Die Ukraine: ein Staat, zwei Länder?

Die Lage in so gut wie allen postkommunistischen Ländern ist von tiefen gesellschaftlichen und politischen Ambivalenzen gekennzeichnet. In der Ukraine, dies bestätigen empirische Befunde und sozialwissenschaftliche Daten immer wieder, ist diese Ambivalenz einerseits eine Folge der regionalen, kulturellen und sprachlichen Diskrepanzen des Landes und geht zum anderen auf die Atomisierung der ukrainischen Gesellschaft durch den sowjetischen Totalitarismus zurück. Mykola Riabchuk argumentiert, dass diese Spaltungen von der postsowjetischen Elite aufgrund machtpolitischer Überlegungen konserviert wurden. Ist die Ukraine in der Lage, ihre inneren Spannungen zu überwinden und demokratischen Pluralismus mit nationaler Einheit zu verbinden?

Der vorliegende Artikel basiert auf einem Vortrag, den der Autor auf einem Kongress des Pariser Centre d’Etudes et Recherches Internationales, Institut des Sciences politiques am 5. April 2002 unter dem Titel “L’Ukraine et le monde extérieur: dix ans après l’indépendance” gehalten hat. Mein besonderer Dank gilt Frau Maria Malanschuk für ihre redaktionelle Unterstützung.

Die Ukraine – ein Land oder zwei?

Wie schon im Anschluss an die letzten Präsidentschaftswahlen von 1994 ist es auch jetzt wieder Mode, sich über regionale Bruchlinien innerhalb der Ukraine zu verbreiten, Landkarten zu präsentieren, auf denen der angeblich “nationalistische” Westen einem russisch dominierten Osten gegenübersteht, und in pathetischem Ton über eine mögliche Zweiteilung des Landes zu spekulieren. Niemand könnte freilich die politischen Kräfte benennen, die ein solches Unterfangen durchführen würden, geschweige denn die Demarkationslinie bezeichnen, nach der das Land zu teilen wäre.

Als Autor, der 1992 das Konzept der “zwei Ukrainen” in die Debatte eingeführt hat,1 muss ich heute zugeben, dass es zweideutig ist und damit das, was es erklären will, zugleich verstellen könnte.

Jeder, der die weit östlichen bzw. westlich gelegenen Landesteile bereist, etwa Städte wie Donetsk und L’viv, kann nicht umhin, den gewaltigen Unterschied zwischen den beiden Regionen festzustellen. Es ist fast so, als gehörten sie verschiedenen Ländern, ja verschiedenen Welten und Kulturen an. Am augenfälligsten sind die Unterschiede in der Architektur: L’viv ist eine typisch mitteleuropäische Stadt, die jahrhundertelang Magdeburger Recht unterstand. Französischer Klassizismus und österreichische Moderne schlossen hier an deutsche Gotik, italienische Renaissance und polnischen Barock an. Mittlerweile erleben die zahlreichen Kirchen der Stadt einen wachsenden Zustrom von Gläubigen, und die kleinen Cafés sind, wie schon während der Sowjetära, ein beliebter Ort der Begegnung und des Gesprächs.

Aber auch unter der Oberfläche sind die Unterschiede nicht minder ausgeprägt. So haben die Westukrainer den Kommunismus nie verinnerlicht, haben die Sowjetunion nie als “ihr” Land aufgefasst und waren auch nie der Ansicht, dass die Rote Armee sie befreit habe. Vielmehr sahen sie in ihr nur eine Besatzungsmacht, die eine andere ablöste. Trotzig fuhren sie fort, ihre Kinder taufen zu lassen (durch die offiziell geächtete, im Untergrund fortbestehende unierte griechisch-katholische Kirche), und die Großmütter gaben ihre Kochrezepte unverdrossen an ihre Enkelinnen weiter. In der Ostukraine war dieser Brauch wegen permanenter Lebensmittelknappheit und der Verarmung in allen Bereichen des täglichen Lebens verschwunden. Westukrainische Bauern, die zum sonntäglichen Kirchgang dunklen Anzug, weißes Hemd und gewienerte Schuhe tragen, sind in der Ostukraine schwer vorstellbar. In gewisser Hinsicht sind die Westukrainer “Bürger” und als solche Teil einer “bürgerlichen Gesellschaft”, die im Osten des Landes schon Jahrzehnte zuvor von den Bolschewiken zerschlagen wurde.

Donetsk ist die Verkörperung dessen, was an deren Stelle errichtet wurde: die schöne neue Welt der siegreichen Revolution und des proletarischen Internationalismus. Donetsk ist eine typisch sowjetische Stadt und darin ununterscheidbar von hunderten anderer Industriezyklopen, die sich über Tausende von Kilometern vom Donbass bis zum Kuzbass und von Norilsk bis Karaganda verteilen. Ihre Wahrzeichen sind nach wie vor die riesigen Leninmonumente und die Straßen, Plätze und Fabriken, die seinen Namen tragen, und natürlich jene hässlichen, pseudo-klassizistischen Bauten, deren Architektur im Volksmund “Stalin-Repressance” genannt wird. In Donetsk sprechen die Menschen eine andere Sprache, die sie für Russisch halten, gehen in andere Kirchen (wenn überhaupt), sehen andere Fernsehprogramme und wählen andere Parteien. Sie sind “proletarisch” in dem Sinne, wie die Menschen der Westukraine “bürgerlich” sind.

Nicht minder frappierend sind die Unterschiede bei den politischen Einstellungen. Aus Meinungsumfragen geht eindeutig hervor, dass die Westukrainer vorwiegend antikommunistisch und antisowjetisch sind; sie sehen in Russland die Hauptgefahr für die Ukraine, während Amerika für sie der Hauptverbündete ist. Sie treten für das Privateigentum ein und befürworten radikale Wirtschaftsreformen, die Wiederbelebung der ukrainischen Sprache und Kultur, eine umfassende Demokratisierung und natürlich die spätere Mitgliedschaft der Ukraine in EU und NATO. In der Ostukraine favorisiert man in jeder Hinsicht das Gegenteil: den Beitritt der Ukraine zum Bündnis zwischen Russland und Weißrussland, die Wiederherstellung einer Wirtschaftsordnung nach sowjetischem Muster, größere Machtbefugnisse für den Präsidenten und die verfassungsmäßige Verankerung des Russischen als zweiter Staatssprache, was unter postkolonialen Bedingungen praktisch bedeutet (wie sich etwa in Weißrussland drastisch gezeigt hat), dass Russisch zur einzigen Amtssprache würde.

Diese Situation lässt manche Beobachter denn auch zu dem Schluss kommen, dass die West- und die Ostukraine zu unterschiedlich seien, um auf dem Boden ein und desselben Landes koexistieren zu können, und eine Zweiteilung daher unvermeidlich sei. Doch wo sollte die eine Hälfte aufhören und die andere beginnen? Die Ukraine wurde über einen Zeitraum von 300 Jahren und Region für Region russifiziert (und später dann sowjetisiert). Beide Landesteile, der “sowjetische” und der “europäische”, haben sich dabei gewissermaßen überlappt und sind miteinander verschmolzen. Die wechselseitige Durchdringung geht so weit, dass in L’viv noch viele Überbleibsel der Sowjetzeit angetroffen werden können, während umgekehrt in Donetsk durchaus “Ukrainisches” und “Europäisches” auszumachen sind. Die beiden Ukrainen koexistieren gleichsam als zwei Symbole, zwei Optionen einer zukünftigen Entwicklung: “zurück zur UdSSR” oder “Rückkehr nach Europa” (zu dem die Ukraine angeblich immer gehörte). L’viv und Donetsk können in der Tat als geographische und geopolitische Symbole der einen und der anderen Ukraine angesehen werden. Gleichwohl wäre es falsch und auch irreführend, die spezifischen ideologischen Implikationen beider Symbole auf andere Landesteile auszudehnen.

Nicht nur die zwischen “L’viv” und “Donetsk” gelegenen Regionen der Ukraine sind, mit ihrer jeweils ganz eigentümlichen Mischung aus “Ukrainischem” und “Russischem”, “Europäischem” und “Sowjetischem” in sich höchst heterogen. Auch jede Ukrainerin und jeder Ukrainer sind, was ihre ideologischen Vorlieben und Orientierungen angeht, ausgesprochen ambivalent, was zur Folge hat, dass ihre Identität oft unbestimmt und diffus ist. Auch dies ist im Hinblick auf die These von den “zwei Ukrainen” eine paradoxe Situation, die eine Zweiteilung des Landes eigentlich verhindert. In Wirklichkeit gibt es denn auch die Ukraine nicht zwei Mal, sondern deren viele mehr. Die beiden genannten symbolischen Pole sind am ausgeprägtesten, während der zwischen ihnen gelegene riesige Raum in geographischer und ideologischer Hinsicht vage und heterogen bleibt.

Man könnte diesen Raum die “dritte Ukraine” nennen: Sie ist größtenteils unsichtbar, sprachlos, unentschlossen und ideologisch ambivalent. Sie ist eher das Objekt als das Subjekt politischer Auseinandersetzungen, das Hauptschlachtfeld und die Haupttrophäe in jenem anhaltenden Streit zwischen den beiden kleineren, dafür um so lauter auftretenden Landesteilen, der “sowjetischen” und der “europäischen” Ukraine.

Postsowjetische Schizophrenie

Umfragen bestätigen, dass die ukrainische Gesellschaft keineswegs bei jedem wichtigen Thema grundsätzlich geteilter Meinung ist (mit Ausnahme vielleicht der Frage der territorialen Integrität2). Aus ihnen geht aber auch hervor, dass die beiden rivalisierenden Gruppen der Bevölkerung, die “Russophilen” und die “Ukrainophilen” (oder genauer die prosowjetisch und die proeuropäisch Gesinnten) jeweils eine Minderheit sind, denen eine amorphe Mehrheit gegenübersteht, deren Mitglieder “gleichgültig” sind, “kein Interesse haben”, “sich nicht festlegen können” oder “keine Antwort” haben (bzw. sie verweigern).

Der deutlichste Beleg für diese Ambiguität ist vielleicht die landesweite Erhebung von 1996, bei der 1200 Personen danach befragt wurden, für welche politische Richtung sie sich aussprechen. 13% der Befragten unterstützten danach die Verfechter des Kapitalismus, 20% hielten es mit den Befürwortern des Sozialismus; 25% gaben an, niemanden zu unterstützen, 22% konnten sich nicht entscheiden und – nota bene – 18% erklärten, sie würden beide Seiten unterstützen, das heißt die Verfechter von Kapitalismus und Sozialismus, nur um Konflikten aus dem Wege zu gehen.3

Auf dem Höhepunkt der Annäherung der Ukraine an die NATO im Jahre 1997 waren immerhin 38% der Befragten für einen eventuellen Beitritt des Landes zur Allianz, 21% sprachen sich entschieden dagegen aus und 42% waren weder dafür noch dagegen. Im gleichen Jahr befürworteten 14% der Befragten einen eventuellen Beitritt der osteuropäischen Nachbarstaaten der Ukraine zur NATO, 10% waren dagegen, 30% hatten keine bestimmte Antwort und 46% (!) zeigten sich an diesem Thema überhaupt nicht interessiert. Weiter glaubten 25%, dass die größte Gefahr für die Ukraine Russland sei, 23% sahen in Russland den Hauptverbündeten, alle übrigen konnten sich weder für das eine oder andere entscheiden4.

1998, ein Jahr später, sprachen sich von annähernd gleichvielen Befragten 36% für und 37% gegen die These aus, dass “auf der Stelle ein Referendum stattfinden und die Union brüderlicher Sowjetvölker wiederhergestellt werden muss” (27% waren unentschieden). Im Rahmen der gleichen Umfrage wurde allerdings den Befragten eine weitere Frage vorgelegt: “Sind Sie damit einverstanden, dass die Ukraine trotz aller Schwierigkeiten unabhängig bleiben soll?”. Darauf antworteten 61% mit Ja, 19% mit Nein und 20% gaben keine eindeutige Antwort5. Die Zahl der Personen, die die Union mit Russland wiederhergestellt sehen wollten (36%), war fast zweimal so hoch wie die Zahl jener, die sich gegen die Unabhängigkeit der Ukraine aussprachen (19%). Das bedeutet, dass nahezu die Hälfte dieser Personen der Ansicht sind, dass eine wiedererstandene Sowjetunion und die wiedererlangte Unabhängigkeit der Ukraine irgendwie koexistieren können.

Von einigen Beobachtern wurde dieses Phänomen “postsowjetische Schizophrenie” getauft6 und manch einer erging sich in selbstironischem Spott über die beunruhigende Ungreifbarkeit der Nation, “deren eine Hälfte, verschiedenen sozialwissenschaftlichen Umfragen zufolge, auf keine Frage eine eindeutige Antwort hat. Billigen Sie oder missbilligen Sie? Sind Sie dafür oder dagegen? Wollen Sie oder wollen Sie nicht? Leben Sie oder überleben Sie bloß? Existieren Sie überhaupt? Bleiben Sie unentschieden?”7. Von Sozialwissenschaftlern wird diese Verhaltensweise als “soziale Ambivalenz” bezeichnet. Sie habe damit zu tun, dass sich die Bevölkerung gegensätzlichen, unvereinbaren Ansichten und Wertvorstellungen verpflichtet fühle, was regelmäßig in Umbruchszeiten auftrete, in denen ein alter und ein neuer politischer Wertekanon und sozialer Verhaltenskodex (in Politik, Wirtschaft und sogar in der Sprache) aufeinandertreffen. Ein ambivalentes Bewusstsein versöhne in mythischer und irrationaler Form unvereinbare Wertvorstellungen und Verhaltensmodelle; es wirke wie eine Zauberformel, wenn der einzelne das “Recht zu wählen mit der Übernahme von Verantwortung erkaufen muss, seine neue Freiheit mit Ungewissheit und Chancengleichheit mit kritischer Selbsteinschätzung”8.

Gewiss spielt dieses ambivalente Bewusstsein eine positive Rolle, insofern es die Gesellschaft insgesamt, aber auch jeden einzelnen vor den Herausforderungen einer Welt im Wandel und den damit unvermeidlich verbundenen psychischen Traumata schützt. Auf die Dauer jedoch wird daraus selbst eine unerträgliche Last, eine kollektive Neurose, die sich der geschickten Manipulation durch neu auf den Plan tretende Demagogen anbietet. Stabilität wird auf diese Weise zu lähmender Stagnation, Ambivalenz zu Ambiguität. Menschen mit diffuser Identität und vagen Vorstellungen vom Wohl des Landes sind anfällig für Gehirnwäsche und werden rasch zum Opfer von Propaganda und politischer Manipulation.

Die postsowjetische Oligarchie hat ein ausgemachtes Interesse daran, den Zustand äußerster Zersplitterung, Verwirrung und Entfremdung in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Sie unternimmt alles, um eine von unten, von den Bürgern kommende demokratische Entwicklung im Lande zu unterbinden, denn das würde sie dem objektiven (und fairen) Wettbewerb politischer Konkurrenten aussetzen und am Ende den Verlust ihrer politischen Macht und ihrer machtgestützten ökonomischen Privilegien zur Folge haben.

Die postsowjetischen Machthaber standen nach Erlangung der nationalen Unabhängigkeit vor dem Problem, dass sie über keine Gründungsideologie verfügten. Keine der beiden früheren Formen von Nationalismus ist heute mehr durchsetzbar, weil beide nicht in der Lage sind, die Bevölkerung zu mobilisieren. Im Vergleich zu Russland gibt es in dieser Hinsicht keine Parallelentwicklung, denn dort kann sich jede politische Bewegung auf zwei Traditionen des Nationalismus berufen: auf den früheren imperialen (oder sowjet-imperialen) und auf den neuen russischen Nationalismus. In der Ukraine mit ihrer gespaltenen und unentschlossenen Bevölkerung ist der autochthone, ethnische Nationalismus schwach; der imperiale Nationalismus, Erbe der Sowjetära, liegt in den letzten Zügen und spielt wegen seiner Monopolisierung durch die Kommunisten kaum mehr eine Rolle. Theoretisch könnte zumindest die Möglichkeit eines ukrainischen Nationalismus in Betracht gezogen werden, der ethnische Differenzen übergreifen würde. Um aber lebensfähig zu sein, müsste diese Option in starken zivilgesellschaftlichen Institutionen und demokratischen Verfahrensformen verankert sein, deren Voraussetzung wiederum eine politische Führung wäre, die Transparenz in Politik und Wirtschaft und eine eigenständige Zivilgesellschaft fördern würde. Dies aber würde den politischen Selbstmord der korrupten und inkompetenten postsowjetischen Elite bedeuten.

Aus diesem Grund hat sich in der Ukraine eine merkwürdige Ersatzideologie breitgemacht, die sich nur negativ fassen lässt. Sie beruht auf der Annahme, dass die Dinge schlecht stehen, dass es aber noch sehr viel schlimmer sein könnte. Ist es daher nicht viel vernünftiger, so lässt die Oligarchie über ihre Medien verkünden, wenn alle den Status quo akzeptieren, statt das Boot mit unverantwortlichen Forderungen und radikalen Vorschlägen ins Schlingern zu bringen? Unsere Politiker seien korrupt? Ja schon, aber Bestechungsskandale gebe es überall. Man brauche doch nur einen Blick auf die westlichen Musterdemokratien Deutschland und USA zu werfen. Schließlich müsse man auch bedenken, dass unsere Demokratie erst zehn Jahre alt ist. Man sagt, unsere Wahlen seien eine Farce? Nun, so die Antwort, sie sind so unvollkommen wie unsere gerade erst dem Totalitarismus entsprungene Gesellschaft, nicht mehr und nicht weniger. So schlimm wie in Weißrussland oder in Usbekistan sei es bei uns allerdings nicht. Man sagt, das Leben der Menschen verschlechtere sich von Tag zu Tag? Nun ja, aber immerhin haben wir einen Krieg wie auf dem Balkan oder in Tschetschenien vermeiden können…

Dem Regime wird faktisch nicht das zugute gehalten, was es getan, sondern was es nicht getan hat. So hat es die Wahlen nicht so dreist gefälscht wie Mugabe, nicht so unverschämt viel beiseite geschafft wie Mobutu oder Marcos und nicht im gleichen Maßstab getötet wie etwa Milosevic oder Putin. Der gesellschaftliche Konsens wird offiziell zum obersten Ziel der Regierung erklärt. Er hat allerdings eine eindeutig negative Dimension: Wir tun nicht viel Schlimmes, weil wir überhaupt nicht viel tun. Ein schlechter Friede in der Ukraine ist gewiss besser als ein ordentlicher Krieg, aber die “friedensbewahrenden” Bemühungen der ukrainischen Oligarchie sind schon recht sonderbar. Deren Politik richtet sich im Grunde nicht gegen den “ordentlichen Krieg”, der in der Ukraine gegenwärtig keine Gefahr darstellt, sondern vor allem gegen einen “ordentlichen Frieden”, der für die Machthaber eine echte Bedrohung wäre. Dass ein solcher Friede eine realistische Alternative zu dem bestehenden “schlechten Frieden” darstellt, wird absichtlich verschwiegen, während der Status quo in der Propaganda gepriesen wird.

Um ihre Rolle als “Friedensbewahrer” in der Ukraine spielen zu können, muss die postsowjetische Nomenklatura die Spaltung, Desorientierung und Einschüchterung im Staat aufrechterhalten. Hätte die Ukraine keine koloniale, kommunistische Hinterlassenschaft, das Regime hätte sie erfunden, liefert sie der Nomenklatura doch die ideale Gelegenheit, die einzelnen Regionen und lokalen Identitäten gegeneinander auszuspielen. Dieses totalitäre Erbe führte zur Entstehung einer “nichtzivilen” und leicht manipulierbaren Gesellschaft. Ziel der postsowjetischen Machthaber ist es, dieses Erbe, so lange es irgend geht, zu bewahren. Die mittlerweile zehn Jahre Unabhängigkeit der Ukraine sind ein plastisches Beispiel dafür, auf welche Weisen die Konsolidierung einer entstehenden Zivilgesellschaft und Nation behindert werden kann. Wir können hier nicht näher darauf eingehen. Wie die Regierung die Nation künstlich in einem Zustand der Ambivalenz festhält, wurde durch die Parlamentswahlen im März 2002 besonders deutlich.

Exkurs: Die Wahlen 2002

Demokratische Wahlen bereiten autoritären und halb-autoritären Regimen überall auf der Welt naturgemäß erhebliche Kopfschmerzen. Die meisten bemühen sich, demokratische Prozeduren und Institutionen einfach nachzuahmen. Ist es doch allemal vorzuziehen, Mitglied im prestigeträchtigen “Klub der westlichen Demokratien” zu sein, statt international als Paria geächtet zu werden. Demokratie macht sich gut, aber sie hat ihren Preis. Doch nur wenige politische Führer der Dritten Welt sind bereit, diesen Preis auch in voller Höhe, anstandslos und termingerecht zu bezahlen. Viele drängen darauf, Ausnahmeregelungen und Konzessionen zu bekommen, die sie mit der besonderen Situation vor Ort, mit vorübergehenden Schwierigkeiten, mit der Einzigartigkeit ihrer nationalen Kultur und dergleichen mehr rechtfertigen. Manchem wird dann auch wegen seiner schieren Größe und seines Machtpotentials ein Ausnahmestatus zugebilligt, wie etwa Russland oder China; andere erhalten einen Bonus aufgrund ihrer strategischen Bedeutung. Die Ukraine hat kein Erdöl, keine Atomwaffen und spielt auch keine herausragende Rolle bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus. Die politische Führung der Ukraine hat kaum eine andere Wahl, als sich “Europa anzuschließen” (ein Wunsch, den sie seit der Unabhängigkeit ja auch unaufhörlich beteuert) oder das Schicksal von Milosevic oder bestenfalls von Lukaschenko zu teilen.

Alle Wahlen waren bislang für sie ein Sprint durch ein Minenfeld. Ein unachtsamer Schritt zu weit nach links oder rechts, und ihr ganzes politisches und wirtschaftliches Kalkül könnte zusammenbrechen. Einerseits wissen die Machthaber natürlich nur zu gut, dass, wenn die Opposition Macht gewinnt, während die eigene Popularität gegen Null sinkt, sie die Wahlen allein mit einem breitangelegten, systematischen und sorgfältig orchestrierten Betrug gewinnen können. Andererseits ist ihnen aber auch klar, dass Rechtsbrüche, zumal wenn sie zu rücksichtslos, zu offensichtlich und zu zynisch begangen werden, harsche internationale Sanktionen nach sich ziehen können. Angesichts dessen müssen sie die Wahlfälschung auf eine Art und Weise betreiben, die keinen Anstoß erregt, damit der Wahlsieg auf der nationalen Ebene gesichert wird, ohne auf internationaler Ebene eine diplomatische Niederlage zu erleiden. Bislang hat die Nomenklatura, die in der Ukraine am Ruder ist, das trickreiche Spiel der demokratischen Wahlen mit mehr oder weniger Erfolg praktizieren können, auch wenn der Erfolg von Mal zu Mal nachließ.

Seit der Erlangung der Unabhängigkeit hat sie sich den Wählern als das geringere Übel angepriesen. In der Westukraine empfahl sie sich als der natürliche Bündnispartner der Nationaldemokraten gegen die “rote Gefahr”, während sie im Osten des Landes als bessere Alternative zu den verrückten “Nationalisten aus dem Westen” auftrat. Ihre Stammwähler hat sie allerdings traditionell in der Zentralukraine, wo die meisten Menschen die “Partei der bestehenden Ordnung” unterstützten, weil sie in ihr, wie oben dargestellt, den Garanten des Friedens sehen. Obwohl sie im Parlament über keine klare Mehrheit verfügt, ist es der postsowjetischen Nomenklatura gelungen, sowohl die Kommunisten wie auch die Nationaldemokraten in Schach zu halten, indem sie beide gegeneinander ausspielte und notfalls auch damit erpresste, dass sie eine Koalition mit der jeweils anderen Fraktion bilden würde. Mochten Kommunisten und Nationaldemokraten die Oligarchie noch so sehr verabscheuen, ihr Hass aufeinander war ungleich größer, was regelmäßig dazu führte, dass sie sich den Erpressungen der Regierung fügten und nolens volens das Spiel des kleineren Übels mitspielten.

So gewann Leonid Kutschma 1994 mit Unterstützung der Kommunisten die Präsidentschaftswahlen gegen den angeblich nationalistischen Amtsinhaber Leonid Krawtschuk. 1999 behielt er in gleicher Manier die Oberhand über seinen kommunistischen Rivalen, diesmal mit Hilfe der Nationaldemokraten. Die Kommunisten hatten 1994 kaum Sympathie für Kutschma, ebensowenig die Nationaldemokraten fünf Jahre später, als Kutschmas Popularität auf unter 10% gefallen war. Auch 2000/2001, während der Gongadse-Affäre, als der unpopulär gewordene Kutschma einer Amtsenthebung knapp entging, weil weder die Kommunisten noch die Nationaldemokraten genug Entschlossenheit aufbrachten, ihn zu entmachten, wurde mit Erfolg das gleiche Spiel mit dem kleineren Übel gespielt: Jede Seite hatte vor allem die Sorge, eine Amtsenthebung Kutschmas würde der Gegenseite nützen.

2002 allerdings war dieses Spiel zunehmend problematisch geworden. Zum einen hatte die Kommunistische Partei, teils aufgrund des Schrumpfens ihres älteren Wählerstamms, teils wegen ihrer undurchsichtigen Zusammenarbeit mit dem unbeliebten Regime Kutschmas, erheblich an Popularität eingebüßt. Zum anderen konnte sich zum ersten Mal seit 1991 unter Führung des populären früheren Ministerpräsidenten Viktor Juschtschenko eine breitere nationaldemokratische Basis herausbilden. Und zum dritten wurde durch das 1997 verabschiedete und 2001 novellierte Wahlgesetz festgelegt, dass die Hälfte der 450 Abgeordneten des ukrainischen Parlaments nach dem Verhältniswahlrecht und die andere Hälfte direkt nach dem Mehrheitsprinzip zu bestimmen ist. Dies bedeutete, dass die Behörden zwar in den Mehrheitswahlbezirken in erheblichem Umfang Wahlbetrug praktizieren konnten, in den Verhältniswahlbezirken dagegen vor unüberwindlichen Schwierigkeiten standen, die Ergebnisse im Sinne des Regimes zu manipulieren. Und um die Dinge schließlich noch weiter zu komplizieren, verlor die Ukraine nach dem 11. September und der Annäherung Russlands an den Westen für die USA weitgehend ihren Status als geopolitische Trumpfkarte.

Kutschma war entschlossen, die Schlacht um jeden Preis für sich zu entscheiden. Viele Beobachter glauben, dass die letzten Parlamentswahlen lediglich das Vorspiel zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2004 sind, bei denen des Problem der Nachfolge Kutschmas eine Lösung finden muss. Der Druck der Regierung auf die politische Opposition, deren Unterstützer und Sympathisanten sowie auf die Mitglieder der Wahlausschüsse war enorm, zumal in bestimmten Regionen, in Kleinstädten und Dörfern. Zahlreiche Wähler wurden von Regierungsfunktionären unter Druck gesetzt und eingeschüchtert oder sogar von Unbekannten belästigt oder zusammengeschlagen. Am Wahltag zogen in aller Öffentlichkeit paramilitärische Gruppen von Wahllokal zu Wahllokal und attackierten vor den Augen der Polizei Mitglieder und Sympathisanten der Opposition9. Wahlkampfbüros der Opposition wurden demoliert, Stelltafeln mit Wahlplakaten zerstört, Wahlzeitungen konfisziert. Die Behörden behinderten, wo sie nur konnten, die Wahlkampfveranstaltungen von Kandidaten der Opposition, zumal von Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko10.

Einmal mehr war die Ambivalenz der Ukraine die entscheidende Trumpfkarte der Regierung. Angesichts ihrer geringen Erfolgsaussichten in der West- und Zentralukraine unternahmen Kutschma und seine Anhänger eine letzte Anstrengung im stärker sowjetisierten und russischsprachigen Donbass und in anderen Oblasten (Verwaltungsbezirken) der Ostukraine. Ein kanadischer Wahlbeobachter bemerkte dazu treffend: “Sie griffen auf die traditionellen Methoden der Mobilisierung der Menschen aus der Ostukraine zurück, indem sie ihre politischen Gegner als ðNationalistenÐ beschimpften” 11. Bis heute hat der Begriff “bürgerlicher Nationalist” in der Ukraine eine negative Konnotation. In der Sowjetzeit bildete er einen Tatbestand, für den eine fünf- bis fünfzehnjährige Strafe verhängt werden konnte. “Die bürgerlichen Nationalisten sind die ärgsten Feinde des ukrainischen Volkes” (und der gesamten Menschheit, gleichauf mit den “amerikanischen Imperialisten” und den “Zionisten”), hieß es damals. Es entbehrte also nicht der Ironie, dass sich die Partei des Präsidenten “Für eine einige Ukraine” nannte, aber auf die Spaltung des Landes setzte, indem sie die “Ostler” gegen die “Westler” ausspielte und sich bedenkenlos auf die propagandistische Unterstützung durch russische Politiker und Medien stützte. Wie schon bei der Präsidentschaftskampagne von 1994 wurden Greuelgeschichten in Umlauf gebracht, nach denen im Falle eines Wahlsiegs von Juschtschenkos Partei “Unsere Ukraine” die Grenze nach Russland sofort geschlossen, Visa eingeführt, Gas- und Öllieferungen gestoppt, Unternehmen infolgedessen geschlossen und alle Menschen zwangsukrainisiert würden.

Weder Juschtschenko noch Timoschenko wurde die Möglichkeit eingeräumt, sich in den einschlägigen Medien gegen die übelsten Anwürfe zu verteidigen (zum Beispiel, Juschtschenko unterstütze die Faschisten in der West-Ukraine, sein Vater sei ein Kollaborateur der Nazis gewesen, seine Frau, eine ehemalige amerikanische Staatsbürgerin, sei CIA-Agentin). Sozialwissenschaftler haben geschätzt, dass die Partei “Unsere Ukraine” durch diese Propaganda etwa 5 bis 6% der Stimmen eingebüßt habe.

Trotz dieser Manöver kam Juschtschenkos “Unsere Ukraine” mit 23% der Stimmen landesweit auf Platz eins. Die Kommunisten kamen zum ersten Mal nach zehn Jahren mit 20% nur auf Platz zwei, während die Partei des Präsidenten “Für eine einige Ukraine” trotz enormer Ausgaben für die Wahlkampagne, hoher Medienpräsenz und unverhohlener “administrativer Hilfe” nur anfechtbare 12% erreichte. Eine zweite, den Präsidenten stützende Gruppierung, die Sozialdemokratische Partei der Ukraine (Vereinigt), die im Grunde eine Partei der einflussreichen Oligarchen aus dem Energie- und Mediensektor ist, kam nur auf 6%, während eine weitere Oligarchengruppierung, die sich für den Amtsinhaber stark machte, an der Vier-Prozent-Hürde scheiterte. Die beiden radikalsten politischen Widersacher von Kutschmas Regime, die Sozialistische Partei der Ukraine und Julia Timoschenkos Koalition, kamen jeweils auf 7%, obwohl sie von den Medien links liegengelassen wurden und in ihrem Wahlkampf Opfer massiver Behinderung waren.

Tatsächlich können die Wahlergebnisse als Triumph einer entstehenden Demokratiebewegung in der Ukraine gelten oder zumindest als ein klares Indiz dafür, dass die ukrainische Gesellschaft politisch reifer geworden ist und damit weniger anfällig für die manipulativen Machenschaften und die Propaganda des Regimes. Allerdings gibt der Ausgang der Wahlen in den dem Mehrheitswahlrecht unterliegenden Wahlkreisen weitaus weniger Grund zu Optimismus. Dort hat sich gezeigt, dass gegen die berüchtigten “administrativen Ressourcen” (das heißt alle möglichen Formen gesetzeswidrigen administrativen Drucks auf die kandidierenden Parteien) kein Ankommen war. Sie verhalfen der Partei “Für eine einige Ukraine” zu einem signifikanten Sieg. Die auf den Präsidenten eingeschworenen politischen Kräfte, darunter auch die sogenannten “Unabhängigen”, die sich fast einstimmig der “Für eine einige Ukraine”-Fraktion anschlossen, sicherten ihm erneut eine relative Mehrheit im Parlament und damit eine Position, von der aus er auch in Zukunft sowohl die Kommunisten wie die Nationaldemokraten unter Druck setzen und gegeneinander ausspielen kann.

Leonid Kutschma ist ein gewiefter Politiker. Er hatte sein Veto gegen das neue Wahlrecht eingelegt, demzufolge in der Ukraine das Verhältniswahlrecht eingeführt worden wäre. Daher wurde, als eine Art Kompromiss zwischen Regierung und Opposition, vom Parlament ein gemischtes Wahlrecht beschlossen, wonach die Hälfte der 450 Parlamentssitze über Parteienlisten bestimmt werden, während die restlichen Sitze durch Direktmandate besetzt werden. Man kann sich an den fünf Fingern abzählen, dass die Parteien der Opposition, hätte es das Verhältniswahlrecht gegeben, im Parlament eine antioligarchische Mehrheit auch ohne die Kommunisten zusammengebracht hätten. Wäre allerdings das Mehrheitswahlrecht als solches beibehalten worden, dann hätte “Für eine einige Ukraine” mit ihren Verbündeten im Parlament nicht nur die einfache, sondern vermutlich sogar die qualifizierte Mehrheit gehabt, mit der sie die Verfassung hätte ändern und einem Staatspräsidenten Kutschma, dessen zweite (und letzte) Amtszeit im Jahr 2004 ausläuft, erweiterte Machtbefugnisse hätte einräumen, vielleicht sogar ein “Referendum” an die Stelle von Wahlen hätte setzen können, wie es etwa in Zentralasien gang und gäbe ist.

Erpressung und Widerstand

Mag es auch noch so phantastisch erscheinen, die zwei Ukrainen sind eine Realität. In der Westukraine erhalten im Vergleich zur Ostukraine die demokratischen Parteien und deren Kandidaten sowohl national als auch lokal gesehen die stärkere Unterstützung. Unabhängig vom jeweils geltenden Wahlsystem würden sich die Wähler im Westen des Landes ohnehin immer für die mehr oder weniger gleiche Zusammensetzung des Parlaments aussprechen. Im Süden und Osten der Ukraine dagegen würden die Wähler, gleich ob nach Verhältnis- oder nach Mehrheitswahlrecht, eher die Kutschma-Liste oder die Kommunisten zum Zuge kommen lassen. Auch hier würde also unabhängig vom jeweiligen Wahlrecht die Zusammensetzung des Parlaments mehr oder weniger gleichbleiben. Einmal mehr ist es also die “dritte” Ukraine, die das eigentliche Problem darstellt, da sie auf der nationalen Parteienliste eher die demokratischen Kandidaten unterstützt, sich in den Wahlkreisen mit Einzelmandat aber lieber an die “administrativen Ressourcen” hält.

Der Widerstand gewinnt zusehends an Gewicht. Es gibt viele Anzeichen dafür, dass sich das herrschende Regime, da es in der Zentralukraine mehr und mehr an Einfluss einbüßt, nach Osten orientiert, um seine Machtbasis zu wahren, also in jene überwiegend sowjetisch geprägten, traditionell kommunistisch ausgerichteten Regionen. Diese Verlagerung könnte letztlich die Marginalisierung und das Ende des semi-autoritären Regierungssystems in der Ukraine bedeuten, aber auch umgekehrt auf eine brutale Restauration des Totalitarismus hinauslaufen.

“Eine Region”, so die Warnung eines ukrainischen Journalisten in einem Artikel über die Lage in Donetsk, “mit starker Kapitalkonzentration, aber ohne jegliches demokratische Umfeld stellt für einen Staat, der mittlerweile gelernt hat, zivile Umgangsformen zumindest zu imitieren, und der wenigstens formal die Notwendigkeit gewisser demokratischer Werte anzuerkennen vorgibt, ein gefährliches Problem dar. In Donetsk allerdings geben sich die Amtsträger nicht einmal den Anschein, dass sie sich an Formen halten. Diese Leute sind das Hauptbollwerk eines Präsidenten im Niedergang, seine auf lange Sicht noch verlässlichsten Bündnispartner. Die Wahlergebnisse nach dem Verhältniswahlrecht (Parteienliste) verdeutlichen die reale Schwäche des Regimes, während an den Wahlen der Einzelkandidaten nach dem Mehrheitswahlrecht abzulesen ist, wie weit das Regime im Kampf ums eigene Überleben zu gehen bereit ist – vom Einsatz brachialer Gewalt über Bestechung und Einschüchterung bis zum Wahlbetrug. Aber auch in dieser Hinsicht ist Donetsk eher ein Ausnahmefall. Die ðWerteÐ des Totalitarismus, die in dieser Region in ihrer praktischen und nicht nur ihrer historischen Form mit Bedacht als die Grundlage des dortigen way of life konserviert werden, könnten für uns alle bestimmend werden. Wenn dies nicht als Gefahr erkannt wird, sowohl von den anderen politischen Kräften und Gruppen als auch von jedem einzelnen, so könnte dieses Szenario schon bald Wirklichkeit werden.”12

Nur in der Donetsk-Region hat “Für eine einige Ukraine” gegenüber den anderen Parteien bei der Mehrheitswahl mit einem Spitzenergebnis abgeschnitten. “Unsere Ukraine” gewann in vierzehn Regionen (Mittel- und Westukraine), die Kommunistische Partei in neun Regionen (im Süden und Osten des Landes) und die Sozialistische Partei in einer Region (Poltawa)13. Ihre besten Ergebnisse erzielte “Für eine einige Ukraine” in Gefängnissen, Krankenhäusern und Militäreinrichtungen, wo die Wähler praktisch zu hundert Prozent die Koalition der für den Präsidenten antretenden Gruppierungen unterstützt haben. Den Regierenden ist vermutlich alles daran gelegen, dieses mustergültige Abstimmungsverhalten in der gesamten Ukraine durchzusetzen.

Dass ein solches Szenario keinesfalls an den Haaren herbeigezogen ist, lehren die Präsidentschaftswahlen von 1999. Dasselbe gilt für die angeblichen Telefonate Präsident Kutschmas mit seinen Helfern, die von seinem früheren Leibwächter Mykola Melnischenko an die Öffentlichkeit gebracht wurden. Wenige Beispiele reichen, um zu begreifen, mit welchen Mitteln Wahlerfolge erzielt und wie die berüchtigten “administrativen Ressourcen” eingesetzt werden.

Kutschma (am Telefon zu Innenminister Jurij Krawschenko): “Asarov [Chef der Obersten Finanzbehörde] ist bei mir. Die Sache funktioniert folgendermaßen. Die haben Unterlagen über praktisch jeden Genossenschaftsvorsitzenden. So was muss in jedem Rayon gesammelt werden, damit jeder Polizeichef und jeder Finanzamtsleiter … Und sagen Sie denen: Leute, wenn Ihr nicht die … Anzahl [an Stimmen], sagen Sie es so, zusammenbekommt, die nötig sind, dann werdet Ihr morgen alle dort sein, wo Ihr hingehört …”

Aus einem anderen Gespräch, diesmal mit Leonid Derkatsch, dem Chef des SBU, der Nachfolgeorganisation des KGB:

“Die Miliz muss ordentliche Arbeit abliefern … Es ist wichtig, dass sich Finanzbeamte in jedem Dorf den Genossenschaftsvorsitzenden vorknöpfen und ihm erklären: Freundchen, Du weißt ja wohl, dass wir über Dich so viel Material haben, dass Du morgen ins Kittchen wanderst … Vermutlich liegt über jeden Genossenschaftsvorsitzenden mehr als genug Material vor. Ja oder Nein? Vermutlich ja. Darum muss die Miliz … das heißt, die Dienste …, sie alle müssen, heißt das, die Aufgabe übernehmen und mit jedem der Genossenschaftsvorsitzenden ein ernstes Wort reden.”14

Keith Darden, ein amerikanischer Forscher, der das Projekt über die Melnischenko-Bänder mitbetreut15, ist der Meinung, dass das in der Ukraine wie in vielen anderen postsowjetischen Staaten etablierte System als “Erpresserstaat” definiert werden kann.

“Erpressung”, so seine Erläuterung, “wie sie als Mittel zur Errichtung staatlicher Kontrolle und zur Schaffung von Willfährigkeit eingesetzt wird, beruht auf drei grundlegenden Prinzipien. Erstens auf der Duldung der Korruption durch die Staatsorgane. In der Ukraine werden Korruption und gesetzwidriges Verhalten der Elite durch die politische Führung hingenommen, stillschweigend gebilligt oder sogar gefördert. Das mündet in allgemeine Straflosigkeit. Das zweite Moment ist eine umfassende staatliche Überwachung. Auch wenn einerseits zu gesetzwidrigem Handeln geradezu aufgefordert wird, so kontrolliert und sammelt doch andererseits der Staat (bzw. die Überwachungsorgane in der Hand des Präsidenten) nach wie vor Material über derartige Gesetzesverstöße. Dank dieser Überwachungstätigkeit häuft der Staat Unmengen von Akten und Strafsachen an, die die Rechtsbrüche von Amtsinhabern wie von Privatpersonen belegen. Immer dann, wenn Konformität mit den Direktiven des Staates gefordert ist, wird dieses Material zu Erpressungszwecken eingesetzt, wobei die Zahlung nicht in Geld, sondern in politischer Willfährigkeit eingefordert wird.”16

Darden ist der Ansicht, dass “diese Art von Korruption, wenn sie erst einmal etabliert ist, besonders schwer zu bekämpfen ist, weil diejenigen, die auf diesen Mechanismus einwirken könnten, eben den größten Nutzen aus ihm ziehen. Der Präsident und sein Clan erweitern dadurch ihre Macht, die Oligarchen mehren damit ihren Reichtum, die Presse wird kontrolliert und die Masse der Bevölkerung wird eingeschüchtert, fragmentiert und unterdrückt. Auf diese Weise bleiben die informellen Mechanismen staatlicher Kontrolle unangetastet, und es ist unwahrscheinlich, dass mit diesen Praktiken aufgeräumt wird, solange sie ein zentrales Herrschaftsinstrument bleiben17.”

Das ist scharf beobachtet, übersieht aber bestimmte Phänomene, die die Wirklichkeit in der Ukraine noch verwirrender erscheinen lassen. So treffend Dardens Darstellung der einen Ukraine ist, die andere Ukraine bleibt bei ihm eher im Hintergrund. Natürlich wird die Presse kontrolliert, aber die Kontrolle ist nicht durchgängig; die Bevölkerung wird eingeschüchtert und fragmentiert, dennoch vermag sie Widerstand zu leisten; zwar sind die Oligarchen geldgierig und egoistisch, aber sie sind alles andere als eine homogene Gruppe, und es finden sich immer mehr “Dissidenten” unter ihnen, die ins Lager der Opposition überlaufen. Und schließlich gibt es in der Ukraine einen weiteren Akteur, den man als “internationale Zivilgesellschaft” und “internationale öffentliche Meinung” umschreiben könnte. Internationale staatliche und nichtstaatliche Organisationen bemühen sich, Politik und Wirtschaft der Ukraine zu größerer Transparenz anzuhalten und zugleich autoritären Tendenzen entgegenzuwirken. Keiner dieser Faktoren kann freilich für sich genommen einen radikalen Wandel bewirken, aber gemeinsam können sie durchaus die dringend erforderliche Transformation des kryptosowjetischen Herrschaftssystems in der Ukraine einleiten.

Die Parlamentswahlen vom Frühjahr diesen Jahres haben die alles durchdringende Ambivalenz der ukrainischen Gesellschaft und deren pervertierende Auswirkungen auf die politische Entwicklung des Landes erneut unter Beweis gestellt. Obwohl die demokratischen Kräfte auf der nationalen Ebene einen eindrucksvollen Sieg errungen haben, mussten sie in den nach dem Mehrheitswahlrecht verfahrenden Wahlkreisen eine nicht minder signifikante Niederlage hinnehmen. Die herrschende Elite hat einmal mehr ihr Talent gezeigt, aus der Ambivalenzstruktur des Landes Nutzen zu ziehen, indem sie nicht nur den Osten gegen den Westen ausspielte, sondern auch die Bedürfnisse der Bevölkerung gegen das nationale Interesse. Viktor Juschtschenko und sein Parteienbündnis “Unsere Ukraine” stellen eine ernste Bedrohung für das stagnierende postsowjetische Regime dar. Bis zu den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2004 wird er sich wohl auch weiterhin im Visier der präsidententreuen Kräfte befinden. Die Strategie ist klar: Er soll als übergreifende nationale Führungsfigur in Misskredit gebracht werden, indem man ihn als engstirnigen Nationalisten darstellt und seine politische Botschaft denunziert, mit der er die Menschen nicht nur in der Westukraine erreicht hat: seinen Appell für eine integere Politik, eine transparente Wirtschaft, für den Rechtsstaat und christliche Wertvorstellungen. Man wird sehen, welche Strategie Viktor Juschtschenko und seine Berater entwickeln werden und welche Chance sie hat, wenn man bedenkt, dass ihm das Regime nur einen begrenzten Zugang zu den Medien einräumt. Vor allem aber wird es darauf ankommen, in welchem Maße die ukrainischen Wähler sich dem Druck der Regierung widersetzen.

"Two Ukraines?", in: East European Reporter, Bd. 5, Nr. 4 (1992).

Eine frühere Umfrage zeigte, dass in L'viv nur 1% und in Donetsk 5% der Befragten dem Satz zustimmten, dass es der Ukraine mit einer Teilung in zwei Länder besser erginge. Vgl. Yaroslav Hrytsak, "Shifting Identities in Western and Eastern Ukraine", in: New School for Social Research. The East and Central Europe Program. Bulletin, Bd. 5/3, Nr. 18, Februar 1995, S. 7. Diese Befunde werden in der jüngsten Umfrage indirekt bestätigt: In L'viv antworteten 58% und in Donetsk 47% der jüngeren Befragten bejahend auf die Frage, ob sie einverstanden seien, notfalls ihr Land mit der Waffe zu verteidigen. (Im landesweiten Durchschnitt ergab die Umfrage 51% Zustimmung und 16% Ablehnung, 33% der Befragten waren unentschieden.) Vgl. Dzerkalo tyzhnia, 23. September 2001, S. 18.

Yevgeniy Golovakha, "Gesellschaft im Übergang", Institut für Soziologie, 1996, S. 102 (ukrainisch). Zwei Jahre zuvor hatten bei einer anderen Umfrage 20% der Befragten der These zugestimmt, dass der Sozialismus das für die Ukraine am ehesten angebrachte Wirtschaftssystem sei, 18% zogen den Kapitalismus vor, 20% waren unentschieden, während 42% beide System ablehnten und empfahlen, die Ukraine solle ihren eigenen Weg gehen. Eine Reihe von Umfragen aus den Jahren 2000-2001 hat ergeben, dass etwa 14-17% der Befragten sich für die kommunistische Ideologie aussprechen, 11-19% die prowestlichen Nationaldemokraten unterstützen, während einige kleinere Bevölkerungsgruppen andere politische und ideologische Richtungen befürworten; annähernd 40% der Befragten waren indifferent. Vgl. Den, 24. Juli 2001, S. 1.

"Ein politisches Porträt der Ukraine", Nr. 18 (Kyiv, Democratic Initiatives Center, 1997, ukrainisch), S. 111-118.

Den, 16. Juli 1998, S. 1.

The Economist, 4. Februar 1995, S. 27.

Yuriy Andrukhovych, Krytyka, Bd. 6/6 (Juni 2002), S. 2.

Yevhen Holovakha, "Besonderheiten des politischen Bewussteins. Soziale und individuelle Ambivalenz", in: Politolohichni chytannia, Nr. 1 (1992), S. 24-39.

Vgl. z.B. Jevhen Stach, "Ein Tag im Leben der freien Ukraine", in: Ukrayinska pravda, 10. April 2002, www.pravda.com.ua.

Die ausführlichste und ausgewogenste Darstellung der Wahlfälschungen findet sich auf der Web-Site des Komitees Ukrainischer Wähler, einer der wenigen wichtigen NGOs im Lande, die dank der finanziellen und technischen Unterstützung durch TACIS sowie weiterer internationaler Organisationen den Wahlkampf in fast allen Regionen beobachten konnten. Vgl.www.hq.org.ua.htm

Taras Kuzio, "ðAntinationalistÐ Campaign to Discredit Our Ukraine", in:RFE/RL Poland, Belarus, and Ukraine Report, Bd. 4, Nr. 14 (9. April 2002).

Tatjana Korobowa, "Land der zunehmenden Stagnation?", in: Grani, Nr. 13, 2002 (ukrainisch),www.grani.kiev.ua.htm

Eine Landkarte der Ukraine, auf der die Wahlergebnisse der einzelnen Regionen gut wiedergegeben werden, findet sich unter www.hq.org.ua/electionresults/2423.htm Vgl. auch Dzerkalo tyzhnia, 6.-13. April 2002, www.zn.kiev.ua/nn/show/388/34402.htm

"New Tape Translation of Kuchma Allegedly Ordering Falsification of Presidential Election Returns", in: KPNews, 14. Februar 2001.

Keith A. Darden, "Blackmail as a Tool of State Domination: Ukraine Under Kuchma", in: East European Constitutional Review, Bd. 10, Nr. 2-3 (Frühjahr-Sommer 2001); www.law.nyu.edu/eecr/vol10num2_3/focus/darden.html

Ebd.

Published 16 September 2002
Original in English
Translated by Rolf Schubert

Contributed by Transit © Mykola Riabchuk / Transit / Eurozine

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