Die Waffenexperten von Saddam Hussein

Der wesentliche Auslöser für einen Krieg gegen Saddam Hussein, seine angeblichen Massenvernichtungswaffen, konnte immer noch nicht bestätigt werden. David Baran untersucht in diesem Artikel die Laufbahn der Leute, die von 1970 bis 2003 in irakischen Waffenentwicklungsprogrammen beschäftigt waren. Er beschreibt die Mechanismen der militärischen Industrialisierung und die verwickelte Vetternwirtschaft und Klientelpolitik unter den Militärstrategen.
Baran korrigiert den vereinfachenden Blick auf Saddam Hussein, der ihn als das personifizierte Böse wahrnimmt und dessen Umfeld demzufolge aus gesichtslosen und austauschbaren Gefolgsleuten besteht. Damit wirft Baran einen neuen Blick auf die Problematik der möglichen irakischen Massenvernichtungswaffen und die amerikanische Antwort darauf.

Die Auseinandersetzungen rund um die irakischen Massenvernichtungswaffen werden immer lauter.
Die amerikanische Regierung behauptete zwar, im Besitz klarer Beweise für die Existenz von ehrgeizigen Waffenprogrammen – Nuklearwaffen eingeschlossen –
im Irak zu sein, dennoch sieht sie sich jetzt aber dazu gezwungen, die Aussicht darauf, auch nur irgendwelche Überrreste davon zu finden, immer wieder auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Es stellen sich also verschiedene Fragen zu den Rechtfertigungen des Krieges, der Glaubwürdigkeit von Regierungen, die sich abenteuerlicher Behauptungen schuldig gemacht haben, zu den entscheidenden Faktoren in der Außenpolitik der Bush-Regierung und viele andere Fragen mehr. Seltsamerweise wird in dieser Auseinandersetzung die Frage nach den Massenvernichtungswaffen im entsprechenden Kontext gestellt; dem des irakischen Rüstungssektors. Sollte es sich bei diesen mysteriösen, ebenso zerstörerischen wie unauffindbaren Waffen mit ihren fürchterlichen Folgen wirklich um eine Art Prinzip oder Ausgeburt des Bösen ohne jeglichen Zusammenhang mit der Industrie handeln?

Unter Saddam Husseins Regime hieß der Oberbegriff für den gesamten Rüstungssektor “militärische Industrialisierung” (arabisch ). Diese besondere Form der Industrialisierung, die allem Anschein nach Saddam Hussein in Gang gesetzt hat1, war nur einer der Aspekte eines überaus schnellen Wachstums in verschiedenen Bereichen des Landes. Die Verstaatlichung des Erdöls im Jahr 1972 verschaffte dem Regime beträchtliche finanzielle Mittel und die Stellung einer “Regionalmacht” und eines “Entwicklungsmodells” – so die damals gebräuchlichen Bezeichnungen. Das Regime, das sich durch seinen wirtschaftlichen und technischen Fortschritt erfolgreich von der arabischen Welt emanzipierte, machte die militärische Industrialisierung als Herrschaftsinstrument sofort zum fixen Bestandteil seines politischen Programms.

Ab 1980 machte der Krieg gegen den Iran daraus ein wesentliches Anliegen. Zu jener Zeit besaß der Irak nicht nur eine umfangreiches Arsenal von technisch hoch entwickelten militärischen Geräten, sondern auch das theoretische Wissen und die praktischen Erfahrungen für eine zukunftsträchtige eigene Industrie.1987 begann der Rüstungssektor massiv an Macht zu gewinnen. Manche meinen, dass in dieses Jahr die Wende fällt, in der das irakische Atomprogramm von einem stets unterdotierten zivilen Forschungsprogramm hin zu einem Programm mit militärischer Priorität2 aufstieg. Verschiedene Quellen bestätigen, dass entscheidende Tests auf dem Gebiet wahrscheinlich erst kurz vor dem Konflikt von 1991 durchgeführt worden waren.

Danach machten die im Krieg zerstörten Infrastruktureinrichtungen, die internationalen Sanktionen, die die Materialbeschaffung einschränkten, die Isolation des Regimes, die jegliche Zusammenarbeit mit dem Ausland behinderte, – ganz zu schweigen vom Eindringen der Abrüstungsinspektionen, die zwar von der UNO angeführt, aber von Washington gelenkt wurden3-, jede Fortsetzung der alten Programme auf gleichem Niveau weitgehend unmöglich. Sein Betreiben eines neuen, diesmal präventiven Krieges ließ jedoch erkennen, dass der Irak hoch komplexe Projekte weiterverfolgte, zu denen mobile Labors, unterirdische Anlagen, ein weit verzweigtes, geheimes Lieferantennetz etc. gehörten.

Und in der Tat wurde diese a priori technische Frage außerhalb der Spezialistenkreise auf eine erstaunlich subjektive und moralische Art gestellt. Genau hier liegt eine der ethischen Auswirkungen des pseudo-technischen Begriffs “Massenvernichtungswaffen”. Als ob ein Streubomben abwerfender B2-Bomber nicht genau genommen auch eine Massenvernichtungswaffe wäre … Diese Bezeichnung für durch die internationale Gesetzgebung verbotene, chemische, biologische und atomare Waffen, enthält bereits eine moralische Verurteilung gewisser Regimes gegenüber all den anderen Staaten, die solche Waffen besitzen.Verurteilt werden jene, bei denen man einen “gefährlichen Einsatz” ihres illegalen Waffenarsenals befürchten muss.

Im Falle des Irak schien sich die Frage der “Massenvernichtungswaffen” geradewegs auf die Frage nach Saddam Husseins bösen Absichten zu reduzieren4. Trotz einer besonders genauen Überwachung wurden niemals schlagende Beweise dafür gefunden, dass mutmaßliche Vorräte von noch verbliebenen Waffen, dass Produktionseinrichtungen für den Abschuss chemischer, biologischer oder atomarer Sprengköpfe, unerläßliche Trägerraketen oder auch Netzwerke für den Import von Bauteilen oder Technologien, die für die Produktion notwendig wären, tatsächlich existierten. Hingegen schien die wenig kooperative Haltung des Regimes bei der Abrüstung (anders als die offenere und zufriedenstellendere Zusammenarbeit bei der Umsetzung des sogenannten “Öl für Lebensmittel”-Abkommens5) eine klare Schuld zu verraten. Auch wenn die Eingriffe der Inspektoren in die Souveränität und Sicherheit des Regimes zum Teil dessen Haltung rechtfertigten, erklärten sie nicht allein die weit reichende Geheimhaltungsstrategie, die immer wieder an den Tag gelegt wurde und gewisse Dokumente und Geräte vor den Inspektoren verschwinden ließ6.

Diese Strategie der Geheimhaltung gab im politischen Diskurs Anlass zu unendlich vielen Spekulationen, die durch eine Diabolisierung von Saddam Hussein als Inkarnation des Bösen in den Medien noch genährt wurde. War nicht übrigens die Fähigkeit, Waffen ständig zu produzieren, ohne dass man sie jemals zu Gesicht bekam, intuitiv das beste Indiz dafür, dass der Teufel dabei die Hände im Spiel hatte? So gesehen handelt es sich bei Massenvernichtungswaffen nicht um mehr oder weniger komplexe technologische Geräte, die Infrastruktur, Bauteile und Know-how erfordern, sondern um eine Art Teufelswerk, um den physischen Ausdruck, also die direkte Umsetzung von Saddam Husseins bösen Absichten in die Realität.

Diese Vorstellung von den Massenvernichtungswaffen ist eigentlich nichts Anderes als das Nebenprodukt eines anderen Phantasmas, das die autoritären Regimes ganz allgemein betrifft. Im Fokus steht die Figur des Tyrannen, umgeben von einigen finsteren Komplizen; die Politik dieser Regimes wird dabei auf die automatische Befolgung des Herrscherwillens reduziert. Die dahinterstehenden, gewöhnlichen Akteure erscheinen bei dieser Mechanik immer als anonym, austauschbar, mittelmäßig und unter Zwang stehend. Alles in allem umgibt den Tyrannen also eine gewaltige gesichtslose Bürokratie, die seine Gedanken – gleich einer Höllenmaschine7 – sklavisch verwirklicht. Zudem funktioniert das Spiel nur durch die Energie, die der Tyrann ihm einhaucht, einer “Energie”, die aus der von ihm verursachten Angst und aus seinem ständigen Bestreben, Schaden zuzufügen entsteht.

Die militärische Industrialisierung im Irak ist dafür ein erhellendes Beispiel. Saddam Hussein spielte im Rüstungsbereich kaum je eine zentrale Rolle. Allerdings gelang es ihm durch seine Fähigkeit, begabte Führungskräfte zu erkennen, zu gewinnen und entsprechend zu entlohnen, ein Team von “Waffenexperten” zu bilden, die den Bereich steuerten. Sie stehen in der Tat für das hohe fachliche Niveau der Mitarbeiter in diesem anspruchsvollen, leistungsstarken sowie überaus kreativen und dynamischen Bereich. Im Übrigen wurden die keineswegs austauschbaren oder bedeutungslosen Ingenieure dieses Langzeit-Wissenschaftsprogramms, das von den Ereignissen des Jahres 1991 durchkreuzt wurde, danach auf anderen Führungsposten mit technischem Hintergrund wieder eingesetzt.

Im Gegensatz zu den rein “negativen” Zugängen zu autoritären Regimes, die sich ausschließlich für Zwang, Repression, Zusammenbrüche und Funktionsstörungen interessieren, vermittelt die militärische Industrialisierung den Eindruck eines Sektors, in dem Kompetenz und Produktivität geschätzt wurden. Dort, wo man erwarten könnte, dass eine auf Angst begründete Loyalität das einzige Bindemittel für ein vom Zerfall bedrohtes Regime sei, entdeckt man subtilere und ausgeklügeltere Personalstrategien. Eine Behandlung des Themas anhand von Biographien mit dem gleichzeitigen Anspruch, technische, didaktische und unbekannte Aspekte zu berücksichtigen8, soll dazu dienen, die Diskussion über die irakische Rüstungsindustrie in den ursprünglichen Kontext zurückzustellen, um auf diese Weise manche aktuellen Fragen zu beantworten und neue aufzuwerfen.

Die zentrale Bedeutung von Hussein Kamel

Zweifelsohne ist die markanteste Erscheinung in der Geschichte der militärischen Industrialisierung jene von Hussein Kamel Hassan Majid9. Als Mitglied vom Stamm Saddam Husseins (Albu Nasser, Beigat genannt) ist er auch aus dessen Clan hervorgegangen (Albu Abdul Gafur), der ab Anfang der 1980er Jahre Brutstätte von regimetreuen Führungskräften war. Im Allgemeinen besetzten die Mitglieder dieses Clans, so wie diejenigen anderer Clans der Beigat, die Saddam Hussein auserwählt hatte, Posten an besonders sensiblen Stellen innerhalb des Machtapparates.

Dementsprechend setzte Saddam Hussein seine Angehörigen an die Schlüsselpositionen im Rüstungssektor. So übernahm sein Halbbruder Barzan Ibrahim al-Hassan al-Khattab, der 1983 als Chef des Geheimdienstes entlassen und auf einen Diplomatenposten in die Schweiz versetzt wurde, vom strategisch günstigen Ort Genf aus die Bankangelegenheiten für dieses Programm. Sein jüngerer Bruder Sabaawi, stellvertretender Direktor des Allgemeinen Geheimdienstes (al-Mukhabarat) soll Ende der 1980er Jahre ebenfalls eine sehr aktive Rolle im Bereich der geheimen Beschaffung gespielt haben10.

Trotzdem, es war Hussein Kamel, unter dessen Ägide die Strukturen für Beschaffung und Produktion in der großen Zeit der militärischen Industrialisierung geschaffen wurden. Der Sohn eines Cousins väterlicherseits von Saddam Hussein wurde 1958 im Dorf Al-Oja nahe bei Tikrit geboren. Aus bescheidenen ländlichen Verhältnissen stammend, durchlief er die Ausbildung an der Militärakademie von Bagdad, bevor er in den engen Zirkel der Präsidentengarde (al-Himaya) vorstieß, wo Saddam Hussein auf ihn aufmerksam wurde. 1982 betraute dieser ihn und den kurdischen General Hussein Rashid Hassan Mohammed al-Windawi (Generalstabschef der Armee im Golfkrieg 1991) mit dem Umbau der Republikanischen Garden von einer Prätorianergarde zu einer offensiven Streitkraft, die im Stande sein sollte, an der iranischen Front einzugreifen.

Im Jahr 1983 bekam er Raghad, Saddam Husseins älteste Tochter, zur Frau, die allerdings zuvor einem bedeutenderen Mitglied der Beigat11 versprochen worden war. Diese Heirat, die innerhalb des Stammes einen Ausgleich der Allianzen zum Ausdruck brachte, führte denn auch zu einer schweren Krise innerhalb der Familie. Manche Beobachter sahen darin die Erklärung für die vorübergehende Entfernung von Barzan in die Schweiz und von den zwei anderen Halbbrüdern Saddam Husseins, Sabaawi, damals Generaldirektor für öffentliche Sicherheit, und Watban, dem höchsten Funktionär der Region Nord und Gouverneur der Provinz Salaheddin (Tikrit). Hussein Kamel seinerseits schien immer mehr zum Liebling seines Schwiegervaters aufzusteigen. Ein bedeutender Hinweis dafür war der Umstand, dass er sich schon bald vor dem Volk als einziger Mann zeigte, der dazu berechtigt war, vor dem Präsidenten eine Waffe zu tragen.

Die offensichtliche Zuneigung, die Saddam Hussein ihm entgegenbrachte, rührte wahrscheinlich zum Teil von seinen Kenntnissen in Sicherheitsfragen her. In den 1980er Jahren stellte er mit viel Geschick zwei der verläßlichsten Organe des irakischen Sicherheitssystems auf die Beine, nämlich die Sondersicherheit, die den gesamten Sicherheitsapparat durchsetzte und lenkte, und die Republikanischen Garden, eine paramilitärische Eliteeinheit, die vorrangig die Heiligtümer der Macht und die Wege des Präsidenten zu schützen hatte. Zudem soll er damals Saddam Husseins persönliche Leibwache (al-Himaya) geleitet und die Republikanischen Garden zum Zeitpunkt ihrer entscheidenden Siege über den Iran kontrolliert haben.

Das Ausmaß der Kompetenzen im Bereich der Sicherheit zeugten klar von einem absoluten Vertrauen Saddam Husseins in die Loyalität seines Schützlings12. Diese bevorzugte Stellung erklärt wahrscheinlich, warum er trotz seiner offensichtlichen Lücken in der Wissenschaft mit einem ähnlich großen Handlungsspielraum im heiklen Bereich der Rüstungsindustrie ausgestattet wurde. Im Übrigen sprach Hussein Kamel fast nur Arabisch. Aber zumindest hatte er die für die Leitung des gewaltigen Unterfangens der militärischen Industrialisierung notwendige Durchsetzungskraft, während der Krieg gegen den Iran gewaltige Summen verschlang: 1985 erreichte das monatliche Militärbudget des Irak eine Milliarde Dollar13.

So erhielt der junge Offizier im Juni 1987 sein erstes Ministeramt. Mit 29 Jahren folgte er Qassem Ahmed Taqi al-Ureibi, einem erfahrenen Fachmann, der lange Zeit den überaus prestigeträchtigen Posten des Ölministers (von Juni 1982 bis März 1987) innehatte, an der Spitze des Ministeriums für Schwerindustrie nach. Im August 1987 stattete ihn ein neues Gesetz zur militärischen Industrialisierung14 paradoxerweise mit gewaltigen Geldbeträgen aus, wodurch das Rüstungsprogramm just in dem Moment Macht zu gewinnen begann, in dem das Land unmittelbar vom wirtschaftlichen Kollaps bedroht war. Zu den direkten und indirekten Kriegskosten kamen noch die Folgen des Verfalls der Rohölpreise von 1986. Eine entschiedene Umorganisation des bis dahin in eine Unzahl unterschiedlichster Systeme aufgesplittert, war ebenfalls noch nicht in Angriff genommen worden.

Die Schwerindustrie, die kurze Zeit an Abdul Tawab Abdallah Mullah Huweish al-Ani abgetreten wurde, die Leichtindustrie, geleitet von Hatem Abdul Rashid Mohammed al-Nasseri15, einem Mitglied von Saddam Husseins Stamm, und die Öffentliche Gesellschaft für die technischen Industrien, die als verantwortlich für die Chemiwaffenproduktion gilt, fusionierten im Juli 1988 zu einem Superministerium “für Industrie und militärische Industrialisierung”, angeführt von Hussein Kamel. Dieser übernahm zudem noch die “Organisation für militärische Industrialisierung”, eine Art Kerninstitution inmitten des weitverzweigten Netzes von Forschungszentren, Staatsunternehmen, Scheinfirmen und Fabriken mit zivilem wie militärischem Auftrag.

Die Glanzzeit der militärischen Industrialisierung

Der Krieg gegen den Iran ist bei weitem nicht die einzige Erklärung für den spektakulären Machtgewinn, den diese institutionellen Veränderungen widerspiegeln. Zumindest hat der kurz nach dieser Umstrukturierung geschlossene Waffenstillstand vom 8. August 1988 das Regime keineswegs dazu veranlasst, seine Pläne zu revidieren. Im Mai 1989 verkündete Hussein Kamel öffentlich eines der Ziele seines Ministeriums, nämlich die Autonomie bei militärischen Grundgütern ab 1991. Seitdem stellte sich insbesondere im Zuge der in den 1990er Jahren durchgeführten UNSCOM-Inspektionen16 heraus, dass sich der Irak auch andere Ziele gesetzt hatte. Anfang 1990 machte Saddam Hussein übrigens in seinen Reden immer wieder zweideutige Anspielungen auf “Kapazitäten”, die dem Irak im Fall eines israelischen Angriffs gegen ein arabisches Land zur Verfügung stünden17. Für den Irak blieb die militärische Industrialisierung sicherlich prioritär, und dementsprechend setzte er seine Anstrengungen ungebrochen weiter fort.

Was war das Ziel? Bevor man vorschnell Schlüsse über ein an sich seinen Nachbarn aggressiv gegenüberstehendes Regime zieht, ist es ratsam, den politischen und sozialen Kontext der damaligen Zeit genau zu betrachten. Damals war der Irak noch kein “Schurkenstaat”. Das Regime erschien immer noch als “laizistisch und progressiv”, jedenfalls konnte man mit ihm verkehren, denn schließlich rechtfertigte dieser Ausnahmezustand einige seiner schlimmsten Verbrechen18. Weite Teile der Bevölkerung, die von einem paternalistischen Versorgungsregime zu einer Art Kundschaft reduziert worden waren, lebten weiterhin in trügerischer Opulenz, auch wenn die Anzeichen für einen Bankrott immer bedrohlicher wurden. Gleichwohl, bei Kriegsende bestand im Land die Hoffnung, den Weg des Fortschritts weiterzugehen. Das Regime verkündete sogar einige symbolische Demokratisierungsmaßnahmen. Was immer man heute über die Opfer von damals sagen mag, die Zukunft des Irak erschien ziemlich vielversprechend19. In der Tat kehrten die Studenten, die scharenweise mittels bilateraler Kooperationsabkommen und eines gewaltigen staatlichen Stipendienprogramms zur Ausbildung ins Ausland geschickt worden waren, voller Hoffnung nach Hause zurück.

Diese jungen, oft sehr patriotischen Absolventen, bildeten für die militärische Industrialisierung einen Pool von Forschern und Ingenieuren, die in den westlichen Technologien bestens bewandert waren. Allein im nuklearen Forschungszentrum von Al – Museyyeb gab es nicht weniger als 2000 Angestellte, von denen mehr als 350 eine höhere Ausbildungsgrad als das Magisterium hatten20. Diese Elite, die bei beruflichen Auslandsaufenthalten ständig weitergebildet wurde, genoss im Irak eine privilegierte Stellung. Der Lohn eines Ingenieurs in diesem Bereich war bis doppelt so hoch wie der eines gleich ausgebildeten Kollegen in der Privatwirtschaft. Oft wurden Prämien gezahlt. Abgesehen von diesen prosaischen Motivationen erinnern sich noch heute viele der Angestellten aus der militärischen Industrialisierung an ein dynamisches und mitreißendes Umfeld. Manche betrachteten ihre Mission im Kontext der damaligen Zeit als Beitrag zu einem hehren Projekt nationaler Emanzipation.

Diese Überlegungen machten die besonders strengen Arbeitsbedingungen verständlicher und erträglicher. Intensiv überwacht von den Geheimdiensten, mussten die Angestellten der Rüstungsindustrie vorsichtig sein. Zum Beispiel wurden bei ihren Auslandsaufenthalten Treffen inszeniert, die sich als Fallen erwiesen. Im Irak selbst konnte schon eine harmlose Unterhaltung mit einem Touristen oder einem Auslandsiraker schwerwiegende Folgen haben. Im Alltag schien der Arbeitsrhythmus darauf ausgerichtet zu sein, jede Interaktion mit der restlichen Bevölkerung zu begrenzen. An sechs von sieben Tagen entriss ein Busshuttledienst sehr früh am Morgen die Angestellten ihren Familien und brachte sie spätabends zurück. Die Führungskader wohnten direkt auf dem Gelände. Und jene, die ausplaudern hätten können, wurden mit allem, wenn erwünscht, sogar mit Prostituierten versorgt21.

Warum diese Vorsicht? Einerseits war die Beziehung des Irak zu einigen seiner Nachbarn, insbesondere dem Iran, der Türkei, Syrien und natürlich Israel, konfliktbeladen. Diese Länder stellten in der Sprache der Geheimdienste eine direkte Bedrohung dar. Andererseits motivierte das Risiko von Meinungsumschwüngen in Allianzen den Irak dazu, sich vor seinen eigenen Verbündeten und Lieferanten zu schützen. Forschungsgeräte wurden von ausländischen Technikern in Universitätslabors installiert, nach deren Abreise demontiert und in die Anlagen der militärischen Industrialisierung transferiert22. Nach dem gleichen Prinzip wurden ganze Fabriken gebaut und dann still gelegt, um von rein irakischen Teams an geheimen und geschützten Plätzen detailgetreu nachgebaut zu werden23.

Zur Beschaffung der Waren diente ein undurchschaubares Netz von Scheinfirmen. Netze und Infrastrukturen der heikelsten Programme mussten so weit wie möglich systematisch vertuscht werden. Glaubt man dem ehemaligen UN-Waffeninspektor Scott Ritter, so profitierte der irakische Militärgeheimdienst (al-Istikhbarat) ab 1982 wahrscheinlich von der Erfahrung des KGB im Verheimlichen von Rüstungsaktivitäten24. In der Tat scheinen dabei alle irakischen Geheimdienste ihre Hand im Spiel gehabt zu haben. Der Sondersicherheit von Hussein Kamel wird dabei die zentrale Rolle, einerseits als undurchlässige Scheidewand zwischen den Diensten, andererseits als notwendige Koordinationsstelle, zugeschrieben25.

Ironischerweise hat der Irak gerade durch seine enge Zusammenarbeit mit dem Westen gelernt, die westlichen Überwachungs- und Aufklärungsmethoden zu überlisten. Surur Mahmud Mirza, der Bruder von Sabah, ein bekannter Leibwächter von Saddam Hussein in den 1970er und 1980er Jahren, kam angeblich auf die Idee, die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) zu infiltrieren … und zwar durch irakische Abrüstungsinspektoren26. Dafür soll Dr. Husham Sherif al-Shawi, der ehemalige Direktor der Irakischen Organisation für Atomenergie (OIEA) und ehemalige Minister für Hochschulbildung und wissenschaftliche Forschung, zum Mitglied des Direktionskomittees der IAEO gewählt worden sein27. Zudem nützte der Irak Satellitenanlagen, die ihm die Vereinigten Staaten im Krieg gegen den Iran zur Verfügung gestellt hatten, um Vertuschungsmethoden zu entwickeln, die den Überwachungstechniken und der Datenanalyse seines einstigen Verbündeten gewachsen waren28.

Denkt man an das Image des Irak bei den Rüstungsanalysten der damaligen Zeit, wird dieser Einfallsreichtum vielleicht überraschen. Im Iran-Irakkrieg schienen extrem unflexible Kommandostrukturen, mangelnde Initiative und die Dominanz politischer und sicherheitstechnischer Überlegungen gegenüber technischer Effizienz die irakische Armee zu behindern29. Das Regime wurde vor allem an seiner Kriegsführung gemessen, deren Trägheit und Schwächen sehr gut mit den gängigen Vorstellungen von autoritären Systemen zusammenpassten. Allerdings vermittelte zur selben Zeit der unterschätzte Sektor der militärischen Industrialisierung ein differenzierteres Bild des Regimes. Während sich viele unfähige Karrieristen in den Führungskreisen der Armee eingenistet hatten, kann der untadelige professionelle Werdegang der Kommandanten des Rüstungsbereichs nur verwundern.

Das Team der Rüstungskommandanten

Das Profil von Hussein Kamels engsten Mitarbeitern auf wissenschaftlicher Ebene, d.h. der drei “Vizeminister” für Industrie und militärische Industrialisierung, hob sich von jenem der bekanntesten Persönlichkeiten generell ab. Ihre einzige Gemeinsamkeit war, der gleichen Generation wie die Mitglieder des “Bath-Kommandos” anzugehören, d.h. in den 1930er Jahren geboren zu sein. Hingegen teilten sie nicht die bescheidene Herkunft und das niedrige Bildungsniveau. Im Gegenteil, Amer Mohammed Rashid al-Obeidi, Amer Hammudi Hassan al-Saadi und Jaafar Dhia Jaafar hatten im Ausland studiert. Im Gegensatz zu den Laufbahnen der machthabenden Elite30 verdankten ihre letzten Karriereschritte wenig – oder gar nichts – ihrem Aufstieg in der Partei31.

Amer al-Obeidi, Doktor für Elektrotechnik und Absolvent der Elektronik an der Universität Birmingham, hatte sich 1974 kurz nach seiner Rückkehr in den Irak freiwillig zur Armee gemeldet. Von 1978 bis 1983 soll er sogar als Vizechef der Streitkräfte auf dem Kommandoposten gedient haben. Zunächst Direktor der Abteilung ” Forschung und Entwicklung” im Verteidigungsministerium, wurde er bei der Gründung des Superministeriums 1988 Vizeminister für Industrie und militärische Industrialisierung. Seine spätere Frau, Dr. Rihab Rashida Taha, eine in Großbritannien ausgebildete Biologin, zählte als graue Eminenz des B-Waffen-Programms in jener Zeit ebenfalls zum Kreis der engsten Mitarbeiter von Hussein Kamel32.

Die Laufbahn von Amer al-Saadi begann ähnlich. Nach dem Doktorat an der Universität London trat er bei seiner Rückkehr nach Bagdad in das Verteidigungsministerium ein. Angestellt in der Direktion der Rüstungsindustrien in der Produktionsabteilung, stand er von 1974 bis 1987 an der Spitze der Öffentlichen Gesellschaft für die technischen Industrien und wurde ein Jahr später Vizeminister. Er gilt als “Vater” des irakischen Chemiewaffenprogramms und spielte gleichzeitig eine entscheidende Rolle im Raketenprogramm sowie im Bereich der Beschaffungsnetzwerke.

Der dritte Vizeminister, Jaafer Dhia Jaafer (bekannt unter dem Namen Abu Timmen) leitete den sensibelsten und geheimsten Zweig der militärischen Industrialisierung, das Atomwaffenprogramm. Aus diesem Grund gilt er von allen drei Vizeministern als der mysteriöseste, denn schließlich gehörte zu seinen Verantwortungsbereichen absolute Diskretion. Nach vier Forschungsjahren am Teilchenbeschleuniger des CERN (Europäische Organisation für Kernforschung) und nach zahlreichen Publikationen verschwand er bei seiner Rückkehr in den Irak 1974 plötzlich von der wissenschaftlichen Bühne. Abgesehen von einer eskortierten Reise in die UdSSR soll er übrigens in den 1980er Jahren niemals irakisches Territorium verlassen haben. Seine Inhaftierung aus unbekannten Gründen im Februer 1980 erweckte sogar das Interesse von Amnesty International33. Fest steht auf jeden Fall, dass er nach zwanzig Monaten im Gefängnis direkt die Leitung des Forschungsprogramms für Atomenergie übernahm.

Für Koordination und politische Schlagkraft war in diesem Organigramm natürlich ein Vertrauter von Saddam Hussein verantwortlich, Hussein Kamel. Das operative Management der Programme und technische Fragen lagen jedoch in den Händen von Experten mit eindeutigen Fachkenntnissen, die sowohl als Verwalter, als auch als Forscher überragend waren. Diese Aufgabenverteilung ist nur scheinbar logisch. Sie stand in krassem Gegensatz zu der Situation in der Armee, wo die richtigen Kriegsexperten eigentlich nur im extremen Notfall zu Rate gezogen wurden34 … Amer Rashid, Rihab Rashida, Amer al-Saadi und Jaafar Dhia Jaafar hatten dagegen allem Anschein in ihren Spezialgebieten, also Elektronik, Biologie, Chemie und Atomenergie, einen gewaltigen Handlungsspielraum.

Zu diesem Team stieß noch eine Persönlichkeit mit dazu passenden Fähigkeiten, Doktor Safa Hadi Jawad al-Habbubi. Als diplomierter Maschineningenieur der Universitäten von Bagdad und von Lyon verfügte er über eine unverzichtbare Erfahrung im Bereich der Schwerindustrie und der rechnergestützten Werkzeugmaschinen. Dieses Spezialwissen sowie seine erprobten Führungsqualitäten prädestinierten ihn zur Leitung verschiedener Produktionseinheiten wie die bereits erwähnte Öffentliche Gesellschaft für die technischen Industrien. Parallel dazu mit Fragen der Beschaffung betraut, zeichnete er sich durch Initiative und Einfallsreichtum aus. Von London aus operierte er mit einer Scheinfirma, der Technological Development Group, um so die amerikanische Matrix Churchill Corporation aufzukaufen, deren Präsident er wurde. Später fädelte er ähnlich spitzfindig den Kauf einer Fabrik für Speziallegierungen ein. Zum Schluss sei noch seine Beteiligung an den Verhandlungen von Atlanta für einen unbegrenzten Kredit bei der Banca Nationale del Lavoro erwähnt, ein besonders Aufsehen erregender Skandal35.

Safa Hadi war natürlich nicht der einzige Mittelsmann von Hussein Kamel im Ausland. Fadhel Jawad Kadhem, diplomierter Jurist der Universität von Montpellier, dreisprachig (arabisch, englisch, französisch), Aufsichtsratsmitglied der Technological Development Group, fungierte ebenfalls als Handlungsreisender und war bekannt für seinen ausgeprägten Sinn für Geschäfte und Geheimnisse. Hussein Kamel engagierte also Mitarbeiter, die mit der westlichen Kultur und ihren Geschäftspraktiken vertraut waren, von Fall zu Fall schickte er jedoch auch höher qualifizierte Spezialisten auf Einkaufstour. Unter ihnen sei der Artillerieoffizier Abdul Jawad Dhenun Mohammed Dhaher erwähnt, der nacheinander Direktor des Militärgeheimdienstes, Generalstabschef der Armee und dann in den 1980er Jahren für die Ausrüstung der Armee zuständig war36. Auch der berühmte General Abdul Jabbar Shanshal Khalil, ein Veteran aller irakischen Kriege, wurde regelmäßig ins Ausland entsandt.

Alle diese Leute sind ein Beweis dafür, dass Fachkenntnisse in diesem Bereich wichtig waren. Gruppenzugehörigkeiten, wie sie im Sicherheitsbereich mit seinem hohen Anteil an sunnitischen Arabern ausschlaggebend waren, schienen in der militärischen Industrialisierung wesentlich weniger Bedeutung zu haben. Bekanntermaßen waren auf allen Hierarchiestufen Schiiten vertreten. Jaafar Dhia Jaafar, Safa Hadi und Fadhel Jawad Kadhem sind nur ein paar Beispiele unter den hier angeführten Personen. In einem Umfeld, in dem die bedingungslose Loyalität weniger eine Art von Indoktrinierung erforderte, als vielmehr einen pragmatischen Führungs- und Überwachungsapparat, war die Mitgliedschaft bei der Bath kein entscheidendes Kriterium mehr.

Trotzdem gab es im Rüstungssektor auch Karrieristen der Bath-Partei. Dafür stehen zwei ihrer Vertreter. Humam Abdul-Khaleq Abdul-Ghafur, Masterdiplom für Nuklearphysik der Universität London, machte gleichzeitig in der militärischen Industrialisierung – 1988 wurde er Präsident der OIEA – und in der Partei Karriere, wo er schon mit 33 Jahren einen ihrer Zweige (fere´) leitete. Dagegen verkörperte Abdul Razzaq Qassem al-Hashimi, abgesehen von seiner guten Ausbildung, mit seinem höheren Alter den Archetypus der machthabenden Elite der 1980er Jahre. Als Doktor der Chemie und Mineralogie der Universität von Missouri war er von 1976 bis 1981 Vizepräsident der OIEA, danach Minister für Hochschulbildung und wissenschaftliche Forschung. Beide kamen jedoch über solche prestigeträchtigen, aber bürokratische Funktionen nicht hinaus. Und darin liegt eine der Besonderheiten dieses Regimes: anstatt auf bloße Parteisoldaten angewiesen zu sein, konnte es, wenn es die Lage erforderte, im Allgmeinen auf Persönlichkeiten mit passenden Fachkenntnissen zurückgreifen. Das bestätigt auch die bedeutende Rolle, die den drei Vizeministern bei der Bewältigung der heftigen Krisen zugestanden wurde, die das Regime seit dem goldenen Rüstungszeitalter erlebt hat.

Der Weg aus der Krise von 1991

1991 erlitt die Infrastruktur der militärischen Industrialisierung das, was man allgemein “massive Zerstörungen” nennt. Sie war das Hauptziel der amerikanischen Streitkräfte, die Angst hatten, dass der Irak seine nicht konventionellen Waffen gegen sie selbst oder gegen benachbarte Länder, vor allem Israel, einsetzen könnte37. Nach Beendigung der militärischen Operationen wurde Saddam Hussein von den Alliierten das tiefgreifendste und härteste System von Waffeninspektionen aller Zeiten aufgezwungen. Am 3. April 1991 setzte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 687 die Bedingungen für die Waffenruhe zwischen den Kriegsparteien fest und beschloss die Gründung der UNSCOM.

Die Resolution gab der Kommission den Auftrag, einerseits die Abrüstungsdossiers für chemische, biologische und raketengesteuerte Waffen zu kontrollieren und andererseits die IAEO beim Kapitel Atomwaffen zu unterstützen. Noch nie dagewesene Vorrechte dieser beiden Organisationen berechtigten sie dazu, ohne Vorankündigung Orte ihrer Wahl zu durchsuchen, Dokumente zu beschlagnahmen, Proben einzusammeln, unbegrenzt zu fotografieren, Luftaufnahmen zu verwenden, ferngesteuerte Kamerasysteme einzusetzen, Interviews zu führen etc. Die irakischen Behörden bezeichneten diese weitreichenden Beschlüsse sofort als ungerechtfertigte Eingriffe in ihre nationale Souveränität. Angesichts der drohenden Wiederaufnahme der Kämpfe ratifizierten sie sie jedoch am 14. Mai 199138.

Diese internationale Einmischung war nur eine Facette der Krise, die das Regime, geschwächt durch seine politische Erniedrigung, sein militärisches Debakel, die Aufstände in den eigenen Reihen, weit verbreitete Volksunruhen, sowie durch die Vernichtung seiner Infrastruktur und Institutionen durchmachte, ganz zu schweigen von der desolaten wirtschaftlichen Lage, die in der Zeit des Kriegs gegen den Iran begonnen, sich 1990 durch das Embargo nach dem Einmarsch in Kuweit verschärft und danach durch die Verwüstungen des Krieges und anderer Volksaufstände unermessliche Ausmaße angenommen hatte. Die Krise herrschte also überall. Glaubt man allerdings den Berichten und Analysen über die damalige Zeit, bestand Saddam Husseins einzige Überlebensstrategie in einer massiven Repression der Bevölkerung. Stimmt das?

In der Tat gehen die größten, heute entdeckten Massengräber auf das Jahr 1991 zurück. Saddam Hussein mobilisierte die gesamte politische Führungsgarnitur für eine wilde Rückeroberung des Landes. Jeder einzelne von ihnen wurde verpflichtet, die absolute Treue mit seinem Blut unter Beweis zu stellen. Die Repression von 1991 bekam im Grunde den Charakter einer Taufe, die eine diskreditierte, nur die Unterdrückung des Volkes betreibende Elite in finsterer Solidarität zusammenschweißte. Aber entgegen den Reaktionen, die man von einem Tyrannen erwartete, begnügte sich Saddam Hussein nicht damit, im Regime die “Reihen zu schließen”. Er nützte die Krise auch, um das Netz seiner Anhänger zu erneuern und zu vergrößern. Seine engsten Mitarbeiter durchforsteten das Land, identifizierten in jeder Stadt Verbündete und Verräter. Sie belohnten die einen und beseitigten die anderen39.

Das katapultierte eine neue Generation junger Anhänger in die oberen Ränge der Partei, die traditionellerweise der alten Bath-Garde vorbehalten waren. Manche Stämme erlebten einen spektakulären Aufstieg als Dank für ihren Einsatz und ihre Initiative in der Repression. Das Massengrab von Mahawil zum Beispiel beruht auf einer, in gewisser Weise spontanen Tat eines schiitischen Stammes der Umgebung. Wobei dem Regime, das den Stamm und seinen Anführer danach fürstlich entlohnt hatte, seine volle Verantwortung für dieses Verbrechen in keiner Weise abgesprochen werden kann40.

Es täuscht jedoch, sich nur auf diese repressiven und sicherheitstechnischen Maßnahmen, die natürlich zu verurteilen sind, zu konzentrieren. Im Allgemeinen endet hier die Analyse der ausländischen Beobachter, die gerne immer wieder neue Beweise für die Brutalität des irakischen Regimes und seinen “stalinistischen” oder “totalitären” Charakter liefern. Nun hörte Saddam Husseins Reaktion auf die Krise jedoch hier nicht auf. Musste er doch zur gleichen Zeit die Zerrüttung dieses verwüsteten Landes bewältigen. Dafür schöpfte er aus einem zweiten “Human Resources-Pool”. Er unterschied selbst offen zwischen Vertrauensleuten () und “Fachleuten” oder Experten ()41. Es ist also nur allzu logisch, dass das ziemlich ausgehöhlte Organigramm der militärischen Industrialisierung zu den Schlüsselbereichen der Nachkriegszeit überwechselte.

Wieder einmal erwies sich Hussein Kamel als Mann mit energischem Führungsstil. Im Februar löste er Issam Abdul Rahim al-Chalabi, einem Technokraten (immerhin seit rund vier Jahren Minister) an der Spitze des Ölministeriums ab. Nach seiner Beteiligung an der Repression folgte er im Verteidigungsministerium dem bekannten schiitischen General Saadi Toma Abbas al-Jeburi nach, um in der Armee die Ordnung wiederherzustellen. Gleichzeitig gründete er ad hoc ein Komitee für den Wiederaufbau und übernahm die gewaltige logistische und technische Abwicklung, die nötig war, um das Land wieder in Schwung zu bringen.

Da die großen öffentlichen Bauaufträge in den 1980er Jahren systematisch an ausländische Unternehmen vergeben worden waren, musste der Irak nun aufgrund des Embargos beim Wiederaufbau seiner lebensnotwendigen Infrastruktur und symbolträchtigen Bauten improvisieren. Mit fester Entschlossenheit erzielte Hussein Kamel unbestreitbare Erfolge, die die Iraker heute der Langsamkeit des Wiederaufbaus unter amerikanischer Ägide gegenüberstellen, wobei sie die viel größeren Zerstörungen und wesentlich beschränkteren Mittel der damaligen Zeit betonen. Einige Bauten wie die “Hängebrücke” und später die Doppelstockbrücke und der Saddam-Tower erfüllten viele Iraker – selbst eingefleischte Regimegegner – mit echtem Stolz. Mit dem Wiederaufbau des Landes fand man in der Tat auch die Würde wieder42.

Die ehemaligen Vizeminister von Hussein Kamel waren mit der praktischen Umsetzung der aktuell anstehenden Projekte betraut. Amer Rashid stand an der Spitze der irakischen Partei bei den Verhandlungen über die Modalitäten des Inspektionsystems. Trotz eines überaus ungünstigen Kräfteverhältnisses gelang es ihm, wesentliche Punkte der irakischen Position zu verteidigen, und blieb damit Hauptgesprächspartner der UNSCOM in den 1990er Jahren. Jaafar Dhia Jaafar leitete persönlich ein Team von Fachleuten für dringende Einsätze. So befreite er, nachdem andere gescheitert waren, die Überlebenden des berühmten Luftschutzbunkers von al-Ameriya nach einem Bombardement durch die amerikanische Luftwaffe, das Hunderte zivile Opfer gefordert hatte43. Nach dem Krieg prägte er sich in die Gedächtnisse ein, weil er in einer Rekordzeit ein zerstörtes Leitungsnetz wieder funktionstüchtig machte. Amer al-Saadi, in der Hierarchie der erste der drei Vizeminister, übernahm damals von Hussein Kamel das Ministeramt für Öl sowie jenes für Industrie und militärische Industrialisierung.

In der ersten Zeit nach dem Krieg gab es eine klare Aufgabenteilung zwischen den “Vertrauensleuten” und den “Fachleuten”: grob gesagt brachten die einen das Volk wieder auf Gleichschritt und die anderen die Wirtschaft und Institutionen auf Trab. Symbol für diese vorübergehende Aufgabenteilung war die beachtliche Regierung der sogenannten “Technokraten”, die im März 1991 von Saddam Hussein gebildet wurde. Angeführt von Doktor Saadun Hammadi, einem sehr renommierten Schiiten, übergab sie die Amtsgeschäfte sechs Monate später, nachdem das Land ausreichend stabilisiert war, an eine Regierung klassischerer Prägung.

Im September des gleichen Jahres erhielt ein wesentlich weniger ehrenwerter Schiite, Mohammed Hamza al-Zubaidi, den Posten des Parlamentspräsidenten. Bei weitem kein Technokrat oder Ideologe wie Saadun Hammadi, hatte er sich in den 1980er Jahren den Ruf eines blutrünstigen Rohlings erworben, der sich bei der Repression von 1991 auch bestätigt hatte. Andere Ernennungen waren Zeichen für die gewaltsame Rückkehr der “Vertrauensleute” an die vorderste Front der politischen Bühne. Auffallend war zum Beispiel, dass das Amt des Verteidigungsministers, das traditionellerweise bedeutende Offiziere bekleideten, erst 1995 in den Schoß der Kriegsexperten zurückkehrte.

Die Wiederkehr der Rüstungskommandanten

Allerdings behielten die Technokraten in Bereichen wie dem Energie- und dem Industriesektor, in der militärischen Industrialisierung und der Hochschulbildung ihre entscheidende Rolle bei. Alle oben angeführten Namen tauchen nach 1991 in jenen Bereichen, in denen es dem Regime um Produktivität ging, wieder auf. Safa Hadi war Ölminister von September 1993 bis Juni 1995 und damit Vorgänger von Amer Rashid, der diesen Posten bis 2003 bekleidete. Vor 1993 wurden diese Funktionen von einem Schattentechnokraten (Osama al-Hitti) ausgeübt, der unter der direkten Kontrolle Hussein Kamels stand.

In der ersten Hälfte der 1990er Jahre wechselte sich dieser mit Amer Rashid an der Spitze der Organisation für militärische Industrialisierung ab. Nach der Auflösung des Superministeriums für Rüstung, von dem nur diese Organisation überlebte, im Jahr 1993 und dem Überlaufen von Hussein Kamel im Jahr 199544 übernahm Amer al-Saadi für kurze Zeit die Leitung des Industrieministeriums. Jaafar Dhia Jaafar wiederum war zu seiner ersten Bestimmung zurückgekehrt: er unterstützte von nun an Humam Abdul-Khaleq Abdul-Ghafur an der Spitze der OIEA. Im Bereich der Hochschulbildung, der der intellektuellen Isolierung des Landes entgegenwirken musste45, folgte genau dieser Humam Abdul-Khaleq 1992 einer anderen, bereits erwähnten Persönlichkeit, Abdul Razzaq al-Hashimi, nach.

Man weiß, dass die irakische Regierung zu jener Zeit ihren Ehrgeiz im Bereich der militärischen Industrialisierung nicht aufgab. Aus Hussein Kamels, nach seiner Flucht nach Jordanien geäußerten Erklärungen erfuhr man, wie die irakische Strategie funktionierte. Die wichtigen Spuren der alten Programme, insbesondere gewisse Dokumente und Elemente46, sollten in Hinblick auf eine spätere Wiederaufnahme nach Ablauf des Embargos versteckt werden. Es stellte sich heraus, dass die UNSCOM-Inspektoren oft auf diese Vertuschungsstrategie hereingefallen waren. Andererseits bewiesen die Informationen die latente Existenz der Programme und führten damit zu viel “aggressiveren” Abrüstungsaktivitäten, um einen vielsagenden amerikanischen Ausdruck wiederzugeben.
Die UNSCOM erstellte daraufhin eine äußerst genaue Inventarliste der irakischen Waffen. Die anhaltenden Spannungen zwischen UNSCOM und den irakischen Behörden betrafen vor der Abreise der Inspektoren 1998 fast nur Detailfragen47.

Hussein Kamels Verrat versetzte dem Regime und seinen Ambitionen im Bereich der militärischen Industrialisierung zwar einen sehr harten Schlag, aber es ging nicht k.o. Man konnte weiterhin über alles mögliche spekulieren, umso mehr, als Hussein Kamels Enthüllungen auch dazu dienten, Saddam Husseins Falschheit zu beweisen und anzuprangern. Wenn er fünf Jahre lang so viel vor den Inspektoren versteckt hatte, konnte er da nicht noch viel mehr verbergen, vielleicht sogar eine ganze geheime Industrie? Nach der Abreise der UNSCOM im Jahr 1998 kündigten sogar zahlreiche alarmierende Deklarationen den unmittelbar bevorstehenden Durchbruch im Atombereich an, einem doch sehr komplexen Feld. Wenige Argumente schienen angesichts dieser fantastischen Vorstellungen zulässig, das ging bis hin zu Binsenwahrheiten wie Donald Rumsfelds “man weiß nicht, was man nicht weiß”48.

Zumindest konnte man eine Sache sicher sagen, eine äußerst beunruhigende Sache … die auch diesem Artikel zugrundeliegt. Und zwar, dass in den 1990er Jahren immer mehr unersetzbare Mitarbeiter für entfernte Aufgaben der Waffenproduktion herangezogen wurden. Die oben angeführten “Kommandanten” hatten sich zu einer Zeit durchgesetzt, zu der die militärische Industrialisierung bereits eine richtige Industrie geworden war. Nun allerdings waren von den für eine solche Industrie notwendigen Bestandteilen die Infrastrukureinrichtungen fehleranfällig, die Ausbildung mangelhaft, die ausländische Erfahrung begrenzt oder nicht vorhanden, die Beschaffung schwierig etc. Und um das Bild eines völlig in Auflösung begriffenen Bereichs noch zu vervollständigen, schien sich der Pool der “Fachleute” neuen Aufgaben zu widmen.

An der Spitze der Organisation für militärische Industrialisiserung zum Beispiel standen nun Persönlichkeiten aus der Politik. Von Jänner 1996 bis März 1997 war das Dheif Abdul Majid Ahmed aus Tikrit, dann Abdul Tawab Abdallah al-Mula Huweish, wahrscheinlich ein Verwandter von Saddam Hussein49. Sein Assistent war kein anderer als General Mezahem Saab al-Hassan Mohammed al-Nasseri, ehemaliger Kommandant der Luftwaffe, der Feddayin von Saddam und eines Kommandos der Präsidentengarde () und schließlich Kommandant der Luftverteidung im Jahr 2003.

Diese politischen Ernennungen waren nicht, wie man vorschnell annehmen könnte, Ausdruck einer Säuberungsaktion unter den alten Führungskräften in dem Bereich, ja nicht einmal einer Vertrauenskrise. Alle, die in der großen Zeit der militärischen Industrialisierung sehr eng mit Hussein Kamel zusammengearbeitet hatten, überlebten sein Ausplaudern, das im Sicherheitsapparat und direkt in Saddam Husseins Klan jedoch krasse Folgen nach sich zog. So blieb Doktor Ahmed Murtadha Ahmed Khalil al-Hadithi, der Leiter des technischen Büros von Hussein Kamels Kabinett Ende der 1980er Jahre und an führender Stelle in das biologische Waffenprogramm involviert, zehn Jahre lang (von 1993 bis 2003) Minister für Transport und Telekommunikation.

Im Großen und Ganzen bildeten die ehemaligen Mitarbeiter der militärischen Industrialisierung einen Pool an Fachleuten, deren Qualitäten Saddam Hussein richtig erkannt hatte. Einige von ihnen wurden bei der Realisierung großer, für das Regime vorrangiger Projekte eingesetzt. So zum Beispiel Nizar Jum´a Ali al-Qasir, der ehemalige stellvertretende Direktor der Organisation für militärische Industrialisierung, der den Auftrag bekam, den “Dritten Fluss” , einen Kanal zur Austrocknung der Sümpfe, voranzutreiben. Andere wurden in der irakischen Diplomatie eingesetzt, einer “Diplomatie”, die oft einem geheimen Schachern gleichkam. Amer al-Saadi war Ende der 1990er Jahre irakischer Botschafter in Russland. Er wurde dort von Dr. Muzher Nu´man Wahib al-Duri, einem anderen Raketenspezialisten und ehemaligen Kabinettschef von Vizepräsident Izzat Ibrahim al-Duri abgelöst. Außerdem hatte er noch Diplomatenstellen in Tadschikistan und der Ukraine inne. Dheif Abdul Majid wiederum war nach Weißrussland entsandt worden.

Der Begriff “Pool” (von Mitarbeitern) ist charakteristisch dafür, wie das präsidiale System im Irak funktionierte. Eine Unzahl von “Präsidentenberatern” mit mehr oder weniger informellen Kompetenzen kreiste rund um Saddam Hussein. Fast alle Rüstungskommandanten teilten Ende der 1990er Jahre diesen unklaren Status. Dieses nebulöse Beratersystem entsprach sicherlich Saddam Husseins Hang zu einer Machtausübung, die sich am Stammessystem orientierte. Aber sie war auch Zeichen für die allmähliche Zersetzung des Rüstungssektors, der, wenn er den westlichen Phantasmen einer apokalyptischen Macht des Tyrannen entsprechen sollte, nur als moderner, rationalisierter, bürokratischer Sektor, als Produktionsbereich auf Industrieniveau funktionieren konnte50. Nun schien es, dass Jaafar Dhia Jaafar, der in seiner Glanzzeit ein fähiges Team von 8000 Leuten unter sich hatte51, zehn Jahre später nur mehr “Berater” ohne Labors und ohne Angestellte war und sich als “Verhandler” und “Sprecher” darauf beschränken musste, der UNSCOM mehr durch Worte als durch Taten die Stirn zu bieten52.

Kann man daraus schließen, dass der Irak seine Ambitionen aufgegeben hatte, d.h. dass er keine “Bedrohung für seine Nachbarn und für den Frieden in der Welt” mehr darstellte? Damit kehrt man zur Kernfrage der aktuellen Polemik zurück. Die militärische Industrialisierung im Irak über ihre Mitarbeiter zu analysieren, läßt zumindest die Behauptung zu, dass es sehr wohl eine Antwort auf diese Frage gibt. Denn heutzutage ist es möglich, nicht nur das “Ausmaß”53, sondern alle Details der verbotenen Programme zu kennen. Dafür muss man sich nur die Liste der irakischen Persönlichkeiten, die bis jetzt verhört wurden, vor Augen halten.

Saddam Husseins Privatsekretär, Abdul Hamid Mahmud al-Khattab al-Nasseri, galt generell, auch in den offiziellen Erklärungen der Kriegsbefürworterstaaten als das Mastermind der Vertuschungsoperationen. Sein Verhör in Tikrit am 17. Juni sollte bald die dunkelsten Geheimnisse des Regimes zum Vorschein bringen. Die Gefangennahme von Saddam Hussein selbst könnte den Informationen, die sein rechter Arm bereithält, im Übrigen nichts mehr hinzufügen, da man ihm nachsagt, alle Kontakte zu dem Präsidenten gefiltert und diesen von seiner Umgebung isoliert zu haben.

Gewiss, Hussein Kamel ist tot, ermordet von der eigenen Familie bei seiner unverständlichen Rückkehr nach Bagdad 1996. Sein erster Vizeminister, Amer al-Saadi, hat sich hingegen am 12. April gestellt. Jaafar Dhia Jaafar folgte am nächsten Tag diesem Beispiel. Amir Rashid wurde am 28. des gleichen Monats gefangen genommen. Tags zuvor geriet General Husam Mohammed Amin al-Yassin al-Tikriti, Leiter der Nationalen Überwachungskommission, das für Fragen der Abrüstungsinspektoren zuständig war, in das Netz der Besatzungsmacht. Abdul Tawab Huweish, noch immer verantwortlich für die militärische Industrialisierung, ergänzte diese Liste noch am 2. Mai.

Warum haben die Gefangennahme von Huda Salih Mehdi Ammash (am 9. Mai), die im unheimlichen Kartenspiel “Wanted” als Spezialistin für bakteriologische Waffen bezeichnet wurde, von Humam Abdul-Khaleq Abdul-Ghafur (am 19. April), dem ehemaligen Direktor der OIEA, der, um ihn vor den Befragungen der UNSCOM zu schützen54 vorsorglich zum Minister ernannt wurde, und von Qaid Hussein al-Awadi (am 9. Juni), der als “Mitglied des Armeecorps für chemische Rüstung verantwortlich” gilt55, noch keine Früchte getragen? Hinzu kommen die Verhaftungen von Persönlichkeiten des Sicherheitsapparates, von denen einige mit den Geheimnissen des Regimes am besten vertraut sind, nämlich Mezahem Saab, Kamal Mustafa Abdallah Sultan und sein Bruder Jamal, Barzan Razzuqi Suleiman al-Majid56 etc.

So dreht sich die Polemik natürlich langsam um die folgende Frage: Ist es seit dem Sturz des Regimes nicht vor allem Folge und Ausdruck eines gravierenden Transparenzproblems der amerikanischen Seite, dass das irakische Rüstungsdossier noch immer im Dunkeln liegt?

Vgl. Khidhir Hamza: Inside Saddam's Secret Nuclear Program. In: Bulletin of the Atomic Scientists, September/Oktober 1998. Auch wenn diese Quelle für gewisse historische Details sehr nützlich ist, hat Khidhir Abdul Abbas Hamza den Entwicklungsstand des irakischen Nuklearprogramms ab 1998 wissentlich übertrieben. Vgl. dazu Seymour M. Hersh: Selective intelligence. In: The New Yorker, 12. Mai 2003. Für einen Standpunkt, der diametral zu jenem von Khidhir Hamza in den letzten Jahren steht, vgl. das Interview mit Imad Khadduri, einem anderen irakischen Überläufer, in The Toronto Star vom 6. Februar 2003.

Vgl. Khidhir Hamza. op.cit.

Man müßte hier die ganze Geschichte der amerikanischen Irak-Politik während der Sanktionen wieder aufrollen. Es wird schon als selbstverständlich angenommen, dass der relative Misserfolg der Inspektionen und das daraus resultierende 13 Jahre lang dauernde Embargo nur auf die Unaufrichtigkeit der Iraker zurückgeht. Vergisst man dabei nicht ein bisschen zu schnell, wie Washington das Sanktionenkomitee und die Sonderkommission der UNO für die Abrüstung des Irak (UNSCOM) zynisch als Provokationsinstrument eingesetzt hat? Dafür sei zum Beispiel auf die Polemik von September und Oktober 1998 über die Zusammenarbeit dieser Kommission mit den israelischen Geheimdiensten verwiesen, einem der Aspekte der Krise, der zum Bruch der Beziehungen zwischen Irak und UNSCOM geführt hat. Für eine neutrale Darstellung des damaligen Kontextes, vgl. Ragheda Dergham: Iraq's Frustration Could Prompt it to Overplay its Hand. Midleast Mirror, 4. September 1998.

Wodurch, technisch gesehen, stellte dieses Regime eine Gefahr für seine Nachbarn oder allgemeiner gesagt "für den Frieden in der Welt" dar? Sein schädigender Charakter war so offensichtlich, dass es heikel war, vor dem Krieg diese Frage zu stellen: denn in einer moralisch geführten Debatte schien eine derartige Frage entweder Zeichen für eine bemitleidenswerte Naivität oder Beweis für einen unverbesserlichen Irrglauben zu sein. So fehlte genau die Frage, die diese Debatte stellen hätte sollen.

Dies ist eine weitere Veranschaulichung der Desinformation durch die amerikanische Administration rund um das Irak-Dossier. In kürzlich getätigten Erklärungen beschuldigte Paul Bremer insbesondere Saddam Hussein, "einen Großteil der Gelder aus dem Programm Öl für Lebensmittel für den Bau von Projekten wie dem olympischen Stadion verwendet zu haben" (www.defenselink.mil/transcripts/2003/tr20030515-0186.html ). In Wirklichkeit unterlag die Verwendung dieser auf einem gesperrten Konto in New York angelegten Gelder einer doppelten Kontrolle: durch das Sanktionenkomitee, das jedem Kauf zustimmen mußte, und durch die UNMOVIC, einer Organisation, die für die Umsetzung des Programms vor Ort zuständig war. Alle Berichte der UNMOVIC sprachen von einer zufriedenstellenden Zusammenarbeit mit den irakischen Behörden. In dieser Zeit wies das Sanktionenkomitee unter dem Druck von Washington und aufgrund des Risikos einer "doppelten Verwendung für zivile und militärische Zwecke" so harmlose Verträge wie Abflussrohre oder Stiere für die genetische Erneuerung des Rinderbestands ab ...

Paradoxerweise wird die Glaubwürdigkeit der Dokumente, die von der amerikanischen und britischen Regierung in dieser Richtung verfasst wurden, durch die darin enthaltenen Fehler und Manipulationen untergraben, während es bereits ausreichend zufriedenstellende Studien zu diesem Thema gab. Zitiert sei Jonathan B. Tucker: Monitoring and Verification in a Noncooperative Environment: Lessons from the U.N. Experience in Iraq, The Nonproliferation Review. Frühling/Herbst 1996. Zitiert werden muss auch der allgemeine Bericht der UNSCOM von Ende 1998, dessen Stichhaltigkeit man trotz der zweifelhaften Integrität der Sonderkommission jener Zeit nicht leugnen kann (cns.miis.edu/research/iraq/ucreport/dis_acti.htm ).

Im Übrigen handelt es sich dabei um den Titel eines Werks, der sich auf das Saddam-Hussein-Regime der letzten 15 Jahren bezieht. Samir al-Khalil: La machine infernale. Politique de l´Irak moderne. Paris, Jean-Claude Lattès, 1991.

Dieses umfangreiche Programm war Thema von Beschreibungen und Analysen, die alle einen implizit moralischen Zugang haben. Man kann sie in drei Kategorien einteilen. In der ersten werden die Beschaffungsnetzwerke des Irak in den 1980er Jahren aufgedeckt und die heutigen Anhänger einer irakischen Abrüstung als Lieferanten von damals aufgezeigt. In die zweite fallen die Analysen über das Ziel dieses ehrgeizigen Programms. Insbesondere, ob die von Saddam Hussein vor dem Krieg von 1991 so begehrten Atomwaffen dazu dienen sollten, ein Gleichgewicht à la Kalter Krieg mit Israel herzustellen oder eine agressivere Politik zu verfolgen. Die dritte Kategorie beantwortet tatsächlich diese Frage: als Beweis für die von Grund auf schlechten Absichten von Saddam Hussein wird dokumentiert, wie der Irak in den 1990er Jahren die Inspektoren behindert und einige seiner Waffen beiseite geschafft hat. Die Politisierung der beachtlichen Arbeit von Hans Blix vor dem Krieg von 2003 zeigt im Übrigen die fast unüberwindbare Schwierigkeit einer sachlichen Behandlung des Themas.

Die (mündlichen und schriftlichen) Quellen für die biographischen Daten in diesem Artikel sind zu zahlreich, als dass sie systematisch zitiert werden könnten. Sie haben auf jeden Fall hinweisenden Charakter. Ziel ist eher das bessere Verständnis der Organisation des Sektors als eine Abfolge von genauen Biographien, was beim derzeitigen Wissen über den Rüstungsbereich unrealisierbar wäre.

Laut Kenneth R. Timmerman: Le lobby de la mort. Comment l´Occident a armé l´Irak. Paris, Calman Levy, 1991. Auch bei dieser für manche Details nützlichen Quelle ist Vorsicht geboten. Kenneth Timmerman ist so wie Richard Perle und James Woolsey Mitglied des Beraterstabs des "Jewish Institute for National Security Affairs", eines Think-Tank, der eine starke amerikanische Politik im Irak favorisiert.

Laut Amatzia Baram: La maison de Saddam Hussein. In: Bonte, Pierre et al. (Hrsg.): Emirs et présidents. Figures de la parenté et du politique dans le monde arabe. Paris, CNRS Editions, 2001.

Kusai, Sohn von Saddam Hussein und Schützling seines Onkels mütterlicherseits, Adnan Chairallah, scheint bei dessen Tod an Hussein Kamels Seite aufgestiegen zu sein und teilte ab Ende der 1980er Jahre gewisse Vorrechte mit ihm.

Diese Summe entspricht den jährlichen Öleinnahmen des Irak vor dem Anstieg des Rohölpreises 1973. Pierre-Jean Luizard: L´improbable démocratie en Irak, le piège de l´Etat Nation. Egypte-Monde Arabe, 1990.

Vgl. das Buch des skandalträchtigen Waffeninspektors Scott Ritter: Endgame: Solving the Iraqi Problem Once and for All. New York, Simon and Schuster, 1999.

Dieses Mitglied der Beigat ist atypisch für die Agnaten von Saddam Hussein. Als Schwiegersohn von Ahmad Hassan al-Bakr (Präsident der Republik Irak von 1968 bis 1979) zählte er zwei der berühmtesten Kommandanten der irakischen Armee aus dem Iran-Irakkrieg zu seinen Brüdern, Taher und Maher Abdul Rashid (dessen Tochter wiederum Kusai geheiratet hat). Sein Profil als Fachmann ist nur umso verwunderlicher. Nach seinem Diplom für Betriebswirtschaft an der Universität von Texas machte er eine sehr verdienstvolle Karriere in der Industrie. Dieser perfekte Technokrat war noch vor kurzem (bis Februar 1999) als Präsident der Vereinigung der irakischen Industrie eine der tonangebendsten Persönlichkeiten in diesem Bereich.

Vgl. die UNSCOM-Berichte auf der Website der Sonderkommission (www.un.org/Depts/unscom ) oder auf der Website des Monterey Institute of International Studies (www.cns.miis.edu ).

Vgl. Amatzia Baram: An Analysis of Iraqi WMD Strategy. In: The Nonproliferation Review. Sommer 2001.

In diese Zeit fiel die Operation "Anfal", angeführt von Saddam Husseins Cousin, Ali Hassan al-Majid, seitdem "Chemie-Ali" genannt. Vgl. Human Rights Watch/Middle East Watch: Genocide in Iraq: The Anfal Campaign Against the Kurds. New York, Human Rights Watch, 1993.

Nach dem Giftgasangriff im März 1988 auf Halabja wurde die kurdische Stadt nahe der iranischen Grenze für die amerikanische Administration zum Paradigma für die Brutalität des Regimes (vgl. vor allem das Kommuniqué des State Department vom 13. März 2003: Saddam´s Chemical Weapons Campaign: Halabja, March 16, 1988). Hingegen war die Position der Vereinigten Staaten zum Zeitpunkt des Dramas hinsichtlich dieses höchst zweifelhaften Giftgasangriffs, der von manchen damaligen Beobachter dem Iran zugeschrieben wurde, viel nuancierter. Vgl. Stephen C. Pelletière: A War Crime or an Act of War? In: The New York Times, 31. Jänner 2001. Anthony Arove: Convenient and not so Convenient Massacres. In: Znet Daily Commentaris, 28. März 2002. Adel Darwish: Halabja: Whom does the truth hurt? In: openDemocracy, 17. März 2003. Und zur besonderen Rolle von ... Donald Rumsfeld, vgl. Tim Reid: How US Helped Iraq Build Deadly Arsenal. In: The Times, 31. Dezember 2002.

Interviews 2002 in Bagdad mit einem Ingenieur, der in den 1980er Jahren auf diesem Gelände gearbeitet hatte.

Interviews mit ehemaligen Angestellten der militärischen Industrialisierung zu verschiedenen Zeitpunkten im Irak.

Interviews 1999 im Irak.

Idem. Andere ähnliche Techniken wurden von Johnathan B. Tucker: op.cit. aufgelistet.

Scott Ritter: op.cit.

Die Sondersicherheit wurde gemeinsam mit den Republikanischen Garden für die heikelsten Missionen eingesetzt, die mit der Geheimhaltungsstrategie des Regimes ab 1991 zu tun hatten. Der irakischen Bevölkerung war diese Funktion nicht unbekannt. Es kam zum Beispiel vor, dass Spezialagenten in Zivil in öffentliche Schulen eindrangen, diese für einige Tage in Beschlag nahmen, um dort Kisten mit Archivmaterial zwischenzulagern, die das Regime verstecken wollte. Das ganze System basierte im Grunde auf der Isolierung der Abrüstungsinspektoren (bzw. anderen Vertretern der internationalen Gemeinschaft), die rund um die Uhr betreut und an jedem echten Kontakt mit der Bevölkerung gehindert wurden. Die UNSCOM wies schließlich auf die Bedeutung der Sondersicherheit in einem Annex ihres letzten, Anfang 1999 verfassten Berichts hin: UNSCOM's Comprehensive Review: Actions by Iraq to Obstruct Disarmament (cns.miis.edu/research/iraq/ucreport/dis_acti.htm ).

Khidhir Hamza: op.cit.

Ebd.

Jonathan Tucker: op.cit. Diese Zusammenarbeit nützte den Irakern schon 1991. Tim Weiner: Iraq Uses Techniques in Spying Against its Former Tutor, the US. In: Philadelphia Inquirer, 5. Februar 1991. Die Satellitenbilder, die die Vereinigten Staaten ihrem irakischen Verbündeten im Krieg gegen den Iran geliefert hatten, zeigten dem Irak vor allem den Aufmarsch von iranischen Truppen, gegen die der Irak bekanntermaßen C-Waffen einsetzte.

Für einen Überblick über diese Fragen vgl. Amatzia Baram: The Iraqi Armed Forces and Security Apparatus. In: Journal of Conflict, Security and Development, Frühling 2001. David Baran: L´adversaire Irakien. In: Politique étranger, April/Juni 2003.

Der Archetypus dieser Elite stammt aus einer Bauern- oder Kaufmannsfamilie aus der Provinz; er schließt sich sehr jung der Bath-Partei an, deren Stufen der Karriereleiter er durch echtes - sprich durch Inhaftierungen zur Zeit des heimlichen Militarismus unter Beweis gestelltes - und durch "verdienstvolles" - d.h. langsames und hart erarbeitetes Vorwärtskommen in der Hierarchie - Engagement erklimmt. Allein schon für die biographische Arbeit über die Machthaber der 1980er Jahre, vgl. Amatzia Baram: The Ruling Political Elite in Ba´thi Iraq. In: International Journal of Middle East Studies, September 1989.

Die Mikrobiologin Huda Salih Mehdi Ammash, Doktor der Medizin der Universität von Missouri, liefert ein nützliches Gegenbeispiel. Sie war im Gesundheitsministerium für internationale Beziehungen verantwortlich und wurde mit ihren wissenschaftlichen Publikationen über die Auswirkungen des Embargos zur Stimme des Regimes (vgl. Anthony Arnove (Hrsg.): L´Irak assiégé. Les conséquences mortelles de la guerre des sanctions. Paris, Parangon 2003). An der Universität Saddam setzte sie sich an der Parteispitze durch, gleichzeitig spielte sie auch in der Frauenvereinigung eine Schlüsselrolle. Im Mai 2001 wurde sie die erste Frau im Kommando der Bath und war damit entgültig von der Forscherin zur reinen Politikerin geworden.

Für ihre Verhöre durch die UNSCOM, vgl. Le Figaro vom 26. Februar 1998.

Amnesty International. Irak: nouveau constat de violations des droits de l´homme (réponse des autorités et commentaires) . Paris, EFAI 1983. Darin wird von der Verhaftung eines weiteren Wissenschaftlers berichtet, des wissenschaftlichen Beraters der OIEA, Hussein al-Shahristani. Er kam erst elf Jahre später dank der Ereignisse von 1991 aus dem Gefängnis frei. Er wurde der Präsident des "Iraqi Refugee Aid Council" in London und damit vor dem Krieg zu einer wichtigen Informationsquelle über die irakischen Massenvernichtungswaffen. Demzufolge war dieses Waffenarsenal in einem weitverzweigten unterirdischen Tunnelsystem versteckt worden (vgl. den Artikel Saddam´s Deadly Subway Scheming vom 21. Februar 2003 auf CBS News.com). Donald Rumsfeld hatte diese These im Übrigen schon im Dezember 2002 unterstützt. "They've got enormous miles and miles and miles of underground tunneling. [...] I don't know how inspectors on the surface of the Earth can even know what's going on in the underground facilities" (Zitat aus einer Meldung der Associated Press vom 9. April 2003). Allerdings kann man berechtigte Zweifel gegenüber den Hussein al-Sharistanis Zeugenaussagen hegen; ihm wird nachgesagt, dass er in der jahrelangen Einzelhaft verrückt geworden sei (Interviews mit einem ehemaligen Angestellten des Nuklearprogramms im Irak Anfang 2003) ...

Dafür ist der Iran-Irak-Krieg sehr aufschlussreich. Vgl. vor allem Marine Corps Historical Publication: Lessons Learned: Iran-Iraq War. Dezember 1990.

Kenneth R. Timmerman: op.cit. Alan Friedman: Spider's Web: The Secret History of How the White House Illegally Armed Iraq. New York, Bantam Books 1993. Peter Mantius: Shell Game: A Story of Banking, Spies, Lies, Politics and the Arming of Saddam Hussein. New York, St. Martin's Press 1995.

Kenneth R. Timmerman erwähnt einen "Naguib Jenaab Thanoon", bei der es sich wohl um die gleiche Person handelt. Die oft ungenaue Transkription von arabischen Namen ist im Übrigen ein häufiges Problem bei jeglicher biographischen Recherchearbeit.

Warum wurden diese Waffen niemals eingesetzt? Zwölf Jahre später ist diese Frage noch immer gleich umstritten. Jonathan B. Tucker führt eine Liste von Indizien an, die auf eine strategische Verwendung von Giftgas durch die Iraker im Golfkrieg hinweisen. Gleichzeitig zeigt er auf, dass alle öffentlichen Berichte und Erklärung der amerikanischen Regierung einen solchen Einsatz von C-Waffen klar dementiert haben. Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Jonathan B. Tucker: Evidence Iraq Used Chemical Weapons During the 1991 Persion Gulf War. In: The Nonproliferation Review. Frühling/Sommer 1997. Amatzia Baram wiederum bezieht sich auf Aussagen von Hussein Kamel, die nicht im Verhörprotokoll der UNSCOM stehen, sondern die ihm später von Waffeninspektoren, deren Namen er nicht preisgibt, weitergegeben wurden. "According to General Kamil's account, Saddam declared that if contact with him was severed (SSO units [Einheiten der Sondersicherheit] possessing non-conventional warheads were based deep in the deserts of western Iraq), and if SSO officers believed that communications had been broken because of na nuclear attack on Baghdad, they should mate the chemical and biological warheads in their custody with missiles in the possession of the regular missile force and launch them against Israel". Amatzia Baram: An Analysis of Iraqi WMD Strategy. In: The Nonproliferation Review. Sommer 2001. Danach stellt sich eine weitere Frage. Warum erwähnt dieser normalerweise äußerst strenge Autor in keiner Weise die gegenteiligen Behauptungen in dem Protokoll selbst, dessen Glaubwürdigkeit insgesamt unbestritten ist? "During the Gulf War, there was no intention to use chemical weapons as the Allied force was overwhelming. [...] They realised that if chemical weapons were used, retaliation would be nuclear. [...] In the nuclear area, there were non weapons. Missile and chemical weapons were real weapons. Our main worry was Iran and they were against them."

Für nähere Details vgl. Jonathan B. Tucker: Monitoring and Verification in a Noncooperative Environment: Lessons from the U.N. Experience in Iraq. In: The Nonproliferation Review. Frühling/Herbst 1996.

In der Presse der damaligen Zeit finden sich unzählige Spuren dieser frenetischen Jagd der Führungskader. Vgl. zum Beispiel al-Jumhuriya vom 12. März 1991 zu den Inspektionsbesuchen () von Taha Yassin Ramadhan, Mizban Khudher Hadi und Hussein Kamel in den südlichen Gouvernoraten. Saddam Hussein selbst traf sich mehrmals mit den Beamten der Ministerien, den Clanchefs, den religiösen Würdenträgern, den Anhängern der Bath-Partei und sogar mit den Anführern der Kurdenparteien - darunter Jalaleddin al-Talabani (Babel vom 25. April 1991) und Mas´ud al-Barzani (al-Jumhuriya vom 1. Dezember 1991).

Es handelt sich um den schiitischen Zweig der Albu ´Alwan, der vom Rest dieses großteils sunnitischen Stamms verleugnet wurde, mit den Duleim verwandt und in der Gegend von Ramadi und Fallouja ansässig war. 1991 errichtete der Chef der Albu Alwan von Mahawil, Mohammed Jawad ´Eneifes, eine Sperre bei Mahawil, d.h. zwischen der aufständischen Stadt Hilla und dem Machtzentrum in Bagdad, und nahm unzählige Menschen fest, die er sofort - lebendig - in Massengräbern begraben ließ. Als Zeichen der Dankbarkeit für seinen Beitrag zur Repression, soll ihm Saddam Hussein neben Geld und Waffen sein persönliches Auto geschenkt haben. Der Stamm wurde im Lauf der 1990er Jahre eine Art informelles und parallel arbeitendes Sicherheitsorgan in der Region. Zahlreiche Mitglieder waren auch Teil der offiziellen Sicherheitsorgane von Hilla. Mohammed Jawad ´Eneifes war Anfang 2003 überprüft und vom selbsternannten Gouverneur Iskander Witwit den Besatzungsmächten übergeben worden.

Vgl. Faleh Abdul Jabar: Le régime irakien déchiré par les luttes de clans. In: Manière de Voir, März/April 1998.

Diesem Wiederaufbau wurde sogar ein Museum gewidmet. Man zeigte vor allem Modelle der wichtigsten bei Bombenangriffen zerstörten Bauten nach dem Prinzip vorher/ nachher. Auffallend ist, dass man alle Gebäude detailgetreu wieder nachbaute, anstatt neu, d.h. modernere oder funktionellere Bauwerke zu schaffen.

Der Luftschutzbunker von Al-Ameriya ist eine der wenigen Anlagen, dienach seiner Zerstörung 1991 nicht vollkommen wieder aufgebaut worden waren. Ganz im Gegenteil war er als Denkmal in dem Zustand belassen worden. In der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1991 trafen zwei Raketen hintereinander den Schwachpunkt des Bunkers getroffen, wobei die erste den Weg für die zweite freimachte. Die Explosion inmitten des Bunkers hat die Körper buchstäblich pulverisiert und auf die Mauern Umrisse gezeichnet, die heute noch gespenstisch aussehen. Seitdem benützte das Regime das Gedenken an dieses Drama, um das barbarische Vorgehen der Amerikaner anzuprangern: so hätten die Militäroperationen von 1991 zum Ziel gehabt, "die Infrastruktur im Irak, die Wohnviertel, Spitäler und sogar die Schutzbunker zu zerstören, worin sich die Grausamkeit der Angreifer widerspiegelt" (al-Thawra vom 18. Januar 2000).

Zu Hussein Kamels spektakulärem Überlaufen vgl. Amatzia Baram: Turmoil in Baghdad: the Regime's n°2 Defects. In: Middle East Quaterly, Mai/Juni 1995.

Bis dahin wurden fast alle Doktoratsstudien im Ausland absolviert. Ab 1991 mussten die irakischen Universitäten in den unterschiedlichsten Fächern Doktoratsstudien einführen, ohne jedoch einen echten Nachwuchs auszubilden. Die fachlich besten Lehrer gingen oft in die Emigration. Die Bibliotheken bekamen fast keine neuen Werke zu ihrem Fundus dazu, der aus den 1980er Jahren stammte. Kurz und gut, die Vorstellung, dass es weiterhin qualifiziertes Personal für eine breite Wiederaufnahme der Rüstungsprogramme gegeben hätte, wie es die amerikanische Regierung behauptete, ist illusorisch. Viele Ingenieure aus diesem Bereich arbeiteten in den 1990er Jahren als Taxifahrer und hatten mit der Zeit ihr Wissen und Know-How, das auf aktuellem Stand zu halten gewesen wäre, vergessen. Sie hätten also nicht ohne massive Unterstützung durch das Ausland wieder eingesetzt werden können. Im Übrigen zeigte das mittelmäßige Gehaltsniveau für Angestellte der militärischen Industrialisierung nach 1991 (z. B. 150.000 ID , das sind 75 $ für einen Assistenten mit Magisterabschluss im Jahr 2002), in welche Richtung sich dieser Sektor seit den 1980er Jahren entwickelt hatte.

Was die Vorräte an verbliebenen Waffen betraf, waren Hussein Kamels Aussagen bei seinem Verhör durch ein UNSCOM - Team am 22. August 1995 in Jordanien eindeutig. "All chemical weapons were destroyed. I ordered destruction of all chemical weapons. Al weapons - biological, chemical, missiles, nuclear were destroyed." In seiner Antwort auf eine Frage eines Waffeninspektors zur besonderen Rolle der UNSCOM bei diesen Zerstörungen, relativierte er die irakischen Möglichkeiten, sich der Überwachung zu entziehen. "You should not underestimate yourself. You are very effective in Iraq." Allerdings hinderte das alles die Anhänger eines neuen Krieges wenig daran, die Affäre Hussein Kamel als Beweis für die chronische Ineffizienz des Inspektionssystems zu sehen. Siehe die Erklärungen von Tony Blair und George Bush am 25. Februar 2003 bzw. am 7. Oktober 2002.

Der letzte UNSCOM - Bericht hält klar und deutlich fest: " As has been reported to the Council, over the years, and as has been widely recognized, notwithstanding the very considerable obstacles placed by Iraq in the way of the Commission's work, a great deal has been achieved in: verifying Iraq's frequently revised declarations; accounting for its proscribed weapons capabilities; and in destroying, removing or rendering harmless substantial portons of that capability". (cis.miis.edu/research/iraq/ucreport/dis_intr.htm ).

Zitiert von Seymour H. Hersh: op.cit.

Dheif Abdul Majid unterstützte bis dahin Amer Rashid an der Spitze der Organisation für militärische Industrialisierung. Auf diesem Posten spielte er wahrscheinlich die Rolle des Politkommissars, wie sie den Assistenten von Führungskadern in sensiblen Bereichen oft zukommt. Abdul Tawab Huweish hatte, obwohl er vor der Gründung des Superministeriums für Rüstung im Jahr 1988 das Amt des Ministers für Schwerindustrie bekleidet hatte, nicht mehr weiterhin das Profil eines kompetenten Fachmanns.

Von Seiten der amerikanischen Administration gab es diesbezüglich immer schon widersprüchliche Wortmeldungen. Schon 1998, kurz nach der Operation "Wüstenfuchs", erklärte Präsident Bill Clinton, die irakische Rüstungsinfrastruktur vernichtet zu haben. "Our objectives in this military action were clear: to degrade Saddam´s weapons of mass destruction program and related delivery systems, as well as his capacity to attack his neighbours. [...] I am confident we have achieved our mission". Einerseits war diese Infrastruktur also für das Militär als Ziel leicht erkennbar. Andererseits war sie es dann wieder nicht so weit, dass die Abrüstungsinspektoren ihre Arbeit hätten machen können.

Interview im Jahr 2001 mit einem ehemaligen Mitarbeiter des Vizeministers.

1995 schienen seine Worte im Übrigen die grundsätzlich latente Existenz der irakischen Rüstungsprogramme zu verraten: "Ihr könnt unsere Gebäude bombadieren und unsere Technologie zerstören, aber niemals könnt Ihr sie uns aus unseren Köpfen wegnehmen."

Ausdruck von George Bush in seiner Radiorede vom 21. Juni 2003.

Meldung der Iraq Press vom 21. April 2001.

Meldung der AFP vom 10. Juni 2003.

Für nähere Informationen zum Umfeld dieser Personen, vgl. David Baran: L´état-major de Saddam Hussein. In: Point de vue. IFRI, April 2003.

Published 30 September 2003
Original in French
Translated by Monika Kalitzke

© David Baran Eurozine

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