Der Konflikt zwischen Europa und Amerika ist bereits Realität. Zur Zeit
besteht er zwar nur aus Meinungsverschiedenheiten, doch die Kontinente
driften auseinander, und ein größerer Bruch ist nicht mehr undenkbar.
Eindrücke von Reisen und Zeitreisen von Michael Freund.
“Hören wir auf, so zu tun, als hätten Europäer und Amerikaner eine gemeinsame
Weltsicht. Amerikaner sind vom Mars,
Europäer sind von der Venus.”
Robert Kagan, Policy Review
“Die Amerikanisierung von Europa ist
ein Mythos.”
Richard Pells, “Not like us”
Sie hatten sich, wie in den früheren Jahren, auf ihre Reisen gefreut: der Kunstkurator, der in Paris Händler und Leihgeber traf; das Ehepaar auf Herbsturlaub in der Bucht von Positano; die Dozentin, die mit Studenten in Dessau zusammentraf. Doch statt Leihgaben, schöner Erinnerungen und freundlichem Gedankenaustausch nahmen sie eine ernüchternde Erfahrung mit auf den Heimflug – in den Worten des Kurators: “So viel Feindseligkeit gegenüber Amerikanern habe ich noch nie erlebt.” Und das ein knappes Jahr nach dem 11.
September.
Ihre Reiseerzählungen bestätigen nur, was man im Alltag da wie dort
feststellen kann, was die Regierungssprecher verbreiten oder durch Dementis verstärken, was Ausrutscher auf so genannter höchster, daher immer wieder tiefster Ebene bedeuten und was keine zufällige Marotte oder schwankende intellektuelle Satisfaktionsfähigkeit des einen oder anderen Staatsmannes, vielmehr eine lang schwelende Entwicklung ist: Die Beziehungen zwischen den USA und Europa stecken in der Krise.
Davon ist zwar schon länger die Rede – seit dem Ende des Kalten Krieges in Andeutungen, offen und unumwunden seit Bushs angekündigtem Feldzug. Doch langsam erst wird deutlich, wie tief und wie weit die Unterschiede reichen. Die Kontinente driften auseinander, der Atlantik wird breiter. Die auf Dank, Hilfeleistung und militärischem Beistand aufgebaute und durch
wirtschaftliche Erfolge bestätigte transatlantische Beziehung schien für alle Zeiten zementiert. Als der Fall der Berliner Mauer bereits den Keim einer neuen Entwicklung in sich trug, argumentierte Francis Fukuyama noch (erinnern wir uns? Äonen ist es her!), dass “Das Ende der Geschichte” gekommen sei, dass freie Märkte und liberale Demokratien eine weitere Entwicklung überflüssig machten.
Das Gegenteil trat bekanntlich ein. Massive Gegensätze sind aufgebrochen, neue Trennlinien entstanden – erinnern wir uns auch daran: Samuel Huntington hat den “Kampf der Kulturen” diagnostiziert und den islamischen als einen von vier Blöcken identifiziert, in Gegnerschaft zum westlichen, aufgeklärten judäo-christlichen Block. Doch Europa ist kein treuer Juniorpartner mehr in dieser Fraktion. Die Geschichte beginnt gerade erst.
Soweit sind sich alle Beteiligten einig. Zur Debatte aber steht auf beiden Seiten des Ozeans, woher die Differenzen kommen, wie gefährlich sie sind und vor allem: für wen, und welche langfristigen Auswirkungen sie haben werden. Wer muss mehr aufpassen? Sind die Uneinigkeiten “nur” politischer Natur, gehen sie an die kulturellen und moralischen Wurzeln, wiederholt sich nur wie ein fernes Echo, was schon in den Geschichten und Gründungsmythen der Staaten
angelegt war?
Andererseits lässt sich ganz handfest fragen – und das geschah auch -, was die Bewohner hüben und drüben von der Politik und den Werten der jeweilig
anderen halten. (Dabei wird man draufkommen, dass schon die Begriffe je Unterschiedliches bedeuten und anders verwendet werden, etwa “Patriotismus” oder “Christentum”.)
One-way Tickets standen am Beginn des europäisch-amerikanischen
Verhältnisses, es waren Schiffspassagen weg von religiöser und sozialer Diskriminierung, hin zu einem neuen Eden. Das allerdings definierte sich als Gegensatz zu dem ursprünglichen (England) und den späteren europäischen Mutterländern. So entstand eine merkwürdige doppelte Identität, Amerikaner empfanden sich von Beginn an als eigenständig, aber doch mit einem Auge auf die Herkunft, ob mit Stolz oder mit Widerwillen betrachtet. Und die Europäer hielten lange Zeit das Experiment in der Neuen Welt als eine – sei’s bewundernswerte, sei’s zu belächelnde – Fortsetzung der Alten.
Wobei wir, wenn wir von “den Europäern” reden, immer eine gewisse Fiktion in Kauf nehmen, bis heute. Erst recht gibt es “die” Amerikaner nur in einem eher abstrakten Sinn, etwa in Umfragen als statistischen Mittelwert mit starken Schwankungen. Ihre europäische Herkunft ist zudem ein Merkmal, das prozentuell zugunsten Lateinamerikas und Asiens abnimmt. Zu den ersten, die die Heranbildung der neuen Gesellschaft beobachteten, zählte der Franzose Alexis de Tocqueville. De la Démocratie en Amérique, verfasst nach seiner Reise 1831/ 32, gilt heute noch als eines der besten
Bücher über das Land und seine Regierungsform. Er beschrieb, wie religiös inspirierter Idealismus mit handfesten materiellen Interessen einherging; wie die junge Nation dem Individualismus huldigte und dem Staat misstraute; dass die Anwälte ungewöhnlich viel Einfluss hatten und, verglichen mit Europa, auch die Frauen; wie wenig sich die Bewohner für theoretische Debatten und wie sehr für verwertbare Kenntnisse begeisterten.
Die Überzeugung seiner Bewohner, dass Amerika das gelobte Land sei, konnte de
Tocqueville nur in ihren Anfängen beobachten. Erst 1845 prägte ein Journalist die Formulierung vom “manifest destiny”, vom offensichtlichen Schicksal, den Kontinent zu erobern, die “frontier” stets zu verschieben – auch das ein Bild, das erst später, im ausgehenden 19. Jahrhundert spruchreif wurde. Da gab es keine physische Grenze mehr im Westen des Landes, und der Begriff nahm eine metaphysische Bedeutung an. (Kennedys berühmte Rede von der Eroberung der letzten neuen Grenze, dem Weltraum, sollte dann die himmelstürmerische Metapher mit der technischen Wirklichkeit vereinen.)
Eine Abkehr von der Welt außerhalb der eigenen Grenzen, der man vor wenigen Generation erst entkommen war, hielt sich die Waage mit dem Sendungsbewusstsein, die Andern an den Segnungen der USA teilhaben zu lassen. Aus dieser Spannung resultierte die mal expansive, mal isolationistische Politik der USA. Die Interventionen in den beiden Weltkriegen stellten das Verhältnis zu Europa auf eine völlig neue Basis: Amerika war ein politischer Mitspieler geworden, mehr noch, nach dem zweiten Mal konnte es die Spielregeln bestimmen. Es verkörperte das Versprechen der Moderne, die
Zukunft, die Loslösung von Traditionen, die Ablösung von Autoritäten, die Populärkultur: Das war der nicht jedem willkommene, aber von niemandem zu leugnende Status quo der Nachkriegszeit.
Nehmen wir zwischendurch wieder die Fährte der Reisenden auf: Seit de Tocquevilles Zeiten wurden sie zahlreicher. Schriftsteller kreuzten den Atlantik in beide Richtungen. Ein Mark Twain konnte seine Ironie über Engländer genau so wie über Vermonter gießen, ein Friedrich Gerstäcker denWilden Westen nach eigener Anschauung zu Romanen verarbeiten. Sogar Karl May sah sich das Land seiner Träume selber an, allerdings erst post festum. In den Zwanzigerjahren kaufte die lost generation Einfachtickets nach Paris. Sie war Vorbote einer Sehnsucht amerikanischer Intellektueller nach dem ganz
Anderen, einem Leben, das im eigenen Land nicht mehr möglich schien (bzw. zu teuer war …).
Erschwinglich und populär wurden transatlantische Passagen von Europa aus
erst in den letzten Jahrzehnten. Wer nun in die USA reiste, kam mit den medial vermittelten Versprechungen im Gepäck. Tatsächlich aber konnte er, wenn er mit offenen Augen durch das Land fuhr, durchaus auch auf de Tocqueville statt auf TV-Serien stoßen, auf eine widersprüchliche, fremde Welt. Er mag festgestellt haben, dass die USA gar nicht so durchgehend “modern” sind, wie ihm suggeriert wurde, sondern in manchen Bereichen erstaunlich traditionell. Dass Europa sehr viel weiter von Amerika entfernt
war als umgekehrt. (Die Alte Welt schrumpft im übrigen auch an Bedeutung als Herkunftsland. Noch sind etwa zwei Drittel der US-Einwohner europäischer Abstammung, in geschätzten 20 Jahren werden sie die Minderheit darstellen, aufgrund des Zuzugs vor allem von Latinos und Asiaten.) Dass Amerika selber voller Widersprüche steckte: Von vielem, was sich über diesen Kontinent sagen ließ, stimmte auch das Gegenteil – eben weil es ein ganzer Kontinent ist und nicht ein homogener, monokultureller Staat (allerdings stimmte auch davon wiederum sein Gegensatz: in mancher Hinsicht erschienen die USA dem Besucher viel gleichförmiger als die Heimat …).
Reisen Richtung Westen waren so ein oft übersehener, subtil wirkender Faktor in den Beziehungen der Europäer zu Amerika. Sie entzauberten manche Mythen, fügten andere hinzu. Zumindest legten sie nahe, die Vereinigten Staaten als etwas Eigenständiges wahrzunehmen und nicht darauf zu beharren, dass sie nur eine unbefriedigende Kopie der eigenen Kultur waren. Im vielfältigen Kräftespiel einer so komplexen Beziehung wie der transatlantischen spielten die persönlichen Eindrücke vielleicht die Rolle kleiner Seismographen, die größere Verschiebungen vorausahnen konnten.
Es gab massivere Anzeichen für den zunehmenden Druck, unter dem das Verhältnis stand. Je nach Land und Regierung waren die Auseinandersetzungen mehr oder weniger folgenschwer. De Gaulle etwa geriet immer wieder in Konflikt mit amerikanischen (und anglo-kanadischen) Politikern, vertrieb das NATO-Hauptquartier aus Frankreich und stellte dem Verteidigungspakt die hausgemachte force de frappe an die Seite – das allerdings im Rahmen eines klaren westlichen Weltbildes. Das liberale, Exilanten und Wehrdienstverweigerern gegenüber aufgeschlossene Schweden irritierteWashington in Zeiten des Vietnamkrieges, der in Italien propagierte eurocomunismo auch davor und danach – Geheimbünde in Verbindung mit der CIA standen ja angeblich zum Putsch bereit, um das ihrer Ansicht nach Schlimmste zu verhindern, nämlich eine dem Westen nicht genehme Regierung.
Die Gegnerschaft zum Krieg in Südostasien einte die linke Studentenschaft auf beiden Seiten des Ozeans, ein Gefühl internationaler Solidarität kam auf, das die zum Teil unterschiedlichen Wurzeln des Protests überdeckte. Fast wie ein formaler Gag mutet es an, dass damals zwei Organisationen mit identem Kürzel, SDS, häufig in die Schlagzeilen gerieten. Doch hätten die amerikanischen Kommilitonen mit den linkssozialistischen Wurzeln des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes auf die Dauer wenig anfangen können, und den Deutschen wäre die libertäre Tradition der Students for a Democratic Society letztlich auch fremd geblieben.
Die Achtzigerjahre brachte eine Konsolidierung der offiziellen
europäisch-amerikanischen Beziehungen. Am deutlichsten wurde das in dem
Honeymoon-Gespann Thatcher-Reagan – wie überhaupt das Verhältnis zu Großbritannien für Amerika das unkomplizierteste war und ist. Auch mit Westdeutschland unter Kohl gab es nach den unruhigen Zeiten der Friedensdemos und der Proteste gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen wenig Probleme. Der Zerfall des Ostblocks schien Reagans Politik Recht zu geben, Fukuyama konnte das Ende der Geschichte avisieren.
Das Verhältnis zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten war und blieb ein Sonderfall. Einerseits von besonderer Sympathie geprägt, immerhin haben die Franzosen die junge Nation in ihrem Kampf um Unabhängigkeit unterstützt, ihr Groß-Louisiana verkauft und die Freiheitsstatue geschenkt. Andererseits durch Animositäten gekennzeichnet, die bis zu bösen Demarchen reichen können, sich routinemäßig aber auf mehr oder weniger ernst zu nehmende Kulturscharmützel beschränken – und auch diese sind ambivalent. Da wird gegen die Dominanz Hollywoods und die Anglisierung des Französischen gekämpft, doch es gibt kaum sonst wo in Europa so hohe Sympathiewerte für amerikanische Kulturikonen. Man mag McDonald’s verachten, bemerkte das Wall Street Journal
letzten Herbst anlässlich eines Springsteen-Konzerts in Paris, “but the Boss still rocks“.
Für den durchschnittlichen amerikanischen Kinogeher wiederum gibt es kaum Befremdlicheres als Filme, in denen Menschen, die nicht einmal wie Stars aussehen, in schwarzen Rollkragenpullovern kettenrauchend endlos miteinander debattieren – so zumindest das Klischee vom französischen Sonderweg; das tatsächliche Filmschaffen findet sowieso kaum den Weg in US-Kinos. Dessen
ungeachtet steht das Bild vom savoir vivre gerade in den USA in hohem Ansehen, von der Mode bis zur Küche oder, eine Etage höher, vom Denkmalschutz bis zur Gesundheitsversorgung: “Ich war eine Kritikerin des übertriebenen Sozialstaates”, schrieb unlängst eine US-Korrespondentin aus Paris, “bis ich in einer monatelangen Krebshandlung war und zum Schluss eine Rechnung über 50 Francs bekam.” Daheim wäre sie unter die Armutsgrenze gesunken. (Der
englische Historiker und Frankreich- und Amerikakenner Tony Judt sagt, dass hinter dem Spott der Anglos über die Gallier der pure Neid steckt. Und der amerikanische Historiker Richard Pells meint, dass die Europäer den US-Kulturimport vor allem transformiert und sich nicht ihm ausgeliefert hätten.)
Zwei Entwicklungen seit dem Ende des Kalten Krieges stellten das
transatlantische Verhältnis auf die Probe, und es kam nicht gut dabei weg:
der Konflikt auf dem Balkan und die Folgen des 11. September.
In Ex-Jugoslawien zeigte sich, dass Europa zwar wirtschaftlich zur Einheit strebte, aber sich zu keiner gemeinsamen Außen- und Militärpolitik durchringen konnte oder wollte. Es wurde eine Art Arbeitsteilung initiiert: Die USA leiten die militärische Phase, die EU kümmert sich um die nachträglichen humanitären Aufgaben. Von dieser Aufteilung ist seither immer wieder die Rede, kritisch aus dem Munde amerikanischer Falken, selbstbewusst bei den Vertretern einer neuen europäischen Identität.
Die Terroranschläge auf das World Trade Center und das Pentagon drängten fürs erste alle Divergenzen in den Hintergrund. Die Aufforderungen zur Einigkeit und die Bekenntnisse zu den Werten des Westens sind hinlänglich bekannt. Doch bald waren die Anzeichen, dass die Front bröckelte, nicht zu übersehen.
Es kam vieles zusammen, auf allen Ebenen: das Verschwinden einer bipolaren Welt mit klaren Feindbildern; die ernüchternde Erfahrung Europas auf dem Balkan; ein neuer Ton aus Washington, seit sich die Regierung Bush ein halbes Jahr vor den Anschlägen installiert hatte; eine wachsende Skepsis gegenüber dem Absolutheitsanspruch dieser Regierung; die mangelnde Erfahrung mit einem neuen Gegner, gegen den alte Verteidigungskonzepte nicht funktionieren; unterschiedliche Auffassungen, wie bestimmten Staaten international zu begegnen sei. Und das sind nur die makropolitischen Faktoren. Dazu kommen die gesellschaftlichen und kulturellen Divergenzen wie Gemeinsamkeiten, die ihre kaum vorhersagbare eigene Dynamik entwickeln.
Die Westeuropäer beurteilen die USA derzeit überwiegend kritisch,
insbesondere die Deutschen und die Franzosen Nur die durch die Nahost-und Anti-Islam-Politik Amerikas betroffenen Völker zeigen hier noch höhere Werte, während die Osteuropäer und viel mehr noch die Japaner Sympathien für die Ideen, Gebräuche und Demokratievorstellungen der USA hegen. Allerdings ist sich auch eine qualifizierte Mehrheit in Westeuropa einig, dass die Welt angesichts einer weiteren Supermacht gefährdeter wäre – da besteht kaum ein Unterschied zwischen den Engländern und den Bewohnern des Kontinents. Man distanziert sich von den Werten des großen Verbündeten, will ihn aber im Zweifelsfall durch niemanden bedroht sehen.
Hier haken die transatlantischen Kritiker Europas ein. Die EU könne nicht mal ihre eigenen Probleme lösen, wolle sich aber als gleichwertiger Partner auf der Weltbühne aufspielen. “Das wirkliche internationale Leben ist aber nicht nett”, meint dazu der neokonservative und in Washingtoner Kreisen hoch angesehene Politik-Forscher Robert Kagan. Ohne militärische Überlegenheit
lasse sich keine internationale Politik machen. Kagans Kritik richtet sich genau so gegen europäische wie gegen inneramerikanische “Abstentionisten”, d.h. alle, die im Fall Irak die Kriegsvariante ablehnen. Die europäische Opposition stört ihn dabei weniger, sieht er doch in der EU-Außenpolitik keine ernsthafte Konkurrenz. Neben der mangelnden militärischen Schlagkraft konstatieren er und andere amerikanische Neokonservative wie Walter Russell Meade vom Council on Foreign Relations, dass die europäische Volkswirtschaft stagniere: “Jacksonianer (also US-Nationalisten, zu denen er sich zählt; red.) glauben, dass Europa voraussichtlich weiter an Einfluss verlieren wird, weil seine Bevölkerung nicht nur zurückgeht, sondern auch immer älter wird, weil seine Wirtschaft sich langsamer entwickeln wird als die Volkswirtschaften in den Entwicklungsländern, von der amerikanischen ganz zu schweigen.”
Die demografische Problematik in der EU ist hinlänglich bekannt und außer durch eine radikal neue Einwanderungspolitik kaum zu lösen. Die ökonomischen Voraussagen von Kagan und anderen sind jedoch keineswegs unbestritten. Der Historiker Charles A. Kupchan begründet den Titel seines eben erschienenen Buches, The End of the American Era, mit dem zu erwartenden Aufschwung Europas (gekoppelt mit der Schwierigkeit für die USA, eine unipolar dominierte Weltordnung aufrecht zu erhalten). Der Soziologe Richard Sennett
ist ebenfalls überzeugt davon, dass Europa mittelfristig die größeren Chancen auf Weltgeltung hat als sein Heimatland (das er auch tendenziell Richtung England verlässt).
Die Liste inneramerikanischer Kritiker an den eigenen Verhältnissen bzw. an der offiziellen Haltung gegenüber Europa ist mindestens so lang wie die der Befürworter – stellvertretend für erstere und stabreimend nennen wir Carter und Clinton, Noam Chomsky und den legendären TV-Anchorman Walter Cronkite. Auch in Europa gehen die Fronten quer durch das politische Establishment, durch den akademischen und den kulturellen Bereich. Neben dem aktuell drohenden Krieg gegen den Irak geht es um ökologische Probleme, um Auslandshilfe und Staatsintervention, um die Rolle der Religion oder die Frage des Waffenbesitzes – letztlich um die Werte, für die man eintreten will.
Solches kann fundamentalistisch ausarten (wie den Amerikanern ja jetzt schon vorgeworfen wird). Der Kontinentaldrift, die transatlantische Auseinanderbewegung ist eingetreten, doch die Richtung steht nicht fest. Sie kann beeinflusst werden. Vielleicht sollte man wieder reisen, real oder virtuell. Es gibt viel zu entdecken, sobald der Blick unverstellt ist – zum Beispiel die Pluralisten, die laut dem Historiker H.A.Winkler in Amerika bisher immer noch die Oberhand behalten haben. Eine progressive, antidogmatische Politik braucht, gerade jetzt, Verbündete am anderen, sich entfernenden Ufer.
Published 11 February 2003
Original in German
First published by Der Standard, ALBUM 11 January 2003
© Michael Freund / Der Standard / Eurozine
PDF/PRINTNewsletter
Subscribe to know what’s worth thinking about.