Editorial "du"
Selbstverständlich ist dieses Heft eine Anmassung. Sein Titel Was Zeitgenossen wissen müssen verspricht zwangsläufig mehr, als die über 300 Einträge unterschiedlichster Länge und Autorenschaft halten können. Das Gegenteil ist allerdings auch wahr. Ebendiese Einträge halten um eine ganze Menge mehr, als uns jemals zu versprechen eingefallen wäre.
Unsere Anmassung ist unaufhaltsam über sich hinausgewachsen. Sie hat uns zur Entscheidungsfreude verurteilt und zur Kreativität. Im ersten Schritt erklärt die du-Redaktion Begriffe für wichtig und Autoren für kompetent. Im zweiten vergleicht sie Dinge, die nicht zu vergleichen sind, und findet Widersprüche interessant. Wo notwendig, reisst sie in einem dritten Durchgang nicht zu verbessernde Definitionen aus dem Zusammenhang und heftet sie sich an die Brust. Manchmal kapituliert sie auch vor dem Gewicht der Aufgabe und lässt einfach Bilder sprechen, manchmal lacht sie bloss.
Als Diderot – auch dieser Bezug, welche Anmassung! – für sein Lebenswerk der Encyclopédie 1751 den gleichnamigen Eintrag schrieb (->Enzyklopädie), war er zwischen Euphorie und Depression hin- und hergerissen. Er lobte das Werk, das zum Programm der Aufklärung werden sollte, als “eine Unmenge vortrefflichen Materials […], das bisher in zahlreichen Werken verstreut ist & dort ruht, ohne irgendeine nützliche Erkenntnis hervorzurufen, ähnlich wie vereinzelte Kohlen, die nie eine Glut bilden werden.” Aber er jammerte auch: “die Encyclopédie [war] eine Grube, in welche diese elenden Lumpensammler [D.s Mitarbeiter] alles durcheinander hineinwarfen – Unverdautes, Gutes, Schlechtes, Abscheuliches, Wahres, Falsches, Ungewisses & das alles ebenso wirr wie unzusammenhängend.”
Versteht sich, dass auch wir während der langwierigen Vorbereitungen zu diesem Heft entsprechenden Stimmungsschwankungen unterworfen waren. Das doppelt Verbindliche im Titel erwies sich als anspruchsvoll. Was sollen Voraussetzungen sein, um als ->Zeitgenosse, als Zeitgenossin gelten zu dürfen? Und was müssen Z. unter dem Strich wirklich wissen?
Wir trugen unzählige Wichtigkeiten, Assoziationen, Einfälle, Querverweise, Behauptungen zusammen, erwogen, spekulierten, nahmen Mass. Wir fanden heraus, dass die einzige für dieses Heft plausible Massarbeit jene der Anmassung sein musste. Das klärte Fronten, machte Spass. Was für die Lektüre jedes enzyklopädischen Werkes gilt – die wahre Lust stellt sich erst beim unsystematischen Lesen ein – gilt für das Erstellen eines Lexikons erst recht.
Erwarten Sie nicht nur Wichtigkeiten (aber auch). Erwarten Sie nicht nur Zentrales, Gravitätisches (aber auch). Erwarten Sie vor allem keine Vollständigkeit (wäre gelacht). Erwarten Sie Neuigkeiten, Revisionen, Störfeuer, Überraschungen. Erwarten Sie ein fragmentarisches, aber buntes Bild der Welt, wie sie sich dieser Tage dreht. Dieses Bild wird, wenn Sie mit offenen Augen durch den Inhalt dieser du-Ausgabe kreuzen, mit Gewissheit schärfer und präziser.
Noch einige nützliche Informationen:
Für dieses Heft haben so viele Autoren geschrieben wie noch nie zuvor in der langen Geschichte von du. Wo nicht anders vermerkt, handelt es sich bei den Beiträgen um für dieses Heft geschriebene Texte. Die grafische Gestaltung liegt seit dieser Ausgabe in den Händen von Wendelin Hess und Beat Müller, die es bereits beim magazin des tages-anzeiger und bei der weltwoche bravourös verstanden, Traditionstitel neu, zeitgemäss und haltbar zu definieren. Neuer Bildchef ist Andreas Wellnitz, bisher für max und weltwoche tätig gewesen.
Der im vergangenen Heft angekündigte Relaunch von du verzögert sich aus zwei Gründen. Erstens hatte die oben angesprochene Assoziationskraft der du-Redaktion und ihrer Mitarbeiter den Effekt, dass uns die Zahl und Qualität der eintreffenden Beiträge dazu zwang, die geplante Heftstruktur kurzerhand über den Haufen zu werfen, auf sämtliche Standards zu verzichten, zwei Druckbogen nachzulegen und das Septemberheft in die vorliegende Spezialausgabe zu verwandeln. Diesem Zwang gaben wir lächelnd nach.
Zweitens hat sich die Tamedia AG, seit 1988 Eigentümerin der Zeitschrift du, aus strategischen Gründen zum Verkauf des Titels entschlossen. Die daraus entstehende, zentrale Frage – nämlich unter welcher Trägerschaft du in Zukunft erscheinen wird -, konnte bei Redaktionsschluss noch nicht endgültig beantwortet werden.
Eines freilich ist gewiss: der weitere Bestand des Titels steht genausowenig zur Diskussion wie sein Anspruch auf höchste journalistische, fotografische und gestalterische Qualität.
Published 1 September 2003
Original in German
Contributed by du © du Eurozine
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