“Non au gender, non à l’enfant cobaye!”; “Avec quel genre de théorie voulez-vous rééduquer nos enfants?”; “Franois tu n’es pas un gender idéal!”. Derartige Parolen waren auf den Demonstrationen zu hören, die von GegnerInnen der am 17. Mai 2013 beschlossenen Homosexuellenehe (“mariage pour tous”) sowie der jüngeren schulpolitischen Initiativen zur Gleichstellung der Geschlechter seit 2012 zahlreich und medienwirksam veranstaltet wurden. Im Umfeld der sogenannten “anti-mariage pour tous” wurde die Wendung “théorie du genre” geprägt, die unmittelbar auf großes Medienecho gestoßen ist: Die Gesellschaft und insbesondere die Kinder würden wie Versuchskaninchen von einer sogenannten “Geschlechter-Theorie” indoktriniert. Von heute auf morgen wurde ein akademischer Begriff in den medialen und tagespolitischen Raum katapultiert. Was ist da passiert?
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An embrace in front of protesters against same-sex marriage, Strasbourg, 4 May 2013. Photo: Claude Truong-Ngoc. Source:Wikimedia
Um die große öffentliche Aufregung um die “théorie du genre” zu verstehen, scheint es sinnvoll, sowohl einen Blick auf den aktuellen politischen Kontext zu werfen als auch die Debatte um das wissenschaftliche Konzept Geschlecht in Erinnerung zu rufen. Nach anfänglichen Spannungen hat die Kategorie Geschlecht in Frankreich Eingang in das akademische Feld gefunden, wo sie aktuell auf keine wesentlichen Widerstände mehr stößt. Doch seit kurzem erregt die wissenschaftliche Kategorie erneut Aufsehen, diesmal aber im politischen Feld, und zwar auf Initiative konservativer Gruppen aus dem katholischen und nationalistischen Lager, deren Feldzug gegen die “théorie du genre” eine Reihe von Frustrationen und politischen Spannungen in Frankreich artikuliert.
1. “Genre” oder “gender”?
In den 1990er Jahren war die Kategorie Geschlecht im französischen akademischen Feld kontrovers diskutiert worden. Gegenstand der Debatte waren dabei epistemologische Fragen, aber auch Unterschiede zwischen den politischen Kulturen in den USA und in Frankreich. Eric Fassin hat eine überzeugende Lesart dieser Auseinandersetzung vorgeschlagen, in der sich, wie ich es formuliert habe, “Gefühle der Faszination/der Abwehr” dies- und jenseits des Atlantiks vermischten: Während im anglophonen Raum der French Feminism als grundlegender Beitrag zur Theoriebildung verstanden wurde, bemühte man sich in Frankreich leidenschaftlich darum, den féminisme à l’américaine auf Distanz zu halten, von dem man annahm, er sei von einem vorgeblichen ‘Krieg der Geschlechter’ und einem kommunitaristischen Gesellschaftsmodell gekennzeichnet. Dies ging so weit, dass die Übersetzung von “gender” ins französische “genre” im akademischen Feld mit Skepsis betrachtet oder gar abgelehnt wurde. Schon zu diesem Zeitpunkt wurde deutlich, dass der Ansatz nicht nur wissenschaftliche, sondern auch politische und identitäre Fragen aufwarf. Die Auseinandersetzung verlief einerseits auf terminologischer Ebene: Sollte an der französischen Formulierung “rapports sociaux des sexes” (soziale Geschlechterbeziehungen) und “études féministes” (feministische Forschung) festgehalten oder sollte “gender” beziehungsweise “genre” übernommen werden? Andererseits wurde gegen das jenseits des Atlantiks vertretene Bestreben, die Geschlechterkategorien selbst zu dekonstruieren, ein “féminisme à la franaise”, der von einer Komplementarität der Geschlechter ausging, ins Feld geführt. Diese Debatten waren im akademischen Raum über Jahre hinweg allgegenwärtig. Heute sind sie nahezu versiegt, und die Verwendung von “genre” ist im Wesentlichen selbstverständlich geworden.
2. Geschlecht als politisches Instrument
Seit 2010 haben konservative politische Gruppen nun begonnen, lautstark gegen eine vorgebliche “théorie du genre” anzutreten. Von wissenschaftlicher, philosophischer oder epistemologischer Auseinandersetzung ist keine Spur mehr. Vielmehr handelt es sich um eine grobe politische Instrumentalisierung der Debatte seitens religiöser Gruppierungen, politischer Parteien und Bewegungen oder einfach durch PolitikerInnen, die nach medialer Aufmerksamkeit streben. Im akademischen Feld besteht die einhellige Auffassung, dass es keinerlei derartige “théorie du genre” gebe. Wohl aber gibt es weltweit an Universitäten und Forschungseinrichtungen den Bereich der “études de genre”, in denen zahlreiche WissenschaftlerInnen seit mehr als 30 Jahren tätig sind. Wie jedes andere Forschungsfeld auch sind die “études de genre” von internen Spannungen und epistemologischen Kontroversen geprägt. Nichts Außergewöhnliches also. Bis im Jahr 2011 erste Zeichen einer politischen Instrumentalisierung des Begriffs zu beobachten waren.
In diesem Jahr sandten 80 Abgeordnete der Regierungspartei UMP einen Brief an den Bildungsminister. Sie beanstandeten darin, dass im Unterrichtsfach “Sciences de la vie et de la terre” (Biologie) neuerdings ein Lehrbuch mit Verweisen auf die “théorie du genre” verwendet werde. Diese “Theorie” sei eine “philosophische und soziologische”, sie sei aber “keine wissenschaftliche”: Bemerkenswert ist hier, wie Philosophie und Soziologie aus der Wissenschaft ausgeschlossen werden. Die Präsidentin der ChristdemokratInnen, Christine Boutin, die bereits gegen den PACS (“Pacte civil de solidarité”), die eingetragene Lebensgemeinschaft unabhängig vom Geschlecht der PartnerInnen, aufgetreten war, kann als eine der prominenten Figuren dieses Zusammenschlusses der “anti-théorie du genre” gelten, als eine Art inoffizielle Sprecherin des Vatikans, welcher schon seit Jahren gegen die “théorie du genre” Stellung bezieht. Als gute Katholikin behauptete Christine Boutin, dass die Schulbücher eine “doctrine du gender” vermitteln würden – und damit wurde aus einer Theorie nun plötzlich eine Doktrin. Dazu meinte Joan Scott in einem Interview mit der Zeitschrift “Vacarme”: “die ‘théorie du genre’ ist eine Erfindung, die im Vokabular des Vatikans das Wort Kommunismus ersetzt hat.” Interessant ist zudem, dass sich Christine Boutin und andere standhaft geweigert haben und weigern, das französische Wort “genre” zu benutzen und auf dem englischen “gender” beharren, womit sie sich indirekt auf die oben skizzierten wissenschaftlichen Debatten beziehen: “Gender” sei nichts Französisches, es komme aus den USA, dem Land des Kommunitarismus und des Geschlechterkrieges.
Sieht man sich die Biologielehrbücher nun genauer an, muss man feststellen, dass sie hinsichtlich der Verwendung von Geschlecht recht moderat ausfallen. Das Hauptaugenmerk liegt auf biologischen, genetischen und hormonalen Erklärungen der Ausbildung des weiblichen und männlichen Geschlechts beim Menschen, wohingegen dem sozialen und kulturellen Einfluss auf die Entstehung geschlechterspezifischer Rollen wenig Raum gewidmet wird. Diese Gewichtung führt auch zu Widersprüchen innerhalb der Lehrbücher, was eine Zusammenarbeit verschiedener SpezialistInnen der “études de genre” wohl hätte vermeiden können.
2012 wurde Franois Hollande zum Präsidenten Frankreichs gewählt und zu seinem Wahlprogramm gehörte auch die “mariage pour tous”, das heißt die Ehe gleichgeschlechtlicher PartnerInnen. Dies nahmen die politische Rechte sowie jene religiösen Gruppierungen, die bereits gegen die Biologielehrbücher zu Felde gezogen waren, zum Anlass, erneut mobil zu machen und ihre Koalition auszuweiten. Sie stellten nun eine explizite Verbindung zwischen der “théorie du genre” und der Homosexuellenehe her. Als der Gesetzesentwurf dem Parlament präsentiert wurde, brachte die Opposition mehr als 5.000 Änderungsanträge ein, um den Gesetzgebungsprozess zu behindern. Gleichzeitig zog die Regierung unter dem Druck der großen Demonstrationen, die seit dem 17. Dezember 2012 in mehreren französischen Städten veranstaltet wurden, ein weiteres Wahlversprechen zurück, nämlich jenes, die künstliche Befruchtung für lesbische Paare zu legalisieren.
Die GegnerInnen der Homosexuellenehe, die sich nunmehr als “Manif pour tous” (“Demo für alle”) bezeichneten, versammelten in ihren Demonstrationen sehr unterschiedliche Gruppierungen: der Tradition verbundene KatholikInnen, DirektorInnen von (meist konfessionellen) Privatschulen, VertreterInnen der rechtsextremen Partei Front national, Mitglieder der UMP, ehemalige Minister der Regierung Nicolas Sarkozy wie Laurent Wauquiez, eine ehemals stark medial präsente Figur wie die Komikerin Frigide Barjot, die auf diese Weise wieder ins Rampenlicht gelangen wollte, homosexuelle EhegegnerInnen, fundamentalistische KatholikInnen der Civitas, Mitglieder des MPF, des UDI, des Bloc identitaire und so weiter. Trotz ihrer großen Heterogenität sind dieser Bewegung ein spezifisches Weltbild sowie eine Vorstellung von Frankreichs Rolle in der Welt gemein: konservative Familien- und Wertvorstellungen und, besonders was den Bloc identitaire betrifft, auch eine rassistische Ideologie. Es wäre leichtsinnig, die Bedeutung dieser politischen Koalition einfach vom Tisch zu wischen und zu sagen, sie habe eben nichts von der Kategorie Geschlecht verstanden. Vielmehr wird hier deutlich, dass die Entnaturalisierung von Körper, Sexualitäten und sozialen Rollen für konservative Ideen eine ganz klare Bedrohung darstellt, zumal die Geschlechterperspektive historisiert, was viele nach wie vor als naturgegeben verstehen. Die Geschlechterperspektive, so die Politikwissenschaftlerin Eleni Varikas, eröffnet nicht nur neue konzeptuelle Räume, um Geschlechtszugehörigkeiten zu denken, sie eröffnet auch neue politische Räume. Genau diese neuen politischen Räume versuchen die konservativen Kräfte zu besetzen, um jenen gesellschaftlichen und politischen Wandel zu verhindern, den ein historisierender Blick auf Männer- und Frauenrollen und -identitäten ermöglicht.
3. Die Vereinnahmung des politischen Raumes
Wie kann es sein, dass im heutigen Frankreich diese konservativen Kräfte so zahlreiche DemonstrantInnen auf die Straße bringen? Eine mögliche Antwort darauf lässt sich in den Wurzeln der französischen Konzeption des (Staats-)Bürgerbegriffs (citoyenneté) finden. Der französische Bürgerbegriff beruht auf dem aus der Französischen Revolution hervorgegangenen republikanisch-universalistischen Modell, das auf Assimilation abzielt und daher stets Schwierigkeiten hatte, kulturelle Vielfalt beziehungsweise Multikulturalismus mitzuberücksichtigen. Assimilation bedeutet im französischen Sinne meist, sich der Mehrheit, das heißt dem als neutral konzipierten Staatsbürger angleichen zu müssen, der jedoch in der Realität von einem weißen, christlichen und heterosexuellen Mann verkörpert wird. Durch die gesellschaftliche Entwicklung Frankreichs in den letzten Jahrzehnten stößt der abstrakte Bürgerbegriff zunehmend an seine Grenzen: Konkret stellt sich die Frage der gesellschaftlichen Rolle der Französinnen und Franzosen “mit Migrationshintergrund” sowie allgemeiner jene der politischen Anerkennung der kulturellen und religiösen Vielfalt und, seit einigen Jahren, der sexuellen Minderheiten. Hinsichtlich dieser Fragen ist die französische Gesellschaft zutiefst gespalten, auf allen Ebenen sind Spannungen bemerkbar, sei es in der politischen oder intellektuellen Diskussion, in den Medien oder auf dem Kultursektor. Während Frankreich an seinem klassischen politischen Konzept des Staatsbürgers festhält, scheint der gesellschaftliche Wandel eine Art von “inneren Fremden, inneren Anderen” hervorgebracht zu haben: BürgerInnen zweiter Klasse sozusagen.
Zudem hat das politische Klima der letzten zehn Jahre kaum dazu beigetragen, die Gemüter zu beruhigen. Erst als Innenminister, dann als Staatspräsident hat Nicolas Sarkozy die ‘Autoritätskrise’ der politischen Klasse, die sich gegen sexuelle, ethnische und soziale Minderheiten richtete, auf die Spitze getrieben. Er hat jenen, die bis dahin eher gemäßigt aufgetreten waren, einen neuen Sprach- und Handlungsraum eröffnet. Unter dem Vorwand des Universalismus weigert sich die französische Politik dieser Couleur, die allgegenwärtige Vielfalt, aber auch die Diskriminierungen innerhalb der französischen Gesellschaft wahrzunehmen. Die Beispiele sind zahlreich: vom Kopftuchverbot in der Schule 2004, den Aussagen des Innenministers Sarkozy, die Vororte mit einem Wasserstrahlreiniger von ihrem Abschaum (racaille) zu säubern (29.6.2005), dem 2007 eingerichteten und bis 2010 bestehenden “Ministerium für Einwanderung und nationale Identität” bis hin zur Rede von Dakar 2007, in der der Präsident verkündete, “der Afrikaner sei noch nicht ganz Teil der Geschichte”. Mit solchen Gesten hat die Regierungspolitik Gräben aufgerissen, die immer tiefer zu werden drohen.
Auch unter Intellektuellen ist die Diskussion lebhaft. Bisweilen scharf wird der Ton zwischen jenen, die eine universalistisch-republikanische Position vertreten, etwa der bekannte und umstrittene Philosoph Alain Finkielkraut, und jenen, die für ein BürgerInnenmodell plädieren, das versucht, den aktuellen Entwicklungen offen zu begegnen. KünstlerInnen, besonders aus der Szene des politischen oder sozialkritischen Rap, haben diese Spannungen erkannt, und ihr Schaffen ist voll von interessanten Gedanken dazu. Genannt seien Keny Arkana, Casey oder Princess Anies, deren gemeinsam mit Amara produzierte Nummer “Pourquoi tu m’entends pas?” einen Dialog zwischen “Marianne” und einem jungen Mann afrikanischer Herkunft imaginiert, das heißt zwischen der allegorischen Verkörperung der französischen Nation und einer emblematischen Figur des “Ausländers”. Auf die im Titel formulierte Frage “Warum hörst du mich nicht?” antwortet Marianne beharrlich, “Warum hörst du mir nicht zu?” (“Pourquoi tu ne m’écoutes pas?”). Ein weiteres Beispiel wäre “Ma lettre au Président” (Mein Brief an den Präsidenten) des Rappers Axiom, der an die Tradition des Protestliedes anschließt. Er bezieht sich explizit auf das berühmte Lied “Le déserteur”, das Boris Vian in den 1950er Jahren am Ende des Indochinakrieges geschrieben hat und das ebenfalls in Form eines an den Präsidenten gerichteten Briefes verfasst ist.
Die Problematik der multikulturellen Gesellschaft deckt sich gewiss nicht ganz mit der Frage Geschlecht. Doch verweist der Widerstand eines Teils der politischen Klasse gegen Geschlechtergerechtigkeit auf dieselbe nostalgische Vorstellung von Frankreichs – vergangener – Größe, die jeder Minderheit, sei sie nun sprachlich, kulturell, religiös oder sexuell, vorwirft, sie würde die Figur des abstrakten universellen Bürgers in Frage stellen und damit die Grundlage der Fiktion der republikanischen Gemeinschaft, ja die Einheit der Republik zerstören. Diese Fiktion hatte historisch gesehen als Gegenstück zur Standesungleichheit des Ancien Régime große Bedeutung; man kann aber nicht umhin festzustellen, dass eine rigide Interpretation dieser historisch gewachsenen politischen Kategorie heute vor allem dazu beiträgt, die Gesellschaft zu spalten.
4. Schluss
Die Vorliebe der französischen Gesellschaft, engagiert öffentliche Debatten zu führen, und das deutlich mehr als anderswo, ist durchaus positiv zu bewerten. Doch eine solche Intensivierung des Konflikts gefährdet die Position sexueller Minderheiten und der universitären Disziplin der “études de genre”. Die “études de genre” konnten sich in Frankreich nur langsam durchsetzen und ihre Institutionalisierung bleibt aufgrund verschiedener Widerstände relativ begrenzt. Zahlreiche WissenschaftlerInnen haben sich zwar vehement dafür eingesetzt, einige der Widersinnigkeiten, die zu “Geschlecht” verlautbart wurden, richtigzustellen und hart erkämpfte Errungenschaften zu verteidigen; doch die Gefahr einer dauerhaften Delegitimierung bleibt bestehen. Auch im Bereich der Bildungs- und Schulpolitik muss man mit Sorge beobachten, dass Benoît Hamon, ehemaliger Unterrichtsminister der Regierung von Franois Hollande, Ende Juni 2014 angekündigt hat, das “ABCD de l’égalité”, ein Unterrichtsmaterial für Geschlechtergerechtigkeit, aus dem Lehrplan zu nehmen: Dieses Material, das seit 2013 an 275 Grundschulen als Schulversuch eingeführt worden war, zielt darauf ab, Sexismus in der Schule zu bekämpfen und die SchülerInnen früh anzuleiten, Geschlechterstereotypen infrage zu stellen. Weitere Rückzieher der Regierung im Hinblick auf die Anerkennung von ‘Regenbogenfamilien’ und das Recht auf Elternschaft sexueller Minderheiten sind Beleg für die Ängste, welche die Radikalisierung in der Politik ausgelöst hat. Es bleibt zu hoffen, dass die Realpolitik der Regierung Hollande nicht auf Kosten der sexuellen und akademischen Minderheiten geht.