Die Wahrheit hinter der Steckdose

Trotz der politischen Debatte und aller Werbekampagnen: In Deutschland
beziehen nur 2 Prozent der privaten Haushalte Ökostrom, und rund 70
Prozent haben nie ihren Stromvertrag geändert, obwohl inzwischen fast
jeder Versorger Anpassungen an die individuellen Bedürfnisse anbietet.
Unübersichtlich sind auch die Strukturveränderungen “hinter” der
Steckdose, innerhalb der einzelnen Wertschöpfungsstufen auf dem
Strommarkt: der Erzeugung, Übertragung und Verteilung sowie dem Vertrieb
von Elektrizität.

Strom kann man nicht lagern. Wenn er nachgefragt wird, muss er sofort
produziert werden können. Die Erzeugungskapazitäten dürfen sich deshalb
nicht nach dem durchschnittlichen, sondern müssen sich nach dem
erwarteten maximalen Verbrauch richten. In der Summe aller privaten
deutschen Haushalte kann das Maximum zum Beispiel erreicht werden, wenn
am 25. Dezember allerorten die Festgänse in den elektrischen Backofen
geschoben und die elektrischen Eisenbahnen auf Hochtouren um den
Tannenbaum gejagt werden.

Strom entsteht in Kraftwerken. Hier werden primäre Energieformen in
elektrische Energie umgewandelt. Primärenergie lässt sich aus fossilen
Energieträgern wie Kohle, Gas und Erdöl durch Verbrennung gewinnen. Damit
verbunden ist allerdings die Freisetzung des Treibhausgases CO2.
Atomenergie – ebenfalls eine primäre Energieform – entsteht bei der
Kernspaltung, birgt die bekannten Risiken, trägt aber andererseits nicht
negativ zum Treibhauseffekt bei. Auch die mechanische Energie
herabstürzenden Wassers lässt sich zur Stromproduktion nutzen. Neben dem
Wasser zählen Biomasse, Erdwärme, Sonnenlicht und Wind zu den
erneuerbaren Energieträgern.

Solar- und Windenergie stehen allerdings nur bei entsprechender
Witterung zur Verfügung und sind deshalb – zumindest in Mitteleuropa –
lediglich in Kombination mit anderen, planmäßig verfügbaren primären
Energieträgern nutzbar. Der nationale Energiemix zur Stromerzeugung hängt
derzeit vor allem noch von den natürlichen Vorkommen an primären
Energieträgern ab. Für die Zusammensetzung des Energiemixes spielen
jedoch die globale wie die nationale Energiepolitik eine zunehmend
wichtige Rolle. In Deutschland gehört dazu der Atomausstieg, die
Förderung erneuerbarer Energien und der Handel mit
CO2-Emissionszertifikaten.

Der produzierte Strom wird vom Kraftwerk zunächst meist über
Höchstspannungsnetze in die Verbrauchsregionen übertragen. Über die
regionalen und lokalen Verteilnetze gelangt er zu den Endverbrauchern.
Den Vertrieb und damit die Abwicklung der tatsächlichen Versorgung der
Kunden übernimmt der Stromversorger, mit dem der Kunde seinen
Stromliefervertrag abgeschlossen hat.

Die Energieversorgungsunternehmen E.ON, RWE, Vattenfall Europe und EnBW
dominieren die Stromerzeugung und -übertragung in Deutschland. Etwa 80
Prozent der nationalen Stromerzeugung entfallen auf Kraftwerke der vier
großen deutschen Verbundunternehmen. Ihre regionalen Monopole für
Höchstspannungsnetze und damit für die Stromübertragung sind historisch
gewachsen; wirtschaftlich ist es nicht sinnvoll, nachträglich parallele
Übertragungsnetze aufzubauen und zu betreiben. Die übrigen 20 Prozent der
nationalen Energieproduktion liegen bei den etwa 30 regionalen
Versorgungsunternehmen und 900 Stadtwerken. Sie sind – ebenfalls
monopolistische – Eigentümer der meisten regionalen bzw. lokalen
Verteilnetze und stehen über ihren Vertrieb in direktem Kundenkontakt.
Auch die großen Verbundunternehmen verteilen und vertreiben Strom: sowohl
direkt über eigene Kunden als auch indirekt über die Beteiligung an
vielen regionalen und lokalen Versorgern.

Der Einstieg internationaler Anbieter in den deutschen Strommarkt ist
nicht nur wegen dessen Größe interessant. Vor allem sind es die – im
Unterschied zu Frankreich – dezentralen Marktstrukturen, die für diesen
Einstieg sprechen. Konsequenterweise hat sich die staatliche Electricité
de France bereits im Jahr 2000 zu einem Drittel an der
baden-württembergischen EnBW beteiligt. Die ebenfalls staatliche
Vattenfall AB aus Schweden ist bereits drittgrößter deutscher
Stromversorger; ihre Vattenfall Europe AG entstand aus den kommunalen
Stromversorgern in Hamburg (HEW) und Berlin (Bewag), aus der Lausitzer
Braunkohle AG (Laubag) und der Vereinigten Energiewerke AG in Berlin
(Veag).

Energieversorgung gehört wie Wasserversorgung, Müllabfuhr und
Straßenreinigung, Telekommunikation oder auch öffentlicher
Personennahverkehr zu den Dienstleistungen, die im öffentlichen Interesse
erbracht werden. Über die Branchen hinweg sind es meist immer noch
staatliche bzw. kommunale Unternehmen mit Monopolstellung auf nationaler,
regionaler oder lokaler Ebene, die solche Leistungen bereitstellen. Die
Diskussion darüber, inwieweit die damit verbundenen Marktstrukturen unter
volkswirtschaftlichen Aspekten sinnvoll sind, wurde und wird
leidenschaftlich geführt. Auch die EU-Gremien diskutieren die Probleme
der Marktöffnung: Wie lässt sich ein europäischer Binnenmarkt schaffen,
an dem zahlreiche Unternehmen grenzüberschreitend teilhaben und im
Wettbewerb miteinander für mehr Flexibilität und sinkende Preise sorgen?
Wie weit muss eine staatliche Marktregulierung gehen, um einen
angemessenen Ausgleich von Wettbewerb, Versorgungssicherheit und
Umweltschutz zu gewährleisten?

Die Deregulierung der öffentlichen Dienstleistungen begann in den
1990er-Jahren mit dem Telekommunikationsmarkt – durchaus erfolgreich.
Nach einer Phase mit verwirrend vielen Anbietern, harten Preiskämpfen und
zahlreichen Eingriffen des Regulators haben sich die Preise für das
Telefonieren inzwischen auf einem deutlich niedrigeren Niveau
eingependelt. Für die Stromwirtschaft wurde im Dezember 1996 eine
EU-Richtlinie erlassen, nach der bis zum Jahr 2003 33 Prozent des
europäischen Strommarktes stufenweise für den Wettbewerb zu öffnen seien.
Anders als Frankreich nutzte Deutschland bereits die hierdurch
ausgelöste erste Welle der Deregulierung, um seinen Strommarkt 1998
vollständig zu öffnen. In Leipzig wurde 1999 sogar eine Strombörse
gegründet, an der europäische Marktteilnehmer seit 2000 Strom zu
tagesaktuellen Preisen handeln.

Eine weitere EU-Richtlinie vom Juni 2003 bereitete die zweite Welle der
Deregulierung des Strommarktes auf europäischer Ebene vor. Sie fordert
die vollständige Marktöffnung bis zum 1.Juli 2007; dann können alle
Kunden ihren Stromversorger frei wählen. Bis zum 1.Juli 2004 muss der
Netzzugang neu reguliert sein; dann können alle Stromversorger alle Netze
diskriminierungsfrei nutzen.

In Deutschland bleibt nur noch die zweite Forderung umzusetzen. Die
Regulierungsbehörde für Post und Telekommunikation, die RegTP, wird
künftig auch den Strom- und Gasmarkt regulieren. Im Sinne der
EU-Richtlinie soll sie verhindern, dass die natürlichen Monopole der
Übertragungs- und Verteilnetzeigentümer zu überhöhten
Netznutzungsentgelten für deren Konkurrenten führen, die Strom durch die
bestehenden Netze zu ihren Kunden leiten wollen. Die Angemessenheit von
Netznutzungsentgelten kann jedoch nur anhand der Kosten beurteilt werden,
die für die Bereitstellung des Netzes zur Durchleitung “fremden” Stroms
tatsächlich entstehen. Um Kostentransparenz herzustellen, schreiben die
EU-Richtlinien eine sukzessive Entflechtung der Unternehmensteile vor,
die sich mit den einzelnen Wertschöpfungsstufen beschäftigen. Bis zum 1.
Juli 2007 müssen Unternehmen mit mehr als 100.000 Stromkunden ihre
entsprechenden Aktivitäten in separate Gesellschaften ausgründen, damit
die Kosten für Personal und Sachmittel verursachungsgerecht zugeordnet
werden können.

Auf die Höhe der Strompreise kann sich die Marktöffnung hierzulande nur
eingeschränkt auswirken, weil sie lediglich die Kosten für die Erzeugung,
den Transport und die Verteilung von Strom beeinflussen wird. Diese
machen aber nur 60 Prozent des Strompreises für einen typischen Kunden
aus1. Die restlichen 40 Prozent setzen sich aus Abgaben und Umlagen
zusammen, die aus politischen Gründen erhoben werden. Neben Mehrwert- und
Stromsteuer sowie Konzessionsabgaben fallen auch umweltpolitisch
motivierte Umlagen an, die der Förderung erneuerbarer Energien oder
besonders effektiver Techniken wie der Kraft-Wärme-Kopplung dienen.
Deshalb würde sich beispielsweise eine Reduktion der Netznutzungsentgelte
um 20 Prozent nur in einer Senkung des Strompreises um knapp 9 Prozent
bemerkbar machen.

Eine wichtige Rolle für die Strompreisentwicklung spielen die
Investitionen zur Erneuerung der Kraftwerke. In den kommenden zwei
Jahrzehnten müssen in Deutschland zweistellige Milliardenbeträge für den
Aufbau von Ersatzkapazitäten zur Energieerzeugung bereitgestellt werden,
da bestehende fossile Kraftwerke turnusgemäß ersetzt und zusätzlich wegen
des beschleunigten Ausstiegs aus der Kernenergie weitere fossile
Kraftwerke vorzeitig errichtet werden müssen. Die Folge ist, dass etwa 60
Prozent der bestehenden Kraftwerkskapazitäten bis 2020 zu ersetzen2 und
die damit verbundenen Investitionen auf den Strompreis umzulegen sind.
Wahrscheinlich wird also der Strom in Deutschland – anders als das
Telefonieren – trotz Liberalisierung des Marktes teurer werden.

Wolfgang Pfaffenberger, Jürgen Gabriel und Ulrike Borszcz (Bremer Energieinstitut): Gutachten zum "Preissystem bei Netznutzungsentgelten für Strom", Juli 2003.

Wolfgang Pfaffenberger und Maren Hille (Bremer Energieinstitut): Abschlussbericht der Studie "Investitionen im liberalisierten Energiemarkt: Optionen, Marktmechanismen, Rahmenbedingungen", Januar 2004.

Published 25 June 2004
Original in German

Contributed by Le monde diplomatique © Eurozine Le monde diplomatique

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