„Die Stimmung ist nicht dieselbe“

Protest und Protestkultur in Belarus

In wenigen Sommermonaten hat Belarus seine Rolle

in der Weltgeschichte komplett neu geschrieben.

Wurde ein Teil davon.

Dies ist viel mehr als formale Souveränität.

Es ist ein eigener Stil und ein eigener Platz.

Ihar Babkoŭ, 30.8.2020

 

Seit dem 9. August 2020, als die Zentrale Wahlkommission eine erste Hochrechnung bekanntgegeben hatte, nach der der Autokrat und Langzeitpräsident Aljaksandr Lukašenka die Wahlen in Belarus gewonnen habe, regen sich massive Proteste gegen das autokratische Regime. Vor allem nach den Repressionen und der exzessiven Polizeigewalt in der ersten Woche nach den Wahlen entfaltete der Protest eine enorme Eigendynamik. Die Belarussen haben in einem beispiellosen, historischen Akt kollektiver Mobilisierung und Politisierung ihre Angst und Apathie überwunden, auf die sich das autokratische Regime in den vergangenen Jahrzehnten stützen konnte. Im kommenden Jahr 2021 jährt sich die Unabhängigkeit der Republik Belarus zum 30. Mal. Die Unabhängigkeit war den Belarussen eher zugefallen, als dass sie sie erkämpft hätten.

Offensichtlich haben die Belarussen nun ihre Position gefunden. Sie wollen sich von den autokratischen Fesseln lösen und statt Untertanen Bürgerinnen und Bürger sein, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.1  Damit haben sie nicht nur die internationale Öffentlichkeit überrascht, sondern wohl vor allem sich selbst. Sie, die eigentlich nie wahrgenommen wurden, sind nun auf eindrucksvolle Art und Weise sichtbar. „Wir sind aufgewacht und wir werden nicht mehr einschlafen“, war auf einem Plakat einer jungen Frau zu lesen, die am „Marsch der Einheit“ am 6. September 2020 in Minsk teilnahm.2

Der aktuelle Protest findet anders als die Demonstrationen 2006 oder 2010 nicht nur in der Hauptstadt Minsk statt, sondern in vielen anderen Städten, sogar in Kleinstädten und Dörfern, deren Bewohner bislang als unerschütterliche Unterstützer Lukašenkas galten. Dort ist der Unmut aufgrund von Arbeitslosigkeit, Korruption und fehlender wirtschaftlicher Perspektiven erheblich gestiegen. Den Protest tragen Menschen unterschiedlichen Alters und sozialer Zugehörigkeit. Sie sind Studentinnen und Ärzte, IT-Leute, Künstlerinnen und Sportler, Lehrerinnen, Rentner, aber auch Arbeiter aus den mächtigen Staatsbetrieben. Neben den Frauen ist es die Jugend, die „Generation Lukašenka“, die gut ausgebildet ist, aber kaum Perspektiven hat, die man lange für angepasst hielt, die nun dem Protest ihren Stempel aufdrückt.3  Diese Protestbewegung hat neue Persönlichkeiten hervorgebracht und die Repräsentanten der alten Parteienopposition, insbesondere die Nationalisten, an den Rand gedrängt. Sie hat die Schwäche, führungslos und politisch unerfahren zu sein, was vor allem Angehörige der alten Parteienopposition beklagten, in eine Stärke verwandelt. Bereits in den Wochen vor den Wahlen entfaltete die Protestbewegung einen speziellen Charakter. Sie entwickelte eine enorme Dynamik und Kreativität, die sich nicht in Großdemonstrationen erschöpft, sondern vielfältigen kulturellen Ausdruck findet, mit marketingtechnischen und digitalen Mitteln4 das Regime herausfordert, dessen Dominanz bricht und seine Deutungshoheit unterläuft.

Widerstand und Raumeroberung

1994 war der 39-jährige Aljaksandr Lukašenka mit dem Wahlversprechen angetreten, das Land aus der wirtschaftlichen und politischen Krise zu führen. Als Präsident versuchte er das, indem er Politik, Wirtschaft und Teile der Gesellschaft wieder auf die sowjetischen Gleise setzte und eine autoritäre Herrschaft etablierte. Im Kern bot er der Gesellschaft einen Tauschhandel an: Lohn und Brot gegen die Freiheiten, die das Land seit 1991 gewonnen hatte. Er gewann damit die Unterstützung großer Teile der Bevölkerung, die den neuen Freiheiten wenig abgewinnen konnte, aber in der Sowjetunion einen vergleichsweise hohen Lebensstandard genossen hatte. Mit der Wiedereinführung sowjetischer Staatssymbole der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) sowie des Russischen als Staatssprache 1995 durch ein umstrittenes Referendum und durch die Entmachtung des Parlaments 1996 brachte Lukašenka allerdings jene gegen sich auf, die mit den Freiheiten Hoffnung und Versprechungen verbanden: so für die Angehörigen der Belarussischen Volksfront (BNF), für Journalisten und Mitarbeiter der Medien, Künstler und Intellektuelle, vor allem aber für die junge Generation in den Städten, die in der Sowjetunion aufgewachsen war, aber seit dem Aufbruch in der Zeit von Perestrojka und Glasnost ein neues Lebensgefühl kultiviert hatte. Die belarussischsprachige Rockband Ulis hatte dieses Gefühl 1990 in ihrem Song Radio Svaboda zum Ausdruck gebracht.

Der US-amerikanische Sender Radio Liberty war für viele sowjetische Jugendliche ein Tor in die Welt der Rock- und Popmusik. In dem Text heißt es:

Wir haben Durst, unsere Herzen zu verbrennen. Das ist Radio Liberty. Wo es keine Dunkelheit gibt. Unser Wasser. Die weiße Flagge über uns.

Viele Jugendliche, so auch der Gründer von Ulis, Slava Koran’, hatten Ende der 1980er Jahre begonnen, Rockmusik mit belarussischen Texten zu schreiben. Das war ein Novum. Junge Künstler brachten nicht nur ihr eigenes Freiheitsgefühl, sondern auch ihre patriotische Haltung zur belarussischen Kultur zum Ausdruck, die in der Sowjetunion marginalisiert und unterdrückt worden war. So entstand während der Reformpolitik unter Gorbačev auch in Belarus eine kleine Welle aus neuen Musikern und Bands. Der Hardrock-Formation Mroja (Traum) gelang es sogar, ein erstes belarussischsprachiges Rockalbum beim Sowjetlabel Melodija zu veröffentlichen. Die Band war 1981 von Ljavon Vol’ski gegründet worden, der heute als Ikone der Protestkultur in Belarus gilt. Auch bei den aktuellen Protesten trat er u.a. an der Metro-Station Puškinskaja oder am Jakub-Kolas-Platz in Minsk oder in Hrodna auf, um die Proteste zu unterstützen. Am 4. September 2020 gab er in Minsk vor Tausenden Fans ein Gratiskonzert. Vol’ski äußert sich häufig offen und kritisch über das Lukašenka-Regime. Für seinen Einsatz für die künstlerische Freiheit war er 2016 mit dem Freemuse Award ausgezeichnet worden.5  Die politischen Vorgänge in seiner Heimat kommentiert er seit Jahren in der Serie „Saŭka dy Gryška“ für Radio Svaboda mit kabarettistischen Liedern. So dichtete Vol’ski den Refrain des offiziellen Eurovision Song Contest-Beitrags „I love Belarus“ von 2011 um. Dieser Song hatte bereits den Zynismus des Regimes zum Ausdruck gebracht, das die Proteste nach den Präsidentschaftswahlen Ende 2010 brutal niedergeschlagen und die Opposition mit Repressionen überzogen hatte. Vol’ski sang:

Bielorussia, crazy and so fine, Bielorussia, vodka and cheap wine, red and green and constitution, we don’t need a revolution!6

Vol’ski hatte wie viele andere Musiker, Tontechniker und junge Journalisten 1995 bei dem Radiosender FM 101.2 angeheuert, der bei jungen Belarussen schnell Kultstatus erlangte, weil er mit frechen und ironischen Beiträgen und seiner alternativen Musikauswahl punkten konnte. Er spielte vor allem belarussische Musik. Der Sender wurde 1996 vom Lukašenka-Regime geschlossen, weil er offensichtlich durch seine freiheitlichen und nonkonformistischen Werte die Resowjetisierung des Landes störte. Allerdings sollten die kreativen Köpfe und Netzwerke, die sich bei 101.2 gebildet hatten, die Protestkultur des Landes über viele Jahre prägen. Hier kam der Rock-, Alternativ-, Folk- und Punkmusik eine tragende Rolle zu. Einige der Macher gründeten später in Warschau den Exilsender Euroradio.7  Die Band N.R.M. entwickelte sich zur Speerspitze dieser nonkonformistischen Jugendkultur, die sich den autoritären Bestrebungen Lukašenkas widersetzte. Bereits im Namen der Band, der Abkürzung für „Nezaležnaja Rėspublika Mroja“ (Unabhängige Republik der Träume), schwingt der Wille zum Protest mit. Gründer war wieder Vol’ski, der mit seiner lyrischen und bissigen Art die Sehnsüchte der Jugendlichen ausdrücken konnte und ein großes Publikum erreichte. N.R.M. gelang es, das Belarussische populär zu machen. Die Generation, die mit den hymnischen Liedern dieser Punkrock-Band aufwuchs, heißt bis heute „Generation N.R.M.“, zu der sich auch der bekannte Schriftsteller Alh’erd Bacharevič zählt. Er gründete in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit Pravakacyja die erste belarussischsprachige Punk-Band. Konzerte von N.R.M., Nejro Djubel, Deviation, Palac, Ulis, Zet, Krama oder Novae Nebawurden zu Treffen für Jugendliche, die anders sein wollten und die sich gegen die Resowjetisierung des Landes wehrten. Das Belarussische wurde zu einem alternativen und hippen kulturellen Code, der auch andere Kulturformen inspirierte. Das Regime reagierte seit Ende der 1990er Jahre mit gezielten Repressionen, weil es in diesen „Nischen der Freiheit“ eine Gefahr für den eigenen Kontroll- und Machtanspruch sah.8 Konzerte wurden verboten, bestimmte Bands und Musiker durften im staatlichen Radio nicht gespielt oder im Staatsfernsehen nicht gezeigt werden, Clubs wurden geschlossen, die Organisatoren der Konzerte wurden unter Druck gesetzt. Die Studentenzeitschrift Studumka, die das kreative Sprachrohr der Szene war, wurde im November 2005 verboten. Zu dieser Szene gesellten sich auch Sjarhei Michalok und seine Band Lapis Trubetskoy, die seit Ende der 1990er im postsowjetischen Raum mit einer Mischung aus clownesken Schlagern und ironischen Punk- und Skasongs zu großer Bekanntheit gelangt waren. Spätestens mit dem Album Manifest (2006) und Songs wie „Freedom Belarus“ wandte sich Michalok dem Agitpop zu und perfektionierte diesen in Songs wie „Graj“, der zu einer Art Anti-Hymne der brutal niedergeschlagenen Proteste nach den Präsidentschaftswahlen von 2010 wurde. Danach gründete er die Formation Brutto, mit der er während des Euromajdan in der Ukraine große Anerkennung erfuhr. In ihrer Heimat durfte die Band aufgrund ihrer Kritik an den repressiven Verhältnissen zeitweise nicht auftreten.

Viele der Bands und Musiker, die seit den 1990er Jahren zur Protestkultur gehörten, traten auf Veranstaltungen der parteipolitischen Opposition auf, so bei den Protesten nach den Präsidentschaftswahlen im März 2006, die damals als „Jeans-Revolution“ und „Kornblumen-Revolution“ bezeichnet wurden. Auf dem Oktoberplatz errichteten die überwiegend jungen Demonstranten bei eisiger Kälte ein Zeltlager, das nach fünf Tagen von der Staatsmacht geräumt wurde. Bereits damals wurde Losung „Wir glauben! Wir können! Wir werden siegen!“ (Verym! Моžam! Peramožam!) bei den Protesten skandiert, die nun seit August 2020 auf Demonstrationen zu hören oder auf Plakaten zu lesen ist.

Diese Ereignisse verarbeitete der Filmemacher Jury Chaščavacki in seinem Film Kalinovski Square (Plošča).9 Gewisse Formen der spontan organisierten Solidaritätsaktionen, welche die heutigen Proteste charakterisieren, waren auch damals zu beobachten. So wurden die Demonstranten im Zeltlager von Stadtbewohnern mit Essen und heißen Getränken versorgt. Damals machten dezidiert politische Jugendorganisationen wie die Nationalisten der Malady Front oder Zubr (Wisent) durch Protestformen wie Flashmobs auf ihre Anliegen aufmerksam. So gab es immer wieder kleinere, spontan organisierte Demonstrationen (Mitingy), bei denen Meinungs- und Pressefreiheit eingefordert wurde. Viele Jahre lang versammelten sich Menschen am 16. eines jeden Monats an zentralen Plätzen in Minsk, um mit großformatigen Fotos an die 1999/2000 verschwundenen Oppositionspolitiker und Journalisten zu erinnern. Der ehemalige Leiter der Wahlkommission, Viktar Hančar, und sein Freund, der Geschäftsmann Anatol’ Krasoŭski, waren am 16. September 1999 spurlos verschwunden. Mit großer Sicherheit wurden sie von einem Spezialkommando, der „Todesschwadron“, umgebracht.10

Die Satiregruppe Navinki brachte einen neuen Ton in die Protestkultur. Mit ihrem verspielten Anarcho-Schabernack in der hauseigenen Zeitung11 oder dem Film Gydbaj Bac’ka! 12 fand die Truppe viele Fans und Anhänger. Auch aus der Einsicht, dass die Opposition eine direkte Konfrontation mit dem hochgerüsteten Regime nicht gewinnen konnte, verlagerte sich der Protest zusehends in Nischen, die den Nonkonformisten, Künstlern, Hipstern oder Aktivisten zur Selbstentfaltung überlassen wurden – selbstverständlich unter der Kontrolle des autoritären Staates. Es war die Strategie der Träger dieser Protestkultur, Räume der Selbstverwirklichung neu zu besetzen und zu erweitern. Hier spielte auch der virtuelle Raum, das Internet, eine bedeutende Rolle. Ab Mitte der 2000er Jahre wurde mit ironischen Memes und Illustrationen im Netz die Absurdität der Staatsideologie aufs Korn genommen wurde, junge Organisationen wie Tretij Put’ versuchten, alternative Politik- und Gesellschaftsentwürfe zu verfolgen und neue Medienprojekte wie 34Mag.net unterstützten die Lust einer neuen Generation an der Selbstverwirklichung.13  Man kann dies als eine Strategie der Anpassung, aber auch als clevere Umdeutung interpretieren. Die Verantwortlichen aus der Protestbewegung verstanden, dass die direkte Konfrontation in den 1990er Jahren mit einem Repressionsapparat, der sich gut auf die Opposition eingestellt hatte, nur zu sinnlosen Reibungsverlusten geführt hatte. Zahlreiche Jugendliche verließen aus Frust und Perspektivlosigkeit das Land Richtung EU, USA oder Kanada. Wieder andere begannen ihren durch die Proteste von 2006 befeuerten Veränderungswillen in Umwelt-, Ökotourismus-, Geschichts-, Weiterbildungs-, IT- oder Kulturprojekten zu kanalisieren, die sich in Nischen abseits des „Politischen“ relativ unbedrängt entwickeln konnten.14  Dort haben sich in den vergangenen 15 Jahren stabile Netzwerke entwickelt, die so anpassungsfähig sind, dass sie in einem feindlichen Umfeld überleben können, wovon auch der Protest von 2020 lebt und profitiert.

Zum Motor der neuen Protestkultur entwickelte sich die äußerst lebendige belarussische Kunst- und Kulturszene. Das Belarus Free Theatre, 2005 gegründet, beschäftigte sich in experimentellen und radikalen Inszenierungen mit Tabus wie häuslicher Gewalt, der Todesstrafe oder dem Psychoterror in einem autoritären System. Dadurch wurde es weltweit bekannt, konnte im eigenen Land aber nur im Untergrund auftreten, etliche der Gründer und Schauspieler mussten das Land verlassen. Junge Schriftsteller wie Bacharevyč oder Viktar Marcinovič thematisierten in ihren Romanen das autoritär-repressive System, das sie umgibt. Die Buchhandlung Lohvinaŭ wurde zum Treffpunkt der jungen Literaturszene. Der gleichnamige Verlag wurde immer wieder durch das Regime gegängelt und musste schließlich nach Vilnius umziehen. Lyrikerinnen wie Val’žyna Mort oder Vol’ha Hapeeva verschafften sich sprachliche Frei- und Experimentierräume. Artur Klinaŭ, der als Installationskünstler bekannt geworden war, hob 2002 die Kunst- und Kulturzeitschrift pARTizan15  aus der Taufe. Er schuf so ein einzigartiges Forum für spannende neue Kunstströmungen, für anerkannte und aufstrebende Künstler und für ein ganzheitliches Konzept der Protestkultur, dessen Bedeutung auch für die Guerilla-Strategien der aktuellen Proteste kaum zu überschätzen ist.

In einem Interview sagte er, dass der Partisan nicht nur der heroische Typ mit der Waffe in der Hand sei. „Er ist auch eine Diagnose: pathologischer Bewusstseinszustand mit tiefsitzenden Ängsten als Reaktion auf historisch bedingte Traumata.“ Der Partisan sei also eine für Belarus typische Figur. Heute aber, erklärt Klinaŭ, sei eine Partisanen-Strategie der Kunst der einzige Weg aus der tiefen Misere seines Landes. Denn Politik helfe gegen das Regime eines Lukašenka nicht weiter. „Seit über zweihundert Jahren ist das Partisanentum eine unverzichtbare Strategie zur Selbsterhaltung, eine alternativlose Überlebenstechnik für die belarussische Kultur.“16

Gerade die jungen „Partisanenkünstler“ erhielten ab 2009 mit der Galerie Ŭ17  auch eine physische Heimat und Präsentationsfläche in Minsk. Sergej Šabochin beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit dem Phänomen der Angst in der belarussischen Gesellschaft. Marina Napruškina lotet in ihren Arbeiten die Machtstrukturen der belarussischen Autokratie aus. 2007 gründete sie das Büro für Anti-Propaganda, eine Art Forschungs- und Dokumentationsprojekt, das Manipulationsmechanismen zum Zweck der Machtkontrolle untersucht.18  Wie bedeutsam die Kunst gerade bei der jungen urbanen Elite auch für neue Solidaritätspraktiken war, analysiert die Philosophin Ol’ga Šparaga:

Die junge belarussische Künstlergeneration gibt der feministischen Parole „Das Private ist politisch“ damit einen neuen Sinn. Es entsteht eine neue Privatheit durch die Opposition zu dem einen Gesicht und dem diesem untergeordneten entmenschlichten Apparat und eine neue Politik durch die Vielzahl der sozialen Teilhabepraktiken und lokalen Aktionen, die einen Ausdruck von Solidarität und der Überwindung von Gleichgültigkeit darstellen.19

Michail Gulin entwickelte sich in den 2000er Jahren mit seinen provokanten und humorvollen Aktionen, Installationen und Arbeiten zu einem der wichtigsten Protagonisten dieser höchst lebendigen Gegenkultur. Besonders eine seiner Aktionen löste Kontroversen aus: Am 9. Oktober 2012 trug Gulin pinkfarbene und gelbe Würfel durch das Zentrum von Minsk, baute sie in unterschiedlichen Konstellationen auf und beobachtete die Reaktion der Passanten. Die Aktion „Persönliches Monument“ war Teil des Projektes „Going Public – Kunst im öffentlichen Raum“, das vom Goethe-Institut Minsk initiiert wurde. Der Künstler steuerte auch den Oktoberplatz an, der seit den Demonstrationen von 2006 als Symbol der neuen urbanen Opposition gilt und auch deshalb von den Sicherheitskräften mit Argusaugen überwacht wurde. Gulin baute auch dort sein Objekt auf – und wurde prompt gemeinsam mit seinen Helfern verhaftet.

Die Aktion ist bis heute höchst aussagekräftig, weil sie auf mehreren Ebenen subtil demonstriert, wie paranoid das Lukašenka-Regime ist. Die Definition, was politisch und was nicht-politisch ist, liegt allein in der Hand der autoritären Strukturen. „Politisch“ ist für das Regime jede Aktion, die sich als eine Aktion gegen das Regime werten lässt. Letzten Endes kann man sich also so gut anpassen, wegducken und aus allem Politischen heraushalten, wie man will. Aber niemand kann sich gewiss sein, nicht dennoch ins Fadenkreuz des Regimes zu geraten. Es gibt keine Gewissheit über die Regeln, die Unversehrtheit garantieren. Jedenfalls erschütterte Gulin an jenem Tag mit seinen harmlosen pinken und gelben Quadern jenen öffentlichen Raum, den das belarussische Regime aus Angst vor politischen Aktionen mit strengen Gesetzen und bürokratischen Hürden über die Jahre eingehegt hatte. Die Wellen dieser Erschütterung sind so stark, dass ihre Ausläufer nun die Gegenwart erreichen.

„Einer für alle, alle für einen“

Die aktuellen Proteste in Belarus sind von einer schier überwältigenden Friedfertigkeit und Solidarität gekennzeichnet. Die Friedfertigkeit ist sicher eine Reaktion auf die leidvolle Gewalterfahrung in der Vergangenheit. Auch dürften viele Menschen in Belarus die Bilder vom Majdan in Kiew vor Auge haben, wo Scharfschützen Ende Februar 2014 über 100 Menschen erschossen hatten. Ljavon Vol’ski erklärte den friedlichen Protest als einzige Option angesichts der hochgerüsteten Staatsmacht:

Was bleibt den Belarussen anders übrig, als friedlich zu sein gegen diese gut ausgestatteten und bewaffneten OMON-Polizisten? Sollen wir uns alle erschießen lassen? . . . ich sehe einfach, dass dieser Weg der einzige ist, der realistisch ist.20

Der bedingungslose Zusammenhalt und das Eintreten füreinander, gerade angesichts der exzessiven Gewalt der OMON-Kräfte sind zum Fundament der aktuellen Proteste geworden. Dies äußert sich in unterschiedlichen Formen und Gesten, sei es auf Plakaten („Mein Bruder ist kein Verbrecher“), die auf Demonstrationen und Solidaritätsbekundungen zu sehen sind, sei es in Form von kilometerlangen Menschenketten, zu denen sich Menschen vielerorts zusammenfanden, um etwa gegen die Verhaftung von Viktar Babaryka zu protestieren, der für die Präsidentschaftswahlen kandidieren wollte, jedoch verhaftet und nicht zu den Wahlen zugelassen wurde;21  sei es zu einem Flashmob wie am 12. August 2020, als sich 250 Frauen mit weißen Blumen in der Hand vor dem zentralen Komarovskij-Markt in Minsk versammelten, um gegen Gewalt zu demonstrieren. Solche Flashmobs gab es im Laufe der Proteste immer wieder, so etwa als das bekannte Mitglied des Koordinationsrates Marija Kalesnikava verschleppt und inhaftiert wurde. Bei einigen Flashmobs applaudierten die Versammelten laut. Diese Form der Solidaritätsbekundung war erstmals im Sommer 2011 im Zentrum von Minsk zu beobachten, Monate nach der Niederschlagung der Proteste nach den Präsidentschaftswahlen im Dezember 2010. Damals waren es vor allem IT-affine junge Leute, die begannen, sich über die sozialen Medien zu organisieren und zu Flashmobs aufriefen.22  So kristallisierten sich erste kreative Formen des zivilen Ungehorsams heraus, mit denen die Protestler versuchten, die strengen Versammlungsregeln im öffentlichen Raum zu umgehen oder auszuhebeln – eine Taktik, die bei den aktuellen Protesten zur Norm geworden ist.

Eine weitere Form demonstrativer Solidarität ist das gemeinsame Singen von Volksliedern wie „Pahonja“ oder religiösen Liedern wie „Mahutny Boža“. An unterschiedlichen Orten waren der Chor der Minsker Philharmonie und andere Sängergruppen zu hören.23  Immer wieder versammelten sich spontan Menschen auf dem „Platz der Unabhängigkeit“ in Minsk vor der sogenannten „Roten Kirche“ oder Studenten an den Universitäten, wo der KGB und OMON nach dem 1. September 2020 protestierende Studenten verhaftet hatten. In den sozialen Medien kursierten zahlreiche Videos, die zeigten, wie Menschen spontan eingriffen, wenn Angehörige des KGB, der OMON oder die gefürchteten Tichary(Angehörige der Gewaltapparate in Zivil) versuchten, Menschen auf offener Straße zu verhaften.

Doch die Solidarität setzte viel früher ein. Sie begann damit, dass die Menschen schlicht ihre Rechte einforderten und wahrnahmen. So fanden sich am Tag nach Bekanntgabe der Personen, die zu den Präsidentschaftswahlen zugelassen werden, Hunderte vor dem Gebäude der Zentralen Wahlkommission in Minsk ein, um ihre persönliche Beschwerde dagegen einzulegen, dass Viktar Babaryka – der zum damaligen Zeitpunkt populärste Gegenkandidat – nicht zu den Wahlen zugelassen wurde. Die eindrucksvollsten Solidaritätskundgebungen fanden in den Tagen nach dem 9. August 2020 an der Minsker Metro-Station Puškinskaja statt, wo der junge Aleksandr Taraikovskij von Polizisten erschossen worden war.24  Hunderte, zeitweise Tausende Menschen versammelten sich dort, legten Blumen und Bilder nieder, Musiker wie Ljavon Vol’ski gaben spontan Konzerte. Autofahrer hupten als Zeichen der Solidarität im Vorbeifahren, was ebenso zum festen Bestandteil des Protests geworden ist wie das Leuchten der Handys bei Demonstrationen und Protestzügen, um sich zu versichern, dass man nicht alleine ist. Andere Menschen stellten nach Einbruch der Dunkelheit brennende Kerzen ins Fenster ihrer Wohnung in den Hochhäusern. Diese Solidaritätsbekundungen waren nicht nur in Belarus zu sehen, sondern auch bei Protesten der belarussischen Diaspora.

Woher kommt dieses neue Gefühl der Zusammengehörigkeit? Welche Wurzeln hat es, sieht man von der verbreiteten Empörung über die Repressionen und brutale Gewalt ab sowie dem Gefühl, bei dem offensichtlich manipulierten Wahlergebnis betrogen worden zu sein? Ein Aspekt ist, dass heute deutlich mehr Menschen von Repressionen, Gewalt oder Folter betroffen sind als in den Jahren zuvor. Allein in der ersten Woche nach dem 9. August 2020 wurden etwa 7000 Menschen verhaftet. Bis Ende September sollen es über 12 000 gewesen sein. Die UNO dokumentierte in ihrem Bericht 450 Fälle von Folter und Misshandlung. In früheren Jahren – abgesehen von den Massenprotesten 1995 und 1996, als es zu blutigen Zusammenstößen zwischen Miliz und Protestlern kam – waren von Repressionen meist jene Leute betroffen, die gegen das Regime offen Position bezogen hatten und sich für Grundrechte einsetzten: Politiker, Mitarbeiter von NGOs, Menschenrechtsaktivisten oder Journalisten. Diesmal wurde die belarussische Gesellschaft von einer regelrechten Schock- und Wutwelle erfasst. Dies bestätigt die Philosophin Ol’ga Šparaga. Šparaga spricht neben der Erniedrigung, die Menschen im Regime seit Jahren ertragen haben, auch die Corona-Krise als weiteren Zündstoff für die Proteste an.25  Da sich Lukašenka von Anfang an weigerte, die Krise als Krise einzustufen, organisierte die Bevölkerung mit Hilfe von Crowdfunding und Graswurzelinitiativen eigene Hilfs- und Quarantänemaßnahmen und vernetzte sich auch mit Ministerien und Behörden. Diese Fähigkeit zur Solidarität und Selbstorganisation kommt nun in der Protestkultur zum Tragen.26  Die dezentrale Schwarmorganisation, die primär über soziale Medien und Telegram-Kanäle betrieben wird, ist ein weiteres Charakteristikum der Proteste.

In den vergangenen Jahren haben sich in verschiedenen Nischen Gruppen und Organisationen gebildet, die sich um Themen kümmern, die das Regime vernachlässigt hat. Sie haben den engen rechtlichen Rahmen maximal genutzt und beherrschen IT-Techniken so gut, dass sie oppositionell agieren können.

In der Fähigkeit zur dezentral organisierten Selbsthilfe lassen sich Überlebensstrategien der Belarussen wiedererkennen, die im Falle von Krieg und Krisen immer wieder zum Tragen kamen. Aus diesem Solidaritätsgefühl speist sich eine überraschende Nachbarschaftsaktivität. Menschen, die in den Mietskasernen der Schlafstädte jahrelang anonym nebeneinander her gelebt hatten, organisieren nun Hoffeste, um sich kennenzulernen. Sie essen, singen, tanzen gemeinsam und  tauschen sich aus: „Bei all der Gewalt, die uns seit August tagtäglich begleitet, sind die Hoffeste wie eine Therapie“, sagt die Historikerin Iryna Kaštaljan.27

Eine besondere Form dieser Überlebenshilfe demonstrierten die Minsker Bewohner am Tag nach dem „Marsch der Einheit“, der am 11. September durch Minsk zog. Nach der Demonstration machten Tichary und OMON-Leute Jagd auf einzelne Menschen, prügelten auf sie ein und verhafteten sie. Dabei kam es zu besonders dramatischen Szenen an dem kleinen Café O’Petit. Ein Polizist in Zivil zerstörte mit dem Schlagstock ein Fenster. Am nächsten Tag standen die Leute von morgens bis abends  Schlange, um das Café zu unterstützen.28  Diese Art der Hilfe entspricht auch dem Talaka, was im Deutschen etwa „Opfergabe“ bedeutet. So wurde seit dem 18. Jahrhundert im belarussischen Kulturraum eine kollektive Hilfeleistung bezeichnet, die zum Tragen kam, wenn etwa die Scheune eines Bauern abgebrannt war und die Dorfbewohner halfen, die Scheune zu reparieren oder neu zu errichten. Heute findet diese Praxis in der gleichnamigen Crowdfunding-Plattform ihre Entsprechung.29  Einige Orte sind während der Proteste selbst zu Symbolen des Wandels geworden, so der Plošča Peramen (Platz des Wandels), der bereits am 6. August in einem der Minsker Hinterhöfe von Aktivisten eingerichtet wurde. Dort wehen weiß-rot-weiße Flaggen, Mauern sind mit entsprechenden Symbolen bemalt und ein Transformatorhäuschen mit einem großen Graffito, das die beiden DJs zeigt, die bei einer Kundgebung von Svjatlana Cichanoŭskaja den Song „Peremen“ der Kultband Kino spielten und eben nicht die Veranstaltung „niederschallten“, wie ihnen von den Behörden aufgetragen worden war. Die beiden wurden verhaftet und ihr Bild, auf dem sie das Victory-Zeichen zeigen, zu einem ikonographischen Symbol der Proteste. Über den Plošča Peramen heißt es in einer Reportage:

Während anderswo in Minsk Demonstranten abgeführt, Menschenansammlungen aufgelöst und sogar Kirchen gestürmt werden, wird auf dem Platz des Wandels jeden Abend getanzt, gesungen, gegessen und gefeiert. Es ist der Wohlfühlort der Revolution, das gallische Dorf des Widerstands. Der Platz ist längst Kult, hat einen eigenen Instagram-Account und wurde bis zuletzt sogar auf Google Maps angezeigt. Beschreibung: „kulturelles Denkmal in Minsk“.30

An diesem Platz treffen sich Menschen, singen den Song „Mury“,31 der ebenfalls zur Melodie des Protests geworden ist, Musiker geben Konzerte, und wenn die Behörden das Graffito überpinseln, wird es in Windeseile wieder aufgemalt, was an manchen Tagen sogar mehrmals passierte. Diese Partisanentaktik zeigt sich auch in einigen Aktionen der Protestbewegung.

Bei einer der vielen Demos sah man zwei junge Männer vor der Minsker KGB-Zentrale – der Verkörperung von Repressionen und Terror – Badminton spielen. Diese Szene illustriert, was so überraschend und effektiv an den Protesten ist. In den sozialen Medien waren Kommentare zu lesen, die den Spielern Gutmütigkeit und Naivität vorwerfen. Aber tatsächlich ist genau das, was so wirkungsvoll ist: die Entlarvung der Gewalt, die Überwindung des Schreckens und der Angst durch das Harmlose und Friedliche, durch das scheinbar Alltägliche oder durch die Macht der Ironie. Ähnlich funktioniert die Taktik der Umarmung, die in der ersten Woche nach der Gewalteskalation zu beobachten war, als Frauen OMON-Polizisten umarmten oder ihnen Blumen schenkten. Das alles hat Stil, ist formbewusst, nicht selten wirken diese Erscheinungsformen der Protestkultur wie eine Inszenierung, die Regisseure konzipiert und Hipster-Marketing-Experten für virale Kampagnen in den sozialen Medien aufbereitet haben. Erinnert sei an das Foto aus dem Vorwahlkampf, auf dem Svjatlana Cichanoŭskaja, Veranika Zepkala und Marija Kalesnikava mit ihren Händen das Victory-Zeichen, ein Herz und eine Faust formten, was auf vielen Selfies abfotografiert und so zu einem Leitmotiv der Proteste wurde. Das trifft auch auf die vielen Straßenbilder und Graffiti sowie die riesigen Projektionen auf Hochhäusern zu, die Kalesnikava im Stile des berühmten sowjetischen Propagandaplakats Rodina-Mat’ zovet von 1941 zeigt oder ein Foto des Bergarbeiters Juri Korzun, der sich aus Protest gegen das Lukašenka-Regime in 300 Meter Tiefe in einer Mine angekettet hatte. Auch diese Projektionen werden fotografiert oder gefilmt und kursieren als Memes und Videos im Internet. Bei all diesen Praktiken geht es darum, dem Regime den öffentlichen Raum als Bühne der Macht zu entreißen und ihn durch Menschlichkeit zu einem Raum der Öffentlichkeit zu machen. Auch der virtuelle Raum, der zu einem Kampfplatz um Freiheit und Deutungshoheit geworden ist, soll besetzt werden. YouTube-Videos zeigen, wie sich Sportler, Arbeiter, Ärzte, Schauspieler oder Hochschullehrer mit den Protesten solidarisieren und gleichzeitig mit dem Regime brechen. Ironische und humorvolle Memes dienen dazu, das Regime lächerlich zu machen und die perfiden Mechanismen der Machterhaltung zu entlarven. Zu einem sehr bekannten Meme hat sich seit Mai so „Saša drei Prozent“ entwickelt.32  Zahlreiche Internetplattformen führten Wahlumfragen durch, in denen die Einstellung der User zu den potentiellen Präsidentschaftskandidaten abgefragt wurde. Lukašenka erhielt in einigen Umfragen drei Prozent, was als Indikator für die reale Popularität des Autokraten wurde. Das Regime weiß um die Macht der Bilder und die Konstruktion der Realität, deswegen legte es ab dem 9. August das Internet für mehrere Tage lahm. Das Regime lässt Seiten von Medien und Initiativen stören, Journalisten verhaften oder deren Akkreditierung entziehen. Teile der jungen IT-Szene des Landes wie die „Cyber-Partizany“ antworten mit Attacken auf Webseiten von Ministerien. Das Regime hat der hippen Bild- und Designsprache sowie der hohen Handlungsschnelligkeit der Protestszene hat wenig entgegenzusetzen.

Welch wichtige Rolle die Kultur in der Protestbewegung spielt, zeigt der Koordinationsrat, in dem die Schriftstellerin Svjatlana Aleksievič, der Dramaturg Andrej Kureičyk, der Musiker Vladimir Poŭgač von der Band J:Mors oder der Designer Vladimir Cesler vertreten sind. Zahlreiche Künstler, Poeten und Musiker wie Nadežda Sajapina, Uladzimir Liankevič oder Jurij Styl’skij wurden inhaftiert. Die Kultur bildet den Kern der Protestszene mit ihrer ureigenen Fähigkeit zur Emotionalität, Subversion und Wandlungsfähigkeit. Bereits im Juni 2020, nachdem der potentielle Präsidentschaftskandidat Viktar Babaryka verhaftet worden war, wurde Chaim Soutines Gemälde „Eva“ zu einem mächtigen Ausdruck dieser Kraft der Kunst. Das Bild gehörte zu Babarykas Sammlung, die konfisziert wurde. Dem Frauenporträt wurde ein Stinkefinger hinzugefügt, bevor das Motiv auf T-Shirts gedruckt wurde, durch das Internet flog und zum Symbol der Frauen-Power wurde. Auch gibt es mittlerweile Dutzende neuer Songs von Pop-, Rock- und Punkbands, von Barden, Elektronik-Formationen oder Rappern wie Dai Darohu!, Tor Band, Akute, Maks Korž oder Sirop.33 Sie beklagen die Missstände, besingen die Proteste und befeuern die Sehnsucht nach Freiheit.

Die Proteste haben auch dazu geführt, dass Künstler, die lange marginalisiert oder in Nischen aktiv waren, nun stärker mit der Gesellschaft verwachsen sind und den Platz einnehmen, wo die Kunst in politisierten Zeiten hingehört: die Mitte der Gesellschaft. Ob die Proteste letztlich zum ersehnten Wandel führen, ist unklar. Aber die Protestkultur, die seit Mitte der 1990er Jahre unter extrem schwierigen Bedingungen weit verzweigte Traditionslinien entwickelt hat, ist aufmüpfiger und lebendiger denn je. Für ein Land, das gerade mal 9,5 Millionen Einwohner hat und in dem sich Nonkonformismus nur in Nischen entfalten konnte, sind die Vitalität und Diversität dieser Szene schier überwältigend – den massiven Repressionen und der Gewalt zum Trotz. Ausgestattet mit einem neuen Selbstbewusstsein, quicklebendigen Ideen und dem Rüstzeug der Partisanentaktik wird die Protestbewegung auch künftig eine gewichtige Rolle spielen, um sich den Weg zur Freiheit zu bahnen.

Interview mit Diana Siebert, Historikerin und Belarus-Expertin, zur Lage in Minsk. Deutschlandfunk, 7.9.2020.

My prosnulis’ i uže ne usnem.“ Dvesti tysjač vyžli na Marš edinstva v Minske. Naviny.by, 6.9.2020.

Lukaschenko und die Jugend – Die Generation „500 Dollar“. MDR.de, 9.9.2016, www.mdr.de/nachrichten/osteuropa/politik/junge-generation-belarus-100.html.

Romanov: Ne tol’ko mitingi. Kak belarusy borjutsja s Lukašenka. Belarus’ partizanskaja. Youtube, 5.9.2020.

Belarus: Lavon Volski is a free man in an unfree country. Freemuse.org, 28.4.2016, https://freemuse.org/news/belarus-lavon-volski-is-a-free-man-in-an-unfree-country.

Saŭka dy Gryška: Byelorussia, 2.3.2011, <www.youtube.com/watch?v=vSH7vA33Zbs>.

Euroradio: from Warsaw for Belarus. OpenDemocracy, 13.1.2016, www.opendemocracy.net/en/can-europe-make-it/euroradio-from-warsaw-for-belarus.

Ingo Petz: Aufbruch durch Musik. Kulturelle Gegenelite in Belarus, in: Osteuropa, 1/2007, S. 49–56.

www.youtube.com/watch?v=r1dDGQrHHkQ&list=PLZCZoLnpd5JBBTq

Praėkt „Navinki“: krėatyuna, ščyra, beskampramisna. Novy čas, 6.5.2019, https://novychas.by/konkurs/praekt-navinki-kreatyuna-szczyra-beskampramis.

10 gadoŭ tamy vyjšla stužka „Gudbaj, Bac’ka“. Radye Svaboda, 25.5.2016,www.svaboda.org/a/27756187.html.

Almira Ousmanova: Flashmob – the Divide Between Art and Politics in Belarus. Artmargins, 15.7.2010, https://artmargins.com/flashmob-divide-between-art-politics-belarus-long-versionarticles/.

Ingo Petz: Ohnmacht und Anpassung. Die belarussische Jugend am Scheideweg, in: OE, 11–12/2013, S. 121–136. – Young People in Belarus. A Survey on Post-Election Development of the Youth Movement in Belarus, http://pdc.ceu.hu/archive/00003658/01/youth_survey.pdf.

Artur Klinaŭ: Partisanen. Kultur_Macht_Belarus. Berlin 2014, S. 26. 

Marina Napruškina studierte unter anderem in Karlsruhe und an der Städelschule in Frankfurt/Main und lebt heute in Berlin.

Olga Shparaga: Von Partisanen-Nomaden zum Aktionskünstler. Die belarussische Gegenwartskunst, in: Belarus-Analysen, 12/2013, S. 7–10, hier S. 10. 

„Ich erkenne mein Land nicht wieder.“ Wird jetzt alles anders in Belarus? Ein Gespräch mit dem Minsker Rockmusiker Ljavon Volski. Neues Deutschland, 24.8.2020.

Diese Menschenketten wurden am 18. Juni 2020 gebildet. Festnahmen bei Protesten in Weißrussland. Deutsche Welle, 20.6.2020.

Belarus: Silent protests frighten regime. BBC, 30.6.2011, www.bbc.com/news/world-europe-13975788.

Flešmob v Minske. „Magutny boža“. Youtube, 28.8.2020, www.youtube.com/watch?v=wFpWs-YoQSc.

Video soll Tod des Demonstranten in Minsk zeigen. Der Tagesspiegel, 15.8.2020.

Astrid Sahm: Riskanter Sonderweg. Belarus und die COVID-19-Pandemie, in: Osteuropa, 3–4/2020, S. 99–110.

Belarusian Spring? What we know about Belarusian society. New Eastern Europe, 24.6.2020, https://neweasterneurope.eu/2020/06/24/belarusian-spring-what-we-know-about-belarusian-society.

So Iryna Kaštaljan bei einem Gespräch, das der Autor am 14. September 2020 führte. 

www.talaka.org.

Der Wohlfühlort der Revolution. ZEIT-Online, 12.9.2020.

Neues Belarussisches Wörterbuch. Dekoder, 29.8.2020.

Sound des Belarussischen Protests. Meduza, 16.8.2020, <www.dekoder.org/de/article/ belarus-protest-soundtrack-peremen>. – Kantrabanda svabody: pec’ni pratesty na-belarusku. Culture.pl, 10.9.2020, https://culture.pl/ru/article/kantrabanda-svabody-pesni-pratestu-pa-belarusku.

Published 15 January 2021
Original in German
First published by Osteuropa 10-11/2020 (German version); Eurozine (English version)

Contributed by Osteuropa © Ingo Petz / Osteuropa

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