immer weniger im Alleingang lösen. Das ist keineswegs gleichbedeutend mit dem Ende des Nationalstaats, hat allerdings zur Folge, dass “die Exklusivität und die Endgültigkeit seiner Kompetenzen”3 beeinträchtigt wurden: Die Bereiche, in denen der Staat seine Autorität und Legitimität noch ohne Rücksicht auf andere Akteure auszuspielen vermag, schrumpfen immer mehr zusammen. Gleichzeitig wird das System der zwischenstaatlichen Beziehungen im engeren Sinn durch die wachsende Institutionalisierung nichtstaatlicher Machtsysteme hinfällig, insbesondere auf dem Feld der Finanzen und der globalen politischen Entwicklungen.4
Auf der einen Seite drängt die allgemeine Entwicklung also in Richtung Multilateralität, auf der anderen Seite wird die Einwanderungspolitik weiterhin als unilaterales Problem gehandhabt. Dieser Widerspruch löst sich nicht so sehr auf juristischer Ebene auf – etwa durch bilaterale oder multilaterale Abkommen -, als vielmehr auf faktischer Ebene, nämlich durch die bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit in der Reaktion auf bestimmte Teilaspekte der internationalen Migrationsproblematik. Das gilt zum Beispiel für Westeuropa, wo der ökonomische Einigungsprozess die EU-Regierungen auch in allen anderen Politikbereichen zu supranationalen Lösungsansätzen nötigt. So hat die EU zum Beispiel, um Asylbewerber und illegale Einwanderer abzuhalten, mit den Ländern Mittelosteuropas Vereinbarungen getroffen, die diese Länder faktisch zu einem Sicherheitskordon gegen Asylbewerber verwandelt hat.5 Weitere Beispiele ließen sich unschwer finden, was nur beweist, dass die Rhetorik der nationalstaatlicher Souveränität eher für den Hausgebrauch bestimmt ist.
Der europäische Einigungsprozess macht die Schwierigkeit deutlich, die unterschiedlichen Rechtsmaterien zu verschmelzen, welche jeweils die Bewegungsfreiheit des Kapitals respektive die der Migranten regulieren. Die Definition und die Umsetzung einer gemeinsamen EU-Politik haben deutlich gemacht, dass jedwede Einwanderungspolitik die rasch voranschreitende Internationalisierung der Wirtschaft in Rechnung zu stellen hat. Führt man sich die Etappen des Einigungsprozesses vor Augen, kann man präzise feststellen, zu welchem Zeitpunkt die Staaten die zwischen ihnen bestehenden Widersprüche angehen und so weit wie möglich auflösen müssen.6 Je stärker die transnationalen Wirtschaftsräume durch internationale Abmachungen reguliert werden, desto mehr Probleme wird der bestehende einwanderungspolitische Rechtsrahmen aufwerfen7 – zumal in den hoch entwickelten Industrieländern, wo dieser Rahmen mit der wachsenden Tendenz zu weltwirtschaftlicher Integration kollidiert.
Allerdings ist die Weltökonomie wenn nötig in der Lage, bestehende Schranken für den freien Personenverkehr zu umgehen: Man überträgt bestimmte Elemente staatlicher Souveränität auf supranationale Organisationen, voran die Europäische Union und die Welthandelsorganisation (WTO). Ein gut Teil der intellektuellen Instrumente, mit deren Hilfe die Regierungen ihr Staatsvolk und ihr Hoheitsgebiet früher kontrollierten, liegt heute in den Händen nichtstaatlicher Institutionen. Ein Beispiel dafür sind die privatisierten transnationalen Regelungen für den grenzüberschreitenden Handel, aber auch die Tatsache, dass der Weltfinanzmarkt die nationalen Wirtschaftspolitik immer stärker an die Wand spielt.
Die neuen Sonderregelungen für den grenzüberschreitenden Verkehr von Arbeitskräften im Dienstleistungssektor, wie sie im Rahmen des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (Gatt) und dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (Alena) festgeschrieben sind, subsumieren die implizierten De-facto-Wanderungsbewegungen von Zeitarbeitskräften nicht mehr unter Begriffe von Migration. Beide Abkommen zielen auf eine erhöhte Arbeitskräftemobilität unter Federführung regierungsunabhängiger supranationaler Institutionen wie der WTO.8 Hier sehen wir die ersten Ansätze zu einer Privatisierung gewisser Aspekte der Regulierung von grenzüberschreitenden Arbeitskräftewanderungen.
Insofern sanktionieren diese beiden wichtigen internationalen Abkommen abermals die Privatisierung der Bereiche, die sich managen lassen und Profit versprechen. In der Tat weisen die Arbeitskräfte,von denen diese Abkommen handeln, hochspezifische Merkmale auf. Sie besitzen erstens ein hohes Bildungsniveau oder Kapital, tragen also in besonderem Maße zur Wertschöpfung bei; sie zeichnen sich zweitens durch hohe Flexibilität aus, arbeiten höchstwahrscheinlich in High-Tech-Sektoren und kehren nach getaner Arbeit in ihr Land zurück (mit anderen Worten: Sie sind sichtbar, identifizierbar und lassen sich unter klare Regeln subsumieren); sie bringen drittens dem Zielland hohen Gewinn, ein Vorteil, der angesichts des neuen liberalen Verständnisses von Handel und Investitionstätigkeit nicht zu unterschätzen ist.
Verlängert man diesen Entwicklungstrend in die Zukunft, so werden die Regierungen nur noch für die “Problemfälle”, die “wertschöpfungsschwachen” Immigranten zuständig sein: für die Armen, die nichtqualifizierten Billigarbeitskräfte, die Flüchtlinge, für abhängige Familienmitglieder und jene Facharbeiter, die für politische Spannungen sorgen könnten. Diese Zweiteilung der Arbeitsmigranten wird sich in Zukunft wohl auch auf die begriffliche Definition des “Immigranten” niederschlagen. Was eine solche Einengung des Migrationsbegriffs auf den problemträchtigsten Teil der Migranten politisch bedeutet, kann man sich unschwer ausmalen.
Dazu Saskia Sassen, "Guests and Aliens", New York (The New Press)1999.
Recht besehen ist der Staat nicht mehr die einzige Quelle von Souveränität (und der sie begleitenden Normensetzungsmacht) und auch nicht mehr das einzige Völkerrechtssubjekt. Weitere Akteure - NGOs, Minderheiten, supranationale Organisationen - verwandeln sich zunehmend in Völkerrechtssubjekte und Akteure der internationalen Beziehungen. Siehe Saskia Sassen, "Losing Control", New York (Columbia University Press) 1996.
James Roseneau, , New York (Cambridge University Press) 1997.
Dazu Yves Dezalayund Bryant Garth, , Chicago (The University of Chicago Press) 1996.
Dazu Jelle van Buuren, , Le Monde diplomatique, Januar 1999.
James Hollyfield, , Cambridge (Harvard University Press) 1992.
Demetrios G. Papademetriouund Kimberly A. Hamilton, , Carnegie Endowment for International Peace, International Migration Policy Program, Washington, DC 1996.
Im Rahmen des Alena sind zahllose Expertenkommissionen mit wirtschaftspolitischen Entscheidungen betraut, die eigentlich Sache der gewählten Volksvertreter sein müssten. Hier wird also ein Machttransfer von der Regierung zum Privatsektor sichtbar.
Published 9 March 2001
Original in English
Translated by
Bodo Schulze
First published by Le Monde diplomatique (Berlin)
Contributed by Le Monde diplomatique (Berlin) © Saskia Sassen / Bodo Schulze / Le Monde diplomatique (Berlin) / Eurozine
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