Die Wandlung der Biljana Plavsic

Nicht viele Frauen waren am Krieg beteiligt, schon gar nicht auf höchster Entscheidungsebene. Biljana Plavsic stand neben den Angeklagten Radovan Karadzic und Momcilo Krajisnik an der Spitze der Republika Srpska. Sie wurde wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verstößen gegen die Kriegsgesetze und die Genfer Konventionen zu elf Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Immerhin gehört sie zu den wenigen, die sich zu ihrer Verantwortung für Kriegsverbrechen bekannten.

Die einzige wegen Kriegsverbrechen angeklagte Frau, die “eiserne Lady” der Republika Srpska, sitzt ruhig auf der Bank im Internationalen Tribunal von Den Haag. Es ist Februar und kalt. Sie ist in ein elegantes dunkelbraunes Kostüm und einen olivgrünen Rollkragenpullover gekleidet, um ihren Hals hängt an einer Kette ein großes Kreuz. Manchmal stützt sie sich nachdenklich auf eine Hand. Aber in dem Augenblick, als der Richter Richard May das Urteil spricht, elf Jahre Gefängnis, zeigt sich im Gesicht von Biljana Plavsic keine Regung. Für eine 72jährige können elf Jahre bedeuten, daß sie bis ans Lebensende im Gefängnis sitzen wird. Aber Frau Plavsic blickt dem Richter in die Augen, ohne mit der Wimper zu zucken. Gefaßt, ruhig und ernst verliert sie auch in diesem schweren Moment nicht die Kontrolle. Man kann nicht erraten, was sie denkt.

Für ihr Alter sieht Biljana Plavsic gut aus. Ihr graumeliertes Haar ist schulterlang, und sie benutzt kaum Schminke, nur Wimperntusche und ein diskretes Rouge. Das Rouge und die pastellfarbenen Kostüme, die sie gewöhnlich trägt, sind ihr Markenzeichen. Hellgrün, Fuchsiarot und Dunkelblau sind offenbar ihre Lieblingsfarben. Und meist trägt sie eine Seidenbluse unter dem Jackett.

Ungeachtet der Umstände sieht Biljana Plavsic immer perfekt aus. Auf einem Foto ist das gut zu sehen: Sie besucht Soldaten an der Front, gekleidet in ein pinkfarbenes Kostüm. Die kräftige rosa Farbe hebt sich unter den Tarnuniformen ebenso ab wie ihre frauliche Erscheinung unter den groben Männergesichtern. Nichts konnte einen größeren Kontrast zu den Uniformen darstellen als dieses Chanel-Kostüm, es sei denn eine Abendrobe. Frau Plavsic scheint nicht zu den Soldaten zu gehören, nicht nur weil sie eine Frau, sondern weil sie eine Dame ist.

Auch im Gerichtssaal sieht sie aus, als gehörte sie nicht hierher.

Ihr Verhalten wurde als würdig beschrieben. Einverstanden, in einem Gerichtssaal erscheint sie würdig, aber an der Grenze zur Arroganz. Es war etwas in der Art, wie sie da saß, in ihrer Haltung, der Manier, wie sie sich den Richtern zuwandte, wie von oben herab, als wollte sie über sie richten. Das störte mich. Schließlich saß sie auf der Anklagebank und wurde abscheulicher Verbrechen beschuldigt – doch sie spielte die Erhabene.

Biljana Plavsic irritierte mich, bis ich etwas sehr Vertrautes in ihr entdeckte, oder irritierte sie mich gerade deswegen? Sie erinnerte mich an meine Mutter. Meine Mutter erschreckt andere Menschen allein durch ihre Erscheinung, selbst heute noch mit 76 Jahren. Und das hat nichts mit ihrer Macht oder ihrer Position zu tun, denn beides hatte sie nie. Ich entsinne mich, daß ich ihretwegen nicht gern Freunde nach Hause einlud. Sie galt als kalt und hochmütig, ja arrogant, weil sie auftrat wie eine Königin. Plötzlich ging mir auf, daß Plavsic derselbe Typ Frau sein muß. Es gibt Menschen mit einer angeborenen würdigen oder arroganten Haltung (das hängt von der Interpretation ab). Sie machen andere unsicher, sehen sie an, als stimme etwas mit ihnen nicht, als hätten sie ungewaschenes Haar oder einen Fleck auf der Kleidung oder hätten etwas Dummes gesagt. Das tun sie nicht absichtlich, oft sind sie sich dessen gar nicht bewußt. Einige ausländische Diplomaten zum Beispiel beschreiben Frau Plavsic als kalt und unangenehm. Während andere serbische Politiker warmherzig und entgegenkommend seien, habe sie sich des öfteren geweigert, jemandem die Hand zu geben.

Hier im Gerichtssaal gleicht Plavsic dem, was sie war, bevor sie in die Politik einstieg, das heißt wie eine angesehene Professorin der Biologie an der Universität Sarajevo. Dort machte sie erfolgreich Karriere. Sie war sogar als Fulbright-Stipendiatin eine Zeitlang in den Vereinigten Staaten. Es ist schwer zu sagen, was sie veranlaßte, ihren Beruf aufzugeben. Wahrscheinlich ist die Antwort wie in vielen solchen Fällen banal – Machthunger. Ich kann mir gut vorstellen, in welcher Situation sie sich 1990 kurz vor dem Kriegsausbruch in Bosnien befand. Sie war sechzig Jahre alt und hätte bald in den Ruhestand gehen sollen. Der ehrgeizigen und intelligenten Frau gefiel diese Perspektive nicht. Sie hatte weder Mann noch Kinder und Enkel, denen sie sich hätte widmen können. Wichtiger noch, sie sah, was für Menschen in die Politik gingen. Einige waren ihre Kollegen, Akademiker wie der bekannte Shakespeareologe Nikola Koljevic, der 1997 Selbstmord beging. Aber die meisten anderen waren eher unkultivierte, halbgebildete Leute mit dem einzigen Bestreben, sich dank ihrer Macht zu bereichern. Natürlich glaubte sie, eine bessere und kompetentere Politikerin sein zu können. Frei von Familienverpflichtungen und voller Energie stürzte sie sich in die Politik. Sicher war sie ambitioniert, aber im Unterschied zu ihren männlichen Kollegen offenbar nicht bestechlich. Man sollte nicht vergessen, daß sie, als sie bemerkte, wieviel Korruption in der Regierung herrschte, eine Säuberungsaktion einleitete und eine eigene Partei gründete, die 1997 bei den Wahlen gewann.

Als einzige Frau unter balkanischen Macho-Politikern mußte sie dafür natürlich einen Preis zahlen. Eine Frau in ihrer Position mußte besser, und das bedeutet unter den gegebenen Umständen, radikaler sein als die Männer. Und sie war es.
Die Tatsache, daß eine Frau für einige der schlimmsten Verbrechen während des Bosnien-Krieges Verantwortung trägt, ist schwer verdaulich für jeden, der ein bißchen daran glaubt, die Welt sähe besser aus, würde sie von Frauen regiert. Aber solange diese Frau in Bosnien regierte, war es die reine Hölle.
In der Republika Srpska unterstand sie formal nur dem Präsidenten Radovan Karadzic. Die Frage ist, wieviel Macht sie tatsächlich hatte, inwieweit sie von Radovan Karadzic und Slobodan Milosevic manipuliert wurde und inwieweit sie nur als Dekoration diente. Carl Bildt, der ehemalige Hohe Repräsentant in Bosnien, der vor Gericht als Zeuge auftrat, sagte, sie habe “nie an Diskussionen, Entscheidungen und Meetings teilgenommen, die sich mit kritischen Fragen von Krieg, Frieden und Macht befaßten”. Aber wenn sie auch nur geringe Macht hatte, sie wußte, was geschah und gab das vor Gericht auch zu.

Weil Biljana Plavsic eine Frau ist, fiel es mir schwer, ihr über diese zehn Jahre zu folgen. Es war schwer, ihre extrem nationalistischen Reden und ihre aus der Biologie stammenden Metaphern zu hören, wenn sie etwa zu erklären versuchte, die bosnischen Muslime seien ein “genetischer Fehler am serbischen Körper” und ihre Eliminierung nur ein “natürliches Phänomen” und kein Kriegsverbrechen. Selbst Slobodan Milosevic betrachtete sie als übertrieben radikal und reif für die Irrenanstalt. Es ist ein schrecklicher Gedanke, daß sie als – formales – Mitglied der Geheimpolizei und der Militärführung in der Republika Srpska von Folter und Mord an muslimischen Gefangenen in den Konzentrationslagern Omarska, Keraterm und Manja¢a gewußt haben muß. Es gibt ein beredtes Foto von ihr aus der Kriegszeit: Sie küßte den notorischen Verbrecher Zeljko Raznatovic Arkan, nachdem seine serbischen Paramilitärs Bijeljina eingenommen und 48 Menschen getötet hatten. Ihre Leichen lagen noch in den Straßen – ja sie mußte über eine hinwegsteigen, um Arkan zu umarmen, zu küssen und ihm zur erfolgreichen Beseitigung des “genetischen Fehlers” zu gratulieren.

Als sie im Januar 2001 von der Anklage hörte, begab sie sich sogleich nach Den Haag in der festen Überzeugung, nur ihre Pflicht getan zu haben, indem sie ihr Volk verteidigte und deshalb nicht schuldig sein könne an Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verstöße gegen die Kriegsgesetze und Mißachtung der Genfer Konventionen – was ihr vom Tribunal vorgeworfen wurde. Ihr erstes Statement war denn auch “nicht schuldig”.

Nach kurzer Haftzeit wurde sie gegen Kaution freigelassen. Ein echter Schock jedoch war ein Videolink vom Oktober 2002, wo Plavsic erstmals ihre ursprüngliche Aussage widerrief und sich schuldig bekannte. Das konsternierte viele Serben: Was ist los mit dieser Frau? Was will sie erreichen? Vielleicht erhofft sie eine mildere Strafe im Tausch für eine Zeugenaussage gegen Milosevic? Schließlich ist sie bekannt als eine kalte und berechnende Person, und solche Abkommen gehören zur juristischen Praxis.

Aber Biljana Plavsic überraschte alle. Als sie im Dezember desselben Jahres Gelegenheit bekam, vor dem Tribunal zu sprechen, bot sie das Bild einer völlig anderen Person. So anders, daß sie nicht wiederzuerkennen war. In ihrer kurzen Rede war sie plötzlich aufrichtig, bescheiden, rührend und voller Bedauern.

Es grenzt an ein Wunder, daß Biljana Plavsic nicht sagte “Ich wußte nicht” oder “Ich habe nur meine Pflicht getan”, daß sie nicht Mitleid zu erwecken suchte, weil sie die einzige Frau in dieser balkanischen Welt männlicher Politiker gewesen war. Vorher hatte sie sich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig bekannt (worauf die anderen Anklagepunkte gestrichen wurden). “Ich bin überzeugt davon, daß mehrere Tausend unschuldiger Menschen zu Opfern organisierter und systematischer Aktionen zur Beseitigung von Muslimen und Kroaten aus dem serbischen Territorium wurden …” Auch diese Erklärung ist ein wahres Wunder.

Auf die Frage, die sie sich selbst stellte – wie es möglich war, daß Serben Kriegsverbrechen begingen –, lautete ihre Antwort: Blinde Angst, die zu der Zwangsvorstellung führte, nie wieder Opfer zu werden wie in den Auseinandersetzungen mit den Kroaten während des Zweiten Weltkriegs. “Wegen dieser fixen Idee, nie wieder Opfer sein zu wollen, wurden wir zu Tätern”, gestand Plavsic. Dabei bemühte sie sich, nicht zu erklären, wie diese latente Angst aus den Tagen des Zweiten Weltkriegs von den Medien jahrelang hochgespielt wurde, die damit den Weg für die folgenden Verbrechen bereiteten.

Im Angesicht der Anklage wegen inhumaner Behandlung der nichtserbischen Bevölkerung bestätigte sie, davon gehört, es aber nicht überprüft zu haben, weil sie glaubte, ihr Volk sei solcher Taten nicht fähig. Doch sie gab zu, daß Selbstverteidigung keine Entschuldigung für Kriegsverbrechen ist und übernahm die volle Verantwortung.

In ihrer kurzen Ansprache fand Plavsic auch Gelegenheit, um Gerechtigkeit für die Opfer aller drei verfeindeten Seiten zu erbitten.

Ich kann nur tun, was in meiner Macht steht, und hoffen, daß es von Nutzen ist – die Wahrheit verstehen, sie aussprechen und Verantwortung tragen. Ich wünsche mir, daß dies den unschuldigen muslimischen, kroatischen und serbischen Opfern helfen wird, nicht in Erbitterung zu verfallen, die sich oft in Haß verwandelt, der wiederum zur Selbstzerstörung führt.

Mit ihrer Reue zielte sie nicht auf eine Strafmilderung ab, denn, wie sie später sagte, jeder Freiheitsentzug von mehr als zehn Jahren bedeute in ihrem Fall ohnehin lebenslänglich. Doch sie lehnte es ab, mit dem Tribunal zusammenzuarbeiten und als Zeugin der Anklage bei anderen Prozessen, speziell dem gegen Milosevic, aufzutreten.

Ihre Rede war ein mehr als mutiger Akt – schon aus dem einfachen Grund, daß nach ihrem Eingeständnis der serbischen Untaten, zumal es von einer so hochstehenden Persönlichkeit kam, niemand mehr diese Tatsachen leugnen konnte. Deshalb könnten ihre Worte Bedeutung haben für den Ernüchterungsprozeß der meisten Serben, die noch nicht begonnen haben, über die eigene Schuld nachzudenken. Das zumindest war die Hoffnung des Tribunals in Den Haag. In der Republika Srpska und in Serbien war die Reaktion jedoch ganz anders: Biljana Plavsic wurde zur Verräterin erklärt. Es wird mehr als einen Prozeß brauchen, damit die Serben sich mit ihrer Rolle im Bosnienkrieg auseinandersetzen. Biljana Plavsic hat sich als eine Frau von moralischer Stärke und Festigkeit erwiesen, die bereit ist, die Strafe für ihr Tun zu akzeptieren. Ich muß zugeben, daß ihr Verhalten Anerkennung verdient.

Als Regierungsmitglied in der Republika Srpska war sie radikaler als alle anderen, jetzt ist sie es in ihrer Reue. Es wäre interessant zu wissen, was sie zu diesem Sinneswandel gebracht hat.

Plavsic selbst bietet keine Antwort an. Doch es gibt ein paar Vermutungen. In ihrer Ansprache erwähnt sie, daß das serbische Volk seine Ehre verloren hat. Sie verweist auf die Rolle des heiligen Sava in der serbischen Geschichte; die serbische Führung sei von seinem Weg der Würde, Erhabenheit und Ehre abgewichen. Warum berief sie sich gerade auf einen mittelalterlichen Heiligen? Die Antwort verbirgt sich vielleicht in dem Kreuz, das sie für alle sichtbar um den Hals trägt. Das könnte ein Zeichen sein: Hatte sie religiöse Gründe für ihren Sinneswandel? Andererseits könnte es ein ganz entgegengesetztes Motiv für ihr Schuldgeständnis geben: ihre Rationalität, ihr Verstand als Wissenschaftlerin. Angesichts der unumstößlichen Beweise vor Gericht änderte sie ihre Meinung, wie das trotz Ideologie jeder echte Wissenschaftler tun würde. Ihr Rationalismus zeigt sich auch darin, daß sie 1995 zum Abschluß des Dayton-Abkommens beitrug, die Korruption bekämpfte und später erfolgreich mit internationalen Organisationen zusammenarbeitete.

Was auch immer ihre moralische Wandlung herbeigeführt haben mag, Biljana Plavsic ist nicht nur ein positives Beispiel, sondern auch eine Lektion für ihre männlichen Kollegen, die Kriegsverbrecher Karadzic und Mladic. Zugleich ist ihr Beispiel eine Lektion für kroatische “Helden” wie Ante Gotovina, der sich irgendwo in der Herzegowina versteckt hält. Während solche Feiglinge auf der Flucht sind, hatte sie als Frau den Mut, die eigene Schuld zuzugeben und damit das eigene Volk von dem Vorurteil zu befreien, jeder Serbe müsse per Definition ein Verbrecher sein.

Für einen Mann in unserer patriarchalischen balkanischen Gesellschaft muß das eine unangenehme, ja demütigende Botschaft sein. Leute wie Karadzic, Mladic und Gotovina werden es Biljana Plavsic nicht verzeihen, daß sie nun erbärmlicher dastehen, als sie es ohnehin schon waren.

 

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem Buch: Slavenka Drakulic: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht. Deutsch von Barbara Antkowiak. Paul Zsolnay Verlag 2004.

Published 16 April 2004
Original in English
Translated by Barbara Antkowiak

© Paul Zsolnay Verlag Wien 2004 / Eurozine

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