Dilemmas eines Herausgebers

Wie kaum ein anderer Zeitschriftenmacher verstand es Robert Silvers, der legendäre Mitgründer des New York Review of Books, Autoren zum Schreiben zu bringen. Er selbst aber schrieb nie. Mit einer Ausnahme: 2009 erschien in Transit sein Essay „Dilemmas eines Herausgebers“, in dem er über die Geschichte des Review und das Geheimnis seines Erfolgs erzählt. In einer Zeit, da die Vierte Gewalt unter zunehmenden Druck von Populismus und social media gerät, ist sein Plädoyer für einen unabhängigen und kritischen Journalismus aktueller denn je. Wir drucken es hier anlässlich seines Todes am 20. März 2017 wieder ab.

Für einen Zeitschriftenmacher ist es ungewöhnlich, einen Vortrag zu halten, und erst recht einen Vortrag über die Dilemmas, mit denen er sich konfrontiert sieht. Ich war immer der Ansicht, der Herausgeber einer Zeitschrift sei ein Vermittler, ein Mensch, der in mittlerer Distanz Autoren, die er bewundert, mit Lesern zusammenbringt, die sie hoffentlich schätzen werden. Und obwohl ich gelegentlich auch als Journalist und Kritiker gearbeitet habe, war ich doch immer Editor, zunächst bei der Literaturzeitschrift The Paris Review, nachdem ich 1954 aus der Army und meiner Stellung am NATO-Hauptquartier SHAPE ausgeschieden war, wo ich hauptsächlich militärische Verlautbarungen redigiert hatte. Danach wurde ich in New York Redakteur beim wohletablierten Harper’s Magazine, das, wie ich mich erinnere, sehr stolz darauf war, sowohl Mamie Eisenhower als auch Adlai Stevenson zu seinen Abonnenten zu zählen. Dort stieß ich erstmals auf eines der Probleme des Herausgebers, über das meines Erachtens zu wenig geschrieben wird, nämlich sein Verhältnis zu den Eigentümern. In einer Sondernummer zur amerikanischen Literatur publizierte die brillante amerikanische Literaturkritikerin Elizabeth Hardwick, Ehefrau von Robert Lowell, einen Aufsatz mit dem Titel »The Decline of Book Reviewing« (Der Niedergang der Buchrezension), in dem sie erklärte, die amerikanische Literaturkritik befinde sich allgemein in einem desolaten Zustand, und das gelte in besonderem Maße für die Rezensionen in der führenden New York Times.1Deren Buchbesprechungen vermittelten kaum merklich, freundlich, höflich und respektvoll das Gefühl, jedes lebhafte Interesse an Büchern oder literarischen Fragen überhaupt sei fehl am Platze. Das seichte Lob und die milde Missbilligung, der dürre Stil und der leichte Kurzartikel, das Fehlen von Engagement, Leidenschaft, Charakter, Exzentrik und selbst noch jedes literarischen Tons haben aus der New York Times ein provinzielles Literaturjournal gemacht.

Der Artikel sorgte für einige Aufregung beim Verlag Harper’s, der damals das Magazine besaß, aber auch zahlreiche Bücher publizierte, für die sich die Verlagsbesitzer günstige Rezensionen erhofften – und zwar in der New York Times. So kam es, dass man mich einbestellte und mir mitteilte, der Präsident der Harper’s Publishing Company werde eine Erklärung schreiben, in der sich Harper’s Magazine von Elizabeth Hardwicks Artikel distanziert und sich für diesen Lapsus entschuldigt. Ich hatte zwar volles Verständnis für die Sorgen der Eigentümer und mochte den Präsidenten, Cass Canfield, sehr, doch ich bestand darauf, dass man Elizabeth die Möglichkeit zu einer Erwiderung gab.

Sie sagte mir, sie sei keineswegs überrascht und sogar gespannt auf Cass Canfields Erklärung. Darin hieß es dann, Elizabeth Hardwick habe übersehen, dass der Herausgeber des New York Times Book Review nun einmal genau die unkritischen Buchbesprechungen bringen müsse, die weite Teile der Leserschaft erwarten, und Lizzie – welche die Vorzüge der britischen Rezensenten gegenüber jenen der New York Times hervorgehoben hatte – wisse offenbar nichts von den, wie Canfield sich ausdrückte, »Intrigen und wechselseitigen Gefälligkeiten« in den britischen Literaturzeitungen. Darauf erwiderte Elizabeth:

Wie es scheint, ist Mr. Canfield mit einigem Eifer darauf bedacht, sich von illoyalen Meinungen zu distanzieren, und offenbar glaubt er, damit den gewöhnlichen Leser auf seiner Seite zu haben. Daran habe ich keinen Zweifel. Aber ich sehe für den Augenblick keinen besonderen Grund, dem gewöhnlichen Leser, dem gewöhnlichen Verleger oder den gewöhnlichen Rezensionspublikationen Vertrauen zu schenken.

Und weiter schrieb sie:

Ich gestehe, dass ich fasziniert bin von dem Vorwurf, unter britischen Rezensenten und Herausgebern gebe es Intrigen und wechselseitige Gefälligkeiten. Falls das zutrifft, handelt es sich hier vielleicht um den natürlichen Machtkampf, der überall dort zu beobachten ist, wo etwas für die Gesellschaft auf dem Spiel steht. Unsere Liebenswürdigkeit vermittelt mir nicht den Eindruck einer hohen Moral. Sie gleicht eher dem höflich-unpersönlichen Blick einer Kassiererin, die Geld einnimmt, ohne sich in ihrem privaten Leben sonderlich davon beeindrucken zu lassen, ob die Rechnung groß oder klein ist.

Mit diesem Aufsatz und dieser Episode keimte damals der Gedanke auf, in Amerika eine andere Art von Literaturkritik zu schaffen. Und obwohl er sogleich als unrealistisch abgetan wurde, weil für eine neue Zeitschrift keine Anzeigen in Aussicht standen, eröffnete sich eines Morgens eine große Chance, als mein Freud Jason Epstein von Random House mich anrief und mir sagte, nun sei der Moment, ohne jedes Kapital eine neue Rezensionszeitschrift zu gründen, da die New York Times seit mehr als zwei Monaten von den Setzern bestreikt werde und die New Yorker Verleger verzweifelt seien, weil sie keine Möglichkeit hätten, Anzeigen für ihre unaufhörlich weitersprudelnde Buchproduktion zu platzieren. Falls ich ein plausibles Konzept für eine Rezensionszeitschrift hätte, müssten sie alle darin Anzeigen schalten. Er und seine Frau Barbara hätten am Abend zuvor mit Elizabeth Hardwick und Robert Lowell zusammengesessen, und die beiden hätten ihn gebeten, mich zu fragen, ob ich bereit wäre, Harper’s zu verlassen und eine neue amerikanische Literaturzeitschrift zu gründen.

So verließ ich denn Harper’s, bat Barbara, die neue Zeitschrift gemeinsam mit mir herauszugeben, und wir fragten Schriftsteller, die wir besonders schätzten, ob sie bereit seien, kurzfristig und ohne Honorar Rezensionen der aktuellen Neuerscheinungen zu schreiben und so zu demonstrieren, welche Art von Literaturzeitschrift wir unseres Erachtens brauchten. Und tatsächlich schrieben W. H. Auden, Norman Mailer, Mary McCarthy, Irving Howe, William Styron, Alfred Kazin und viele andere Autoren innerhalb weniger Wochen Beiträge für die erste Nummer, die im Februar 1963 erschien und im ganzen Land rasch ausverkauft war. Sie ermöglichte es uns, den New York Review nun auch ernsthaft zu gründen, indem wir Geld bei Freunden und Bekannten sammelten, denen unsere Nullnummer gefallen hatte. So konnten wir denn bald eine zweite Nummer herauszubringen, in der Edmund Wilson sich selbst interviewte, und zwar unter dem Titel »Every Man His Own Eckermann« (Jeder sein eigener Eckermann).

Entscheidend war nun, dass wir dank Jason einen Plan entwickelten, wonach es zwei Arten von Anteilen an der neuen Zeitschrift geben sollte: B-Anteile für Investoren und A-Anteile, die es den Mitgliedern unserer kleinen Gruppe ermöglichte, den Herausgeber zu bestimmen und die Kontrolle über den redaktionellen Inhalt zu behalten.

Selbst die Kontrolle zu behalten war kein bloß formales Arrangement, sondern entscheidend für alles, was wir taten. Damals erschienen die ersten Bücher über die Kennedy-Administration und den eskalierenden Vietnamkrieg. Von Anfang an war uns klar, dass keine Zeitschrift, die sich ernsthaft mit Büchern und Ideen auseinandersetzt, kontroverse Fragen meiden kann und dass es für eine Literaturzeitschrift oder ein intellektuelles Journal keine geschützte unpolitische Nische gibt. Als der Streit um den Vietnamkrieg und allgemeinere Fragen der amerikanischen Politik an Schärfe gewann, veröffentlichten wir Buchbesprechungen, Artikel und Reportagen, die sich meist kritisch mit dem Krieg auseinandersetzten, manche von französischen Autoren wie Jean Lacoutre und Philippe de Villiers, die das Land gut kannten, andere von diversen Autoren wie John K. Fairbank, Hannah Arendt, George Kennan, Noam Chomsky, Hans Morgenthau, Theodore Draper und dem vietnamesischen Buddhisten Thich Nhat Hanh.

Einer der Hauptinhaber von B-Anteilen kam damals zu mir und sagte, seiner Überzeugung nach sei die Unterstützung der amerikanischen Bemühungen eine Frage amerikanischer Glaubwürdigkeit. Da er aber redaktionell keinen Einfluss habe, wolle er sich nicht weiter am Review beteiligen; man solle ihm deshalb seine Anteile auszahlen und wir würden Freunde bleiben. Aber er ließ keinen Zweifel daran, dass er durchaus versucht hätte, den Review zu einer Richtungsänderung zu zwingen, hätte er die Macht dazu gehabt.

Als später dann die Nordvietnamesen den Süden besetzten, lenkte meine Freundin Grace Dudley meine Aufmerksamkeit auf einen langen Bericht des frankokanadischen Priesters André Gelinas, in dem er beschrieb, wie die Vietcong und Nordvietnamesen nach dem Einmarsch in Saigon Bücher verbrannten, Schriftsteller inhaftierten und Menschen misshandelten. Als wir diesen Artikel publizierten, kamen einige Inhaber von B-Anteilen zu mir und beklagten sich bitter. Wie für manche anderen Kriegsgegner damals waren auch in ihren Augen einzig die vielen Opfer der amerikanischen Bombardierungen der Aufmerksamkeit wert, weshalb sie den Artikel für unerträglich hielten. Tatsächlich hatte er zur Folge, dass mehrere Dutzend Abonnements gekündigt wurden, aber natürlich sind solche Kündigungen letztlich ein Gütesiegel für jedes intellektuelle Journal, das diesen Namen verdient.

Über die Jahre hatten wir mit vielen ähnlich heftigen Klagen zu tun, manche von B-Anteilseignern. Dies betraf insbesondere Artikel zu Israel und Palästina von israelischen Autoren wie Amos Elon, Avishai Margalit und David Grossman, die sich gegen die israelische Besetzung der Westbank, die dortigen Siedlungen und die Politik Israels gegenüber den Palästinensern richteten. Auch hier kam es zu zahlreichen Kündigungen. Ein prominenter Verleger bot uns an, die Zeitschrift zu kaufen, und jemand, der ihn gut kannte, sagte uns, dass er an dieser Art von Kritik gern etwas verändert hätte.

Entscheidend war in dieser Situation nicht nur die Tatsache, dass wir selbst die Kontrolle über die redaktionellen Inhalte besaßen, sondern ab dem dritten Jahr auch einen kleinen Gewinn erzielen konnten. So konnten wir unabhängig von den Anschauungen der Inhaber von B-Anteilen oder mancher beleidigte Leser weitermachen, wie wir es uns vorstellten, solange wir nur die Druckerei und die Miete zahlen konnten. Und das gelang uns tatsächlich, vor allem dank einer wachsenden Zahl von Abonnenten und Anzeigenkunden, insbesondere aus dem Bereich der Universitätsverlage.

Welche Wünsche unsere Investoren und unsere Leser auch gehegt haben mögen, es ging uns von Anfang an in erster Linie darum, uns auf die Seite von Menschen oder Gruppen zu stellen, die unter staatlicher Macht zu leiden hatten; von Menschen, die wegen ihrer Meinungen, ihrer Wertvorstellungen oder ihrer Identität drangsaliert und schikaniert, inhaftiert oder gefoltert, verschleppt oder umgebracht wurden, ob nun unter kommunistischen Regimen in Russland, China, der Tschechoslowakei, Polen und Kuba oder unter rechtsgerichteten Militärregimen in Argentinien, Chile und Brasilien oder unter repressiven, von den USA unterstützten Regimen in Guatemala, Indonesien und Osttimor.

Ich erwähne das, um ein oft ignoriertes und verdecktes Problem von Herausgebern zu verdeutlichen, die sich in einer weniger glücklichen Lage befinden als wir, weil sie tatsächlich gegenüber den Eigentümern in der Pflicht stehen und ein tragfähiges Verhältnis zwischen ihren eigenen Anschauungen und Werten und denen der Eigentümer ihrer Zeitungen und Zeitschriften finden müssen. Hier liegt, wie ich meine, ein häufig unausgesprochenes Problem für Zeitungs- und Zeitschriftenmacher. Aus einigen flagranten Fällen wissen wir, dass der Wechsel des Eigentümers über Nacht zu einer Veränderung der Leitartikel und sogar der Berichterstattung führen kann, wie etwa als Dorothy Schiffs gemäßigt liberale, den Demokraten nahestehende New York Post von Rupert Murdoch übernommen wurde, der die Zeitung auf einen konservativen, die Republikaner unterstützenden Kurs trimmte und australische Redakteure und Autoren hereinholte, die dem Blatt einen völlig neuen Ton gaben, so dass High Society-Klatsch und Sexskandale immer größeren Raum einnahmen.

Doch auch abgesehen von solch radikalen Mutationen stellt sich die Frage nach dem tagtäglichen Verhältnis zwischen den Journalisten und ihrem Verleger. Das ist ein Thema, das in der Regel vermieden wird. Von Zeit zu Zeit erhaschen wir einen Blick darauf, wenn der Machtanspruch des Verlegers offen zutage tritt, etwa als Phil Geyelin in der Washington Post kaltgestellt wurde, weil er gegen den Vietnamkrieg war, oder als der für die Meinungsseite der New York Times zuständige John Oakes den Gegner von Ed Koch im Wahlkampf für das Bürgermeisteramt mit einem Leitartikel unterstützen wollte und sein Verleger, Oakes’ Vetter Arthur Sulzberger, statt dessen einen pro-Koch-Leitartikel ins Blatt setzen ließ.

Eine der wenigen offenen und gründlichen Erörterungen dieser Frage findet sich in den Memoiren Raymond Arons, der dort ausführlich die Umstände schildert, unter denen er seine Kolumne im Figaro nach einem Streit mit dessen Eigentümer aufgab und zu dem Nachrichtenmagazin L’Express ging, das gerade von Jimmy Goldsmith übernommen worden war, einem brillanten und einnehmenden Millionär mit eigenen politischen Ambitionen, die vielleicht unausgegoren und widersprüchlich waren, aber mit Sicherheit jede Sympathie für die Präsidentschaft François Mitterands ausschlossen.

Doch als Jimmy diese prominente, moderat linksliberale Zeitschrift übernahm, hatte er – ohne Aron etwas davon zu sagen – eingewilligt, dass der Chefredakteur Olivier Todd, der vom Nouvel Observateur gekommen war, das Recht hatte, »seine Leitartikel mit sozialistischer Tendenz zu schreiben«, während die wichtigsten Kolumnen von dem brillanten antikommunistischen Autor Jean-François Revel geschrieben werden sollten und von Raymond Aron selbst, der sich mit Revel auf eine praktikable Arbeitsteilung einigte. Dennoch kam es, wie Aron schreibt, vor der Präsidentenwahl, als er sich gerade einer kleineren Operation unterziehen musste, zum Streit, weil Jimmy empört war über ein von Olivier Todd gebilligtes Titelbild, das einen vitalen François Mitterand und einen nicht ganz so vital wirkenden Valéry Giscard-d’Estaing zeigte, was zur Folge hatte, dass Todd auf der Stelle gefeuert wurde.

Aron berichtet, wie bekümmert er war, als er erfuhr, dass Jean-François Revel aus Solidarität mit Todd gekündigt hatte und zu Le Point gegangen war, und wie sehr es ihn betrübte, dass weder Todd noch Revel ihn im Krankenhaus angerufen, ihn über das Geschehen informiert und seinen Rat gesucht hatten. »Warum«, so fragt er, »nahmen sie keinen Kontakt zu mir auf?« Da ich einige der Beteiligten kannte, verstand ich es gut, als einer von ihnen mir sagte: »Hätten Sie sich vorstellen können, Raymond Aron im Krankenhaus zu stören?«

Jedenfalls beschloss Aron zu bleiben, und er beschreibt sehr genau Jimmys Position, der das Gefühl hatte, wenn er schon das Risiko einging, mit dem Express Geld zu verlieren, so solle die Zeitschrift doch zumindest seine Anschauungen widerspiegeln und ihn nicht bei seinen konservativen politischen Freunden in Verlegenheit bringen. Aron gelangt zu dem Schluss, dass es keine klare Lösung für dieses verzwickte Problem gebe. Ihm sei es letztlich lieber, so schreibt er, die Macht liege eindeutig in den Händen eines so bedachten Verlegers wie Pierre Brisson, zu dem er beim Figaro ein gutes Verhältnis gehabt habe, oder auch eines Mannes wie Jimmy. Und zur Begründung erklärt er, die Alternative bestünde in einer Form kollektiver Herausgeberschaft, einer »Selbstverwaltung«, die letztlich in Machtkämpfe zwischen rivalisierenden Journalistengruppen, darunter auch weniger qualifizierte, ausarten müsse, und das sei durchaus keine Lösung. Und natürlich war es ebenso wenig eine für uns in New York.

Aron bezieht sich hier auf Le Monde, deren Herausgeber von einem kollektiven Selbstverwaltungsorgan, der Société des rédacteurs du Monde, bestimmt wird. Doch wenn er statt persönlicher Erinnerungen eine Analyse der Macht von Verlegern geschrieben hätte, wären ihm sicher auch ganz andere Arrangements in den Sinn gekommen, die sich in verschiedenen Ländern bewährt haben. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen, sei etwa der britische Guardian erwähnt, dessen Eigentümer, der Scott Trust, laut Statuten dazu verpflichtet ist, die redaktionelle Unabhängigkeit des Blattes auf Dauer zu sichern, und der sich grundsätzlich nicht in die Entscheidungen des Herausgebers einmischt. Man könnte sich auch die als gemeinnützige Stiftung verfasste Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die Geschichte der Warschauer Gazeta Wyborcza anschauen, die aus der Solidarność-Bewegung hervorgegangen ist und deren Herausgeber Adam Michnik und Helena Luczywo stets über die liberalen Grundsätze des Blattes gewacht haben.

Dennoch sind dies Sonderfälle. Solange es unabhängige Zeitungen gibt, wird der Eigentümer in der Regel seine eigenen Vorstellungen haben, während Herausgeber und Redaktion aufgrund eines gewissen Maßes an ausdrücklicher und stillschweigender Übereinstimmung mit diesen Vorstellungen ausgewählt werden. Zu fragen wäre allerdings, ob dieses Herausgeber-Dilemma unbedingt verschleiert werden muss, wie es meistens geschieht, oder ob es bei Meinungsverschiedenheiten nicht möglich sein sollte, die unterschiedlichen Ansichten von Verleger und Redaktion deutlich zu machen, ohne die Realität zu verleugnen, dass die Macht letztlich beim Verleger liegt. Eine gute Antwort auf diese Frage scheint mir der freimütige und analytische Kommentar zu sein, den wir in Raymond Arons Memoiren finden – ein Beispiel, das offensichtlich wenig Nachahmer gefunden hat.

Zum Glück sind wir selbst von diesem Dilemma verschont geblieben. Rea Hederman, Spross einer Familie von Zeitungsbesitzern in Mississippi, machte uns 1984 das Angebot, den Review zu kaufen, mit dem Versprechen, dass wir als Gründer der Zeitschrift dieselbe uneingeschränkte redaktionelle Freiheit wie zuvor genießen sollten, während er sich um den Ausbau der Zeitschrift und ihrer Ressourcen kümmern wollte. Alles sehr schön, sagten wir, aber wenn Sie uns rauswerfen wollen, brauchen Sie nur die Türschlösser auszuwechseln.

Doch nach langen Diskussionen glaubten wir ihm schließlich, und er hat sein Wort uneingeschränkt gehalten. So verfüge ich bei der Herausgabe des New York Review seit 46 Jahren und nahezu tausend Nummern über eine Freiheit, die in der Geschichte des Journalismus einzig dastehen dürfte – und das heißt auch, ich kann mich nicht herausreden. Vor vielen Jahren sagte mir einmal mein einstiger College-Lehrer, der Soziologe Daniel Bell, das vernachlässigte Element im Leben der Publikationen und eigentlich im gesamten geistigen Leben sei das »kleine c«, wie er es nannte, nicht class, sondern clique, die kleine Gruppe Gleichgesinnter, die mit ihren gemeinsamen Ideen und Werten den Kern einer Zeitschrift bilden könnten. Und wie die Macht des Verlegers heute und wohl auch in Zukunft weitgehend verschleiert bleibt, so können die engen Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Clique in Gestalt gegenseitigen Vertrauens und gemeinsamer Ideale – die ihren öffentlichen Ausdruck in den von ihnen initiierten Artikeln finden – eine ganz eigene Macht besitzen.

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Mit einem anderen Problem verborgener Macht haben nicht nur Herausgeber zu kämpfen, sondern wir alle, wenn wir über China berichten. Dieses Problem verdeutlicht etwa ein Anfang der 1980er Jahre im Review veröffentlichter Artikel des brillanten deutschen politischen Denkers Richard Löwenthal über das Werk der Soziologin und Politologin Theda Skocpol und deren vergleichende Forschungen zu den Revolutionen in Frankreich, Russland und China. Löwenthal führte aus, bei aller Aufmerksamkeit für die von Mao und dem Maokult ausgelösten Turbulenzen und Konvulsionen der Revolution und Kulturrevolution fehle doch ein Gespür für die Funktionsweise der von ihm so genannten »Partei neuen Typs«, nämlich der von Lenin erfundenen diktatorischen Partei.

Nun fand ich es in diesen 46 Jahren doch sehr interessant, dass nach dem Niedergang Maos, dem Aufstieg der Marktwirtschaft und dem Ende der kollektiven Landwirtschaft unter Deng Xiao Ping die wichtigsten Nachrichtenquellen zu China immer seltener das Phänomen der Partei und ihrer Methoden zur Sicherung ihrer Macht zum Gegenstand ihrer Kommentare machen. Und tatsächlich, hinter den Wolkenkratzern in Schanghai und Peking, hinter mehr als 300 Millionen Internetnutzern und über 700 Millionen Mobiltelefonen, hinter der Vielfalt dynamischer Entwicklungen, deren Symbol die Olympischen Spiele waren, tritt in dem, was wir über China hören, das tatsächliche Machtsystem zurück. Wie Andrew Nathan in einem Buch und einem im Review erschienenen Artikel dargestellt hat, handelt es sich um ein System, in dem die Kommunistische Partei Chinas eine abgeschlossene Organisation von etwa 74 Millionen wohlausgewählten Mitgliedern bildet, die großen Einfluss in allen Bereichen der chinesischen Gesellschaft besitzt, vom Dorf über die Fabrik bis hin zu den Zeitungen und zum Geheimdienst. Auf dem alle fünf Jahre stattfindenden Nationalen Parteitag der Kommunistischen Partei Chinas werden die etwa 200 Mitglieder des Zentralkomitees gewählt, und die Mitgliedschaft in diesem Gremium ist die notwendige Voraussetzung für alle höheren Ämter in Regierung und Militär. Das Zentralkomitee bestätigt die 25 Mitglieder des Politbüros. Aber in Wirklichkeit wird über die Zusammensetzung des Politbüros in hinter verschlossenen Türen geführten Verhandlungen entschieden.

Neun Mitglieder dieses Gremiums bilden derzeit den Ständigen Ausschuss des Politbüros, der wöchentlich zusammentritt. Wie Jonathan Spence schreibt, entscheidet eine »äußerst begrenzte Zahl hoher Parteimitglieder« über dessen Zusammensetzung. Der Ständige Ausschuss ist das höchste Machtorgan. Sein höchstrangiges Mitglied ist der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, im Augenblick Hu Jintao, der zugleich Staatspräsident und Vorsitzender der Militärkommission ist. Der Ständige Ausschuss fällt die meisten wichtigen Entscheidungen im Bereich der nationalen Politik, ob nun im Hinblick auf Landesverteidigung, Wissenschaft und Bildung oder den Wert des Yuan. Er kann sich mit allen Fragen befassen, die er behandeln möchte. Kein anderes Staatsorgan hat die Macht, seinen Entscheidungen zu widersprechen – und ganz gewiss nicht die vom Staat kontrollierte Presse.

Da die Entscheidungsprozesse in diesem System in den meisten Fällen hinter verschlossenen Türen verlaufen, ist es für jede Gruppe gefährlich, politischen Widerstand gegen das Einparteiensystem zu organisieren, und die Geschichte solcher Versuche hat uns als Journalisten über die Jahre oft beschäftigt. 1988 trafen Grace Dudley und ich in Peking an einem sehr kalten, regnerischen Abend an einer Straßenecke einen amerikanischen Schriftsteller und Wissenschaftler, der damals dort lebte und uns zu einem Treffen mit dem führenden chinesischen Astrophysiker Fang Lizhi mitnahm, der eine Reihe von Erklärungen zu den studentischen Forderungen nach Demokratie in China abgegeben hatte. Er war bereit, seine das Machtmonopol der Partei in Frage stellenden Vorstellungen im Review zu veröffentlichen. Nachdem sein Papier im Januar 1989 bei uns erschienen war, zirkulierte es in chinesischer Sprache auch in vielen Teilen Chinas und wurde vor und während der Tienanmen-Ereignisse, zu denen es nur fünf Monate später kam, häufig zitiert. Fang selbst suchte Schutz in der amerikanischen Botschaft und durfte ein Jahr später in die USA ausreisen, wo er heute in Colorado Astrophysik lehrt. Tausende junger Menschen, die seine Hoffnungen auf Demokratie außerhalb der Partei teilten, wurden verhaftet und in vielen Fällen auch gefoltert.

Ich erwähne das deshalb, weil eine Gruppe in Amerika lebender chinesischer Wissenschaftler und Schriftsteller uns im letzten Jahr mitteilte, in China werde ein Dokument vorbereitet, das von 8500 Intellektuellen, Schriftstellern und Angehörigen staatlicher Institutionen unterzeichnet worden sei und das nicht Reformen zur Verbesserung des bestehenden politischen Systems fordere – etwa eine gewisse Öffnung für abweichende Meinungen oder für konkurrierende Kandidaten bei den Wahlen auf lokaler Ebene –, sondern eine Abkehr von zentralen Elementen, etwa der Einparteienherrschaft, zugunsten eines auf Menschenrechten und Demokratie basierenden Systems. Unter Punkt 9 forderte dieses Dokument zum Beispiel: »Wir müssen das Privileg der Partei auf das Machtmonopol abschaffen und die Prinzipien eines freien und fairen Wettbewerbs zwischen politischen Parteien gewährleisten.«

Die Gruppe, die dieses Dokument verfasste, nannte sich Charta 08, in Anlehnung an die von Václav Havel und seinen Weggefährten in der Tschechoslowakei gegründete Charta 77, und der erste Name auf der Liste der Unterzeichner war der des chinesischen Schriftstellers und Dissidenten Liu Xiaobo, der nach seiner Teilnahme an den Demonstrationen auf dem Tienanmen-Platz zwei Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Man sagte uns, da der Review über die Jahre immer wieder über Menschenrechtsaktionen berichtet habe, wünschten die Organisatoren, dass die englische Übersetzung als erstes im New York Review erschien.2

Wir legten unseren Publikationstermin auf den 8. Dezember, an dem die Charta 08 in Peking veröffentlicht werden sollte, und genau an diesem Tag wurde Liu Xiaobo von der Polizei in seiner Wohnung verhaftet und weggebracht. In einer der nächsten Ausgaben publizierten wir einen Brief seiner Ehefrau, die auch nach sechs Monaten noch nicht wusste, in welchem Gefängnis man ihn festhielt. Später hieß es dann, er werde in einem Gebäude in einem Pekinger Außenbezirk gefangen gehalten. Vielleicht spricht es ja für einen gewissen Fortschritt, dass andere Unterzeichner zwar von der Polizei aufgesucht, für mehrere Stunden festgenommen und mehrfach verhört, dann aber wieder auf freien Fuß gesetzt wurden. Die Charta 08 wurde allerdings in China vollständig aus dem Internet verbannt, auch wenn sie gelegentlich dank findiger Web-Nutzer für ein paar Stunden wieder auftaucht.

So mussten wir wieder einmal erfahren, was jedem droht, der das Machtmonopol der Partei in Frage stellt. Aber hat man das in den westlichen Zeitschriften und in der westlichen Öffentlichkeit in angemessener Weise herausgestellt? Man muss lange suchen, um in der westlichen Presse etwas über Liu Xiaobo und die Charta 08 zu finden. Vor den Olympischen Spielen berichteten westliche Nachrichtenagenturen, als wollten sie Besorgnisse von Athleten und Freunden des Sports über die Abhaltung der Spiele in einem Polizeistaat schon im Vorfeld zerstreuen, das Regime werde eigens Büros in Peking einrichten, in denen um die Menschenrechte besorgte Chinesen ihren Protest freimütig vortragen könnten. Nach der prunkvollen Eröffnung der Spiele hörte man dann kaum noch etwas von diesen Büros, abgesehen davon, dass zwei ältere Damen sich über die Behandlung ihrer Familien wegen abweichender politischer Ansichten beklagten. Man schickte sie unverzüglich zur Umerziehung ins Gefängnis und ließ sie später wieder frei.

Wo kann man denn etwas lesen über die mehr als 25 000 politischen Gefangenen in China – viele davon inhaftiert wegen des Schreibens von Artikeln und Petitionen oder wegen anderer dissidente Aktivitäten, über die gar nicht berichtet wird? Ganz zu schweigen von den auf mehr als 170 000 geschätzten Gefangenen, die zu »Umerziehung durch Arbeit« oder Zwangsarbeit verurteilt worden sind, vor allem in Teilen des Landes wie etwa Sinjiang, zu denen Journalisten keinen Zugang haben. Und wo erfährt man etwas über die mehr als 30 000 »Internetpolizisten«, die E-Mails, Websites und Blogs im Rahmen des »Projekts Goldener Schild« nach potentiell unliebsamen Inhalten durchkämmen? Es ist ein offenes Staatsgeheimnis, dass die Eingabe von Stichwörtern wie »Kommunistische Partei«, »Falun Gong«, »Unabhängigkeit Taiwans«, »Tiananmen« und »Tibet« eine automatische Sperrung auslöst.

Ein Grund, weshalb wir nicht mehr über solche Dinge erfahren, liegt in der Tatsache, dass viele Journalisten und Wissenschaftler, die sich mit Menschenrechtsfragen befassen, kein Visum mehr erhalten. Tatsächlich haben viele Korrespondenten und Experten, die ich kenne, das erlebt. Meist beklagen sie sich nicht öffentlich darüber. Journalisten hoffen, irgendwann wieder einreisen zu dürfen, Wissenschaftler möchten ihre Forschung fortsetzen. Wer ein Visum erhält, denkt unweigerlich an das, was Anderen geschehen ist, die keines erhalten haben; und Herausgeber stehen vor dem Dilemma, wie sie die Wahrheit über versteckte Repression herausfinden sollen, wenn ein gewisses Verständnis dafür besteht, dass jemand, der zu weit geht, möglicherweise bestraft wird. Unsere Außenministerin Hillary Clinton sagte im Februar dieses Jahres, dass Fragen nach den Menschenrechten wichtig seien, nicht aber die amerikanischen Beziehungen zu China beeinträchtigen dürfen: »Wenn wir auf solche Fragen drängen, darf das nicht auf Kosten von Lösungen für die weltweite Wirtschafts- und Sicherheitskrise gehen. Wir brauchen ein positives, kooperatives Verhältnis.«

Das erinnerte mich an das berühmte Titelbild einer Sondernummer der Zeitschrift Life vom März 1943, des populärsten Blatts des Luce-Imperiums, das sich seit seinen Anfängen in den 1920er Jahren stets darum bemüht hatte, die Übel des Kommunismus herauszustellen. Doch auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs schrieben die Herausgeber dieser Nummer über die Sowjetunion: Kein Land hat in der Geschichte jemals so viel in so kurzer Zeit erreicht. Wenn die Führer der Sowjetunion uns sagen, die Kontrolle der Information sei notwendig gewesen, damit das Ziel erreicht wird, dürfen wir ihnen für den Augenblick wohl glauben.

Dagegen wurde kaum etwas gesagt über die Millionen von Sowjetbürgern, die bereits umgebracht worden waren oder zu dieser Zeit im Gulag und in Folterkammern litten. Klar schien in dieser Phase des Krieges, dass eine zeitweilige Abhängigkeit der Vereinigten Staaten von der Sowjetunion bestand. Und heute, da die Schulden der Vereinigten Staaten beim chinesischen Regime mehr als eine Billion Dollar erreicht haben und die schwächelnde amerikanische Wirtschaft auf chinesische Kredite angewiesen ist, um unter anderem billige chinesische Erzeugnisse zu kaufen – heute ist mutatis mutandis klar, dass eine zwar ganz andersartige Abhängigkeit, aber dennoch eine Abhängigkeit der USA von China besteht. Henry Kissinger schrieb dazu am 20. August in der Herald Tribune: »Als Amerikas größter Gläubiger besitzt China ein Maß an wirtschaftlichem Einfluss, wie es Amerika noch niemals erlebt hat.« Fragen nach Menschenrechten, Unterdrückung und Folter sind deshalb in den Hintergrund gedrängt worden, ganz wie von Hillary Clinton gefordert, und zwar nicht nur bei der Regierung, sondern auch bei manchen Wissenschaftlern und bei Teilen der Presse. Und auch das stellt die Herausgeber vor ein Dilemma.

 

Alle genannten Dilemmas – die Macht des Eigentümers, die Frage der redaktionellen Unabhängigkeit, die Hindernisse für die Darstellung der chinesischen Parteidiktatur – hängen mit zwei der nachhaltigsten Veränderungen in der modernen Geschichte zusammen, den kulturellen Revolutionen nämlich, die durch die elektronische Digitalisierung und durch das Internet ausgelöst worden sind.

Wenn Sie in mein Büro kämen und die gut 100 Bücher sähen, die ich alle paar Tage erhalte, vergäßen Sie vielleicht für einen Augenblick, was wir alle wissen: dass die von Gutenberg vor 500 Jahren erfundene Technologie, das Vehikel für die Verbreitung von Wissen und Kultur, das wir geerbt haben, mit jedem Tag obsoleter wird. Die Frage ist, wie wir diese Funktion, dieses Wissen und diese Kultur bewahren können.

Am 9. Oktober 2009 verkündete Google, dass die Zahl der digitalisierten Bücher bei Google Books die Zehn-Millionen-Marke überschritten habe.3Mehr als eine Million davon sind gemeinfrei. An den übrigen sechs Millionen besteht noch ein Urheberrecht, und ein New Yorker Gericht hat einen Vergleich vorgeschlagen, über den im November entschieden wird, wonach die Erlöse aus den Downloads der von Google digitalisierten urheberrechtlich geschützten Werke zwischen Google und den Verlagen sowie den Autoren geteilt werden sollen. Institutionen und Privatleute können diese Texte dann gegen eine Gebühr bei Google oder von Google lizensierten Distributoren herunterladen.

Natürlich werden diese Texte nicht nur auf PCs erscheinen, wo man sie ausdrucken kann, wenn man weiterhin lieber auf Papier liest – und ich denke, daran werden viele festhalten wollen. Man wird sie auch auf eine wachsende Vielzahl handlicher Lesegeräte laden können, wie sie bislang nur in primitiven und teuren Formen wie dem Kindle von Amazon und dem Sony Reader vorliegen, oder auch mit verschiedenen Leseprogrammen für das iPhone.

Niemand von uns hier in diesem Raum dürfte wohl bereit sein, auf seine private Bibliothek oder auf öffentliche Bibliotheken zu verzichten, doch die jüngere Generation wird zunehmend in einer Welt digitalisierter Downloads leben. Und vielen von ihnen dürften die 500 Jahre Gutenberg-Technologie, in denen Millionen von Bäumen und Berge von Druckerschwärze verbrauchte wurden, als eine vergangene Epoche erscheinen. Die dynamische Kraft, die diese kulturelle Revolution ermöglicht, ist natürlich das Internet mit seiner in Sekundenschnelle erfolgenden und in ihren Auswirkungen noch gar nicht voll erfassten Übertragung digitalisierter Texte und Bilder.

Google hat inzwischen etwa 24 Milliarden Seiten Text indexiert, das heißt, man hat auf diesen Seiten Namen, Orte und verweisungsfähige Ereignisse isoliert, die Sie und ich aus dem Internet auf unsere eigenen Bildschirme holen können. In ebendiesem Internet gibt es heute schätzungsweise 200 Millionen Websites, das heißt identifizierbare, von Organisationen oder Einzelpersonen bereitgestellte Seiten, auf die man gelangen kann, indem man deren Web-Adressen eingibt. Und unter diesen Websites gab es, einer Erhebung von Universal McCann zufolge, im März 2008 in den USA 26,4 Millionen Blogs, von denen viele in der Lage sind, regelmäßig Nachrichten unterschiedlichster Art zu empfangen und weiterzugeben.

Eine schmerzhafte Folge dieses unermesslichen und weiterwachsenden, in mancherlei Hinsicht unbeschreiblich neuen und revolutionären weltumspannenden Systems liegt nun darin, dass die traditionellen Zeitungen nach und nach überflüssig werden, weil eine ganze Generation sich inzwischen daran gewöhnt hat, sie nicht auf Papier, sondern im Internet zu lesen und dort die sie jeweils interessierenden Artikel auszuwählen oder die Nachrichten hauptsächlich in Radio und Fernsehen zu verfolgen. Aber auch die Wirtschaft, die bislang die Zeitungen mit ihrer Werbung für Konsumgüter und mit Immobilien- oder Stellenanzeigen unterstützt hat, hält Werbung auf Papier zunehmend für unwirtschaftlich und wirbt lieber im Radio, im Fernsehen oder im Internet.

Dennoch muss gerade einem Herausgeber wie mir auffallen, dass, während Zeitungen ihr Erscheinen einstellen oder ihre Redaktionen verkleinern, die im Internet abrufbaren Nachrichten weiterhin vorwiegend von Journalisten der noch existierenden Zeitungen und Nachrichtenagenturen stammen, ob nun New York Times oder USA Today oder BBC oder AP. Wenn Sie etwa auf Google News gehen, werden Sie sehen, dass ein sehr großer Teil der dort kompilierten Nachrichten über Links zu Tageszeitungen und Nachrichtenagenturen führt, denen bezahlte Reporter diese Nachrichten geliefert haben. Was wird aus ihnen, wenn die Zeitungen untergehen und deren Websites kein Geld mehr haben, um die Journalisten und Herausgeber zu bezahlen, die weitermachen möchten?

Das ist nun wirklich ein Problem, das uns alle betrifft. Dennoch ist es so, dass aus den Millionen von Blogs eine begrenzte Anzahl hervorgegangen ist, um deren Kommentare, Analysen, Meinungen kein Herausgeber einer amerikanischen Zeitung herumkommt. Welcher Journalist oder Autor könnte heute Websites und Blogs wie Slate.com oder The Daily Kos oder politico.com oder Talking Points Memo oder The Daily Dish oder The Huffington Post ignorieren? Einige dieser Blogs haben nützliche Funktionen erfüllt, zum Beispiel juancole.com auf dem Höhepunkt des Irakkrieges, ein Blog, der von einem angesehenen Professor für Middle East Studies herausgegeben wird und Informationen aus der Presse des Nahen und Mittleren Ostens sowie von diversen Informanten und Wissenschaftlern liefern konnte, die eine unverzichtbare Ergänzung zu den Meldungen aus der »Green Zone« darstellten.

Wenn wir uns noch einmal der oben angesprochenen Frage nach der Macht des Verlegers zuwenden, können wir sehen, dass uns das Internet nicht nur ein alternatives Publikationssystem bietet, sondern auch neue Formen des Leserbriefs ermöglicht – von denen viele sonst niemals veröffentlicht würden. Außerdem hat das Internet neue Arten der Wahlkampffinanzierung hervorgebracht, wie Barack Obama mit der Liste seiner zehn Millionen Spender gezeigt hat, und alternative Systeme zur Übermittlung von Nachrichten innerhalb kleiner Gruppen – man denke an Facebook mit seinen 200 Millionen und an MySpace mit über 100 Millionen Teilnehmern oder auch an Twitter, dessen Teilnehmerzahl exponentiell wächst und inzwischen die 50-Millionen-Marke überschritten hat. Und schließlich entsteht im Internet, wie der Schriftsteller Michael Massing kürzlich in einem Artikel im New York Review gezeigt hat,4 ein wachsendes Netzwerk nichtkommerzieller Websites, die Informationen und Analysen anbieten. In den USA, so schreibt Massing, wäre es durchaus denkbar, dass sie sich mit dem starken nichtkommerziellen National Public Radio und vielleicht auch mit dem ebenfalls nichtkommerziellen Public Broadcasting Service zusammentun.

Aber mich interessiert hier nicht nur die Frage, woher ernsthafte journalistische Arbeit kommen soll. Zu den großen Errungenschaften der 500 Jahre Gutenberg-Technologie gehört auch die weite Verbreitung der aus Antike und Renaissance übernommenen Praxis objektiver Analyse und Kritik nach Maßstäben der Wahrheit, der Form, der Schönheit und der moralischen Verantwortung.

Was mich nun irritiert, ist die Tatsache, dass der Umgang mit der digitalen Revolution und dem Internet eines nahezu vollständig vermissen lässt, nämlich eine Analyse und an kohärenten Maßstäben ausgerichtete Kritik eben dieser Revolution. Tatsächlich findet sich so gut wie keine gründliche kritische Auseinandersetzung mit der Frage, wie die Inhalte und die Erfahrung des Internet mit seiner Fähigkeit der augenblicklichen Verknüpfung und Vernetzung unser Leben verändert, ob nun bewusst oder, wie ich ebenso glaube, unbewusst. Über die Erweiterung geschäftlicher und technischer Möglichkeiten und über neue Mittel zur Verbreitung, Verknüpfung und Nutzung von »Kommunikation« wird viel geredet. Aber was ist durch all diese Kommunikation gewonnen, und was geht verloren, vor allem hinsichtlich der Qualität der kommunizierten Inhalte? Während neue Filme oder Romane, die in New York oder Wien herauskommen, in der Presse oder online besprochen werden, bleibt das vielfältige, immer lautere und buntere Treiben in der cybersphere ohne kritische Begleitung. Möglichkeiten einer solchen Analyse und Kritik zu finden, stellt heute ein großes Dilemma dar und ist, wie ich meine, eine aufregende Herausforderung für einen Herausgeber.

Dieser Essay beruht auf einem Vortrag, den der Autor am 15. Mai 2009 zum jährlichen Fellows-Treffen des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien gehalten hat.

Harper's Magazine, October 1959, S. 138.

»China's Charter 08«, The New York Review of Books, Bd. 56, Nr. 1, 15. Januar 2009.

Vgl. http://googleblog.blogspot.com/2009/10/tale-of-10000000-books.html.

Siehe The New York Review of Books, 13. August und 24. September 2009.Vgl. dazu auch den von der Columbia Journalism School publizierten Bericht »The Reconstruction of American Journalism« von Leonard Downie Jr. und Michael Schudson, der auch einige der nichtkommerziellen Finanzierungsmodelle aufführt, wie sie von Michael Massing diskutiert werden. (www.journalism.columbia.edu/cs/ContentServer?pagename=JRN/Render/DocURL&binaryid=1212611716626)

Published 29 March 2017
Original in English
Translated by Michael Bischoff
First published by Transit 38 (2009) (German version)

© Transit

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