“Der Kalte Krieg ist vorbei, doch kann ich mich nicht entsinnen, dass Menschen in den Straßen gesungen oder Kirchenglocken geläutet hätten. Sind wir zu müde zum Singen? Oder von unserem Glück zu verblendet? Hat uns etwas gelähmt auf unserem Weg von dort nach hier?”
John Le Carré
Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des sogenannten Ostblocks richteten sich die Hoffnungen der mittelosteuropäischen Länder auf demokratische Veränderungen und die “Rückkehr nach Europa”. Ein Jahrzehnt später hat die Demokratie überall Einzug gehalten, aber die Aussicht auf einen Beitritt zu “Europa”, d.h. zur Europäischen Union, rückt wie eine Fata Morgana in immer größere Ferne, je mehr man sich dem Ziel zu nähern scheint. Der Beitritt Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik zur Nato im letzten Jahr war tatsächlich ein verblüffendes Ereignis und das greifbarste Resultat einer Dekade von insgesamt erfolgreichen Übergängen zu Demokratie und Marktwirtschaft. Ein europäischer Traum hatte sich unter dem Banner der Vereinigten Staaten erfüllt.
Die Stimmung in den Hauptstädten des Westens hat sich nicht nur weit entfernt von der (verbalen) Euphorie, mit der man die “samtenen Revolutionen” im “anderen Europa” begrüßt hatte, sondern auch von den feierlichen Versprechen Kanzler Helmut Kohls, der die Erweiterung als “moralische Pflicht”1betrachtete, oder von Präsident Jacques Chirac, der sich 1996/97 vor dem polnischen, dem ungarischen und dem tschechischen Parlament für den Beitritt dieser Länder zur Europäischen Union im Jahre 2000 bekannte. So hat sich auch die französische EU-Ratspräsidentschaft tatsächlich zwei Hauptziele gesetzt: die institutionellen Reformen abzuschließen und die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu fördern. Doch obwohl beide Punkte notwendige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Erweiterung darstellen, ist ganz deutlich, dass der zweite Punkt – zumindest momentan – auf Eis gelegt ist.
Die offizielle Haltung Brüssels zielt indes auf Beruhigung ab und verweist auf den Helsinki-Gipfel vom letzten Dezember, auf dem der Aufnahmeprozess für sechs neue Kandidaten (Slowakei, Lettland, Litauen, Bulgarien, Rumänien, Malta und nicht zuletzt die Türkei) eingeleitet wurde. Auch wenn die Einbeziehung neuer Kandidaten in diesen Prozess sich positiv auf die Stimmung dieser Länder auswirkt, besagt dies nicht viel über das Tempo, in dem die Beitrittsverhandlungen mit den alten Kandidaten (Polen, Ungarn, die Tschechische Republik, Slowenien, Estland) geführt werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Entscheidung, die Verhandlungen auf zwölf Staaten auszudehnen, nicht die Ankündigung eines neuen Marshallplans zur Vorbereitung des Beitritts folgte, sondern dass diese Entscheidung offensichtlich Anlass zur Besorgnis gab. Als erster äußerte sie Jacques Delors, Giscard d’Estaing und Schmidt schlossen sich ihm mit einer gemeinsamen Erklärung an2, und schließlich rief Joschka Fischer zu einer Stärkung des föderalen Gedankens auf, um der Gefahr einer Aufweichung der EU durch die Erweiterung vorzubeugen. Mit anderen Worten: zurück zur Debatte Erweiterung vs. Vertiefung der Union, wie sie in den frühen 90er Jahren geführt wurde und sich zunächst in Maastricht und in dem Ziel einer gemeinsamen Währung niedergeschlagen hatte, um dann im Juni 1993, auf dem Gipfel von Kopenhagen, in die verbindliche Perspektive einer Osterweiterung zu münden.
Worin liegen die Hauptgründe für diese Zurückhaltung? An erster Stelle vielleicht im “Fehlen einer Vision” für ein Europa nach dem Kalten Krieg, wie dies Václav Havel bei seinem Frankreichbesuch im letzten Jahr formulierte. Das Alltagsgeschäft des gemeinsamen Marktes, um das die oft zu Unrecht kritisierten “Brüsseler Bürokraten” sich erfolgreich kümmern, hat den Blick auf das verstellt, um was es bei der Gestaltung einer neuen europäischen Ordnung eigentlich geht. War Maastricht die richtige Antwort auf den bedeutendsten Einschnitt in der europäischen Nachkriegsgeschichte? Manche zweifeln daran, wie Lord Dahrendorf, ehemaliges Mitglied der EU-Kommission und bis vor kurzem Rektor des St. Antony¹s College in Oxford, der Maastricht als “Zukunft von Gestern” bezeichnete. Andere, die auf das Hauptresultat des Vertrags, den Euro, setzen, meinen, dass einmal mehr die wohlerprobte Methode Jean Monnets greifen und die gemeinsame Währung so gut wie automatisch auch eine “europäische politische Identität” schaffen wird. Natürlich ist das Gegenteil der Fall: Der Euro ist deshalb so schwach, weil es an einer europäischen politischen Identität fehlt. Eine solche Identität wird nicht von Zentralbanken und konvergierenden Zinssätzen hervorgebracht, sondern eher durch die gemeinsame Verpflichtung, ethnische Säuberungen auf dem Balkan zu ächten, oder eben durch ein gemeinsames Projekt von historischer Bedeutung, wie es – nach einem halben Jahrhundert der Teilung – die Integration Ostmitteleuropas in das ökonomische und politische System Westeuropas darstellt.
Der zweite, damit zusammenhängende Grund für die Zurückhaltung liegt in der fehlenden Führung. Schröder und Jospin sind, ihrer eigenen Diktion nach, erfolgreiche gemäßigte Sozialdemokraten, was sie in hohem Maße dem von Amerika angeführten Wirtschaftsboom verdanken, aber sie verkörpern wohl kaum einen politischen Willen zu Europa. Doch ohne politischen Willen und ohne eine Vision wird die Erweiterung leicht zu einer Nebensache, zumal offensichtlich auch keine starken wirtschaftlichen Interessen im Spiel sind, die die Entwicklung in diese Richtung weitertreiben würden. Nicht dass die östlichen Märkte unattraktiv wären, im Gegenteil: die Westeuropäer sind bereits dabei, sie zu erobern. Investiert wird vorwiegend in Ungarn, Polen und der Tschechischen Republik, und es gibt einen massiven Handelsüberschuss von dreißig Milliarden Euro mit den osteuropäischen Beitrittskandidaten. Die Versuchung ist daher groß, die ökonomischen Vorteile zu lukrieren, ohne zugleich auch politische Verantwortung zu übernehmen. Die deutsche Wirtschaftskammer rief in ihrem im April 2000 veröffentlichten Bericht dazu auf, den Erweiterungsprozess zu verlangsamen, da “Qualität Vorrang vor Quantität habe”3. Kein Wunder, dass der Leiter des Polnischen Zentrums für strategische Studien, Jerzy Kropiwnicki, zu dem Schluss kommt: “Die EU hat bereits alles, was sie wollte.”4(Warschau) vom 27.3.2000.
Diese Asymmetrie von Interessen und Motivationen hinsichtlich der Erweiterung fand im März 1999 auf dem Berliner Gipfel zur Agenda 2000, wo das EU-Budget bis zum Jahr 2006 abgesegnet wurde, ihren bezeichnenden politischen Ausdruck: Deutschland wollte seine – zugegeben hohen – Beiträge herabsetzen. Frankreich kämpfte tapfer gegen jede einschneidende Veränderung der gemeinsamen Agrarpolitik (fast die Hälfte des Budgets der Union wird für die Unterstützung von 4 % seiner Bevölkerung aufgewendet). Großbritannien verwahrte sich dagegen, dass an dem berühmten Rabatt gerüttelt wurde, den Frau Thatcher vor vielen Jahren für England durchgesetzt hatte. Spanien, Portugal, Griechenland und andere Länder wollten sich nicht auf eine Reform der sogenannten Strukturfonds einlassen, die in die weniger entwickelten Regionen der Union fließen. Warum sollten sie, nachdem sie über zwanzig Jahre prächtig davon profitiert hatten, diese Gelder nun mit den noch ärmeren Verwandten an der Donau teilen?5Jeder hatte seine “guten” Gründe, den Status quo (heißt: den Einfluss der Lobbies) nicht anzutasten und das zu verteidigen, was er als seinen “acquis” verstand – kurz, der Gemeinschaftssinn der Mitglieder dieser Gemeinschaft hielt sich in Grenzen. Daraus folgt, dass, wenn das EU-Budget ohne eine tiefgreifende Reform der bisherigen Politik beibehalten wird, eine Erweiterung in den nächsten fünf Jahren nicht stattfinden kann. So lautet zumindest die Schlussfolgerung aus der “buchhalterischen Sicht”.
Es ist kaum verwunderlich, dass angesichts des fehlenden politischen Willens, die Osterweiterung als ein politisches Projekt zu artikulieren, die westeuropäische öffentliche Meinung in dieser Frage abkühlt. Das letzte Euro-Stimmungsbarometer vom April 2000 sollte uns nachdenklich stimmen. Die Mehrheit der Europäer bejaht die Mitgliedschaft des eigenen Landes, 43 % befürworten eine Erweiterung der Union, aber nur 28 % sehen darin eine Priorität6. An der Spitze der Erweiterungsbefürworter steht Skandinavien (über 60 %), an letzter Stelle figurieren Frankreich und Österreich. Tatsächlich stellt die schwindende Unterstützung für die Erweiterung in den unmittelbaren Nachbarländern (Deutschland und Österreich) der ostmitteleuropäischen Bewerberstaaten wahrscheinlich den Hauptfaktor für die Verzögerung des Prozesses dar. Einer anderen Europaumfrage vom Frühling 1999 zufolge befürworten nur 3 % der Österreicher und 6 % der Deutschen den freien Zugang ostmitteleuropäischer Bürger zum EU-Arbeitsmarkt. Es sind also nicht nur die Haider-Anhänger, sondern auch die Wählerschaft von Schröder und der SPÖ, die sich gegen die Erweiterung aussprechen. Der zunehmende Fremdenhass, der Migration mit steigender Kriminalität assoziiert, geht Hand in Hand mit dem alten Protektionismus der Gewerkschaften7.
Dies alles hat natürlich auch Auswirkungen auf die Art und Weise, wie der Erweiterungsprozess in den Bewerberstaaten wahrgenommen wird. Die öffentlichen Meinungen in West- und in Ostmitteleuropa werden zwar von unterschiedlichen Sorgen bewegt, doch funktionieren sie wie kommunizierende Röhren. Der Erweiterungsskeptizismus der Mitgliedstaaten findet in einigen Anwärterstaaten sein Pendant in einem wachsenden Euroskeptizismus. Während die meisten politischen und Wirtschaftseliten der Beitrittskandidaten eine möglichst rasche Mitgliedschaft anstreben, ist eine zunehmende Diskrepanz zwischen der städtischen Bevölkerung auszumachen, die sie befürwortet, und der ländlichen Bevölkerung (besonders in Polen), die ihr ablehnend gegenübersteht, sowie einem steigenden Prozentsatz an Unentschlossenen. Das proeuropäische Moment, das in der ersten Dekade des postkommunistischen Überganges dominierte, verbraucht sich zusehends, und manche Beobachter schließen nicht einmal einen antieuropäischen Rückschlag aus, falls der “lange Marsch nach Europa” nicht bald greifbare Resultate liefert. Zwar dürfte ein solcher Gesinnungswandel eher unwahrscheinlich sein, doch hat sich bei den ostmitteleuropäischen Kandidaten mittlerweile eine ernsthafte Debatte über die Implikationen des Beitritts entzündet. Interessanterweise tauchen hier Befürchtungen einiger Gründungsmitglieder wieder auf, nämlich dass die östlichen Newcomer unabhängig von ihrem Fortschritt auf ökonomischer und legislativer Ebene möglicherweise gar nicht so sehr der Idee der europäischen Integration verpflichtet sind. Es sind drei Fragen, um die sich die ostmitteleuropäische Debatte dreht und die diesem Misstrauen Nahrung geben: die nationale Souveränität, das sozioökonomische Modell und die europäische Verteidigungsidentität.
1. Souveränität und Demokratie
Sich vorzustellen, einen wesentlichen Teil der gerade erst wiedergewonnenen nationalen Souveränität abzugeben, fällt naturgemäß nicht leicht. Während die Auflösung des Nationalstaates im Zuge der Globalisierung in Westeuropa heftig diskutiert wird, war die Rückkehr der Demokratie 1989 in Ostmitteleuropa eng mit jener der nationalen Souveränität verbunden. Das Ende des kommunistischen Systems bedeutete gleichzeitig das Ende des letzten Kolonialreiches. Volkssouveränität und nationale Souveränität wurden untrennbar miteinander verbunden. Aus “Wir sind das Volk”, dem Slogan der ostdeutschen Demonstranten im Oktober 1989, wurde nach dem Fall der Mauer im November “Wir sind ein Volk”. Dies erklärt ein gewisses Misstrauen einflussreicher Kräfte unter den Kandidaten (Stimmen innerhalb der polnischen Regierungskoalition, in Václav Klaus’ Partei in der Tschechischen Republik und in der kleinen, derzeit an der Regierung beteiligten ungarischen Partei der Kleinlandwirte), die davor warnen, die nationale Souveränität allzu schnell zugunsten einer weit entfernten Institution aufzugeben, deren demokratische Praktiken und Transparenz nicht immer überzeugen.
Die Natointervention im Kosovo im Frühjahr 1999 und – ein Jahr später – die Sanktionen gegen Österreich nach dem Eintritt von Haiders Partei in die Regierung wurden von vielen Westeuropäern als Versuch der 68er-Generation interpretiert, die Bedeutung von Souveränität und des Projekts Europa nach der Ära des Kalten Krieges neu zu definieren. Beides stieß in Ostmitteleuropa auf zwiespältige Gefühle und sogar auf Ablehnung. Václav Klaus warf die drei Ereignisse (Natointervention, Sanktionen, Erweiterung) gar in einen Topf und deutete sie als einen Anschlag auf die Souveränität der Tschechischen Republik: “Europa bedeutet nun eine fundamentale Herausforderung an die Nationalstaaten, d.h. an ihre Souveränität.”8Die Einladung des ungarischen Premierministers Viktor Orban an Kanzler Schüssel, die erste nach der Regierungsbildung, wurde von der liberalen ungarischen Opposition, aber auch von Beobachtern in Westeuropa als implizite Kritik an der EU-“Einmischungs”-Politik verstanden. Miklos Haraszti meinte dazu:
Die EU hat die politischen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft tatsächlich neu definiert. Die Österreicher und ihre östlichen Nachbarn müssen sich nun entscheiden, ob sie sich weiter hinter einem überholten Begriff von Souveränität verstecken, oder ob sie zu einer europäischen Föderation beitragen wollen, die jede Form von Extremismus ächtet.
Die ostmitteleuropäische Debatte über die Souveränität und die politischen Kriterien für die EU-Mitgliedschaft hat gerade erst begonnen.
2. Welches sozioökonomische Modell?
Welchen Platz werden die ostmitteleuropäischen Newcomer einnehmen in der großen Debatte zwischen dem angelsächsischen liberalen Modell der freien Marktwirtschaft und dem kontinentaleuropäischen Modell des Wohlfahrtsstaates? Unabhängig vom Verlauf dieser Auseinandersetzung scheint es klar, dass die Wirtschaftsreformen in Ostmitteleuropa (insbesondere in der ersten Hälfte der 90er Jahre in Polen unter Leszek Balcerowicz, in der Tschechischen Republik unter Václav Klaus oder später in Estland) sich überwiegend an der freien Marktwirtschaft orientierten. Nach dem fünf Jahrzehnte währenden Experiment des Staatssozialismus und seinem offensichtlichen Scheitern erschien der Wirtschaftsliberalismus als Übergangsstrategie weitaus verlockender denn der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat. Dass die frühen 90er Jahre durch ein rasches Wirtschaftswachstum in den USA und Großbritannien gekennzeichnet waren, das einherging mit einer stagnierenden Wirtschaft und einer Arbeitslosenrate von über 10 % in Europa, verstärkte noch die Attraktivität der “Schocktherapie” für Ostmitteleuropa.
Doch obwohl das sogenannte “europäische Modell” nicht als Vorbild diente, ähnelt die Praxis in den meisten ostmitteleuropäischen Staaten heute, nach einem Jahrzehnt des Übergangs, doch eher diesem Modell als dem Laisser-faire-Kapitalismus der Chicagoer Schule. Václav Klaus’ Politik illustriert am deutlichsten den Kontrast zwischen den importierten Theorien und der real existierenden Politik. Die Befürchtungen, die Ostmitteleuropäer seien vom allgemein europäischen Konsens eines Liberalismus mit sozialdemokratischem Antlitz abgedriftet, sind stark übertrieben. Vielmehr hegen sie mehr oder weniger die gleichen Bedenken (oder Hoffnungen) gegenüber dem Globalisierungsprozess wie die EU-Mitglieder.
3. Europäische Sicherheitspolitik
Der Verdacht, die ostmitteleuropäischen Kandidaten seien keine “guten” Europäer, nährt sich auch aus ihrer Haltung gegenüber der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Bürger Ostmitteleuropas sind – aus historisch verständlichen Gründen – von einem akuten (vielleicht übertriebenen) Interesse für ihre Sicherheit geprägt: München 1938 und Jalta 1945, Budapest 1956 und Prag 1968 haben sie gelehrt, dass in Übergangszeiten die Sicherheit Vorrang hat vor Demokratie, Marktwirtschaft oder regionaler Kooperation. Was Europa ihnen nach 1990 anbieten konnte, war nicht gerade überzeugend: das gemeinsame Sicherheitssystem der KSZE, das die alten Ängste und neuen Bedrohungen auffangen sollte (“Wenn jedermann jedermanns Sicherheit verteidigt, garantiert schließlich niemand mehr für die Sicherheit von irgend jemandem”, so Henry Kissingers Worte). Und auch das klägliche Bild, das die EU angesichts des Zerfallsprozess von Jugoslawien abgab, stärkte nicht gerade das Vertrauen in eine europäische Sicherheitspolitik. Mangels Alternativen wandten sich die neuen Demokratien der NATO zu, eingedenk der guten Dienste, die diese den Westeuropäern geleistet hatte (“Die Amerikaner drinnen halten, die Russen draußen halten und die Deutschen niederhalten”, wie es Lord Ismail einst formulierte). Mittlerweile sind der Allianz drei Staaten beigetreten, und auf dem jüngsten Gipfel in der litauischen Hauptstadt wurde angekündigt, den NATO-Erweiterungsprozess offen zu halten. Leiden nun die neu hinzugekommenen Verbündeten unter einer bedenklichen Amerikafixierung, welche mit den jüngsten Bemühungen der EU konfligiert, nach der Intervention im Kosovo unter Solanas Vorsitz eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu schaffen? In Warschau, Budapest oder Prag sieht man dies nicht so: Eine solche Sicherheitspolitik, so wird argumentiert, lässt sich leichter mit stark am Westen orientierten ostmitteleuropäischen Staaten schmieden als mit EU-Mitgliedern wie Griechenland oder den neutralen Staaten Schweden und Österreich.
Die heftigste Debatte um die Osterweiterung steht noch bevor – sie betrifft die Grenzen in Europa und die Grenzen von Europa. Wie steht es mit den Grenzen in einer erweiterten EU? Um den Mitgliedsstaaten die Erweiterung zu “verkaufen”, muss man die “harten” Grenzen des Schengener Abkommens betonen: Wenn man die inneren Grenzen abschafft, muss man die EU-Außengrenze verstärken. Wenn man dagegen den ostmitteleuropäischen Ländern die Erweiterung “verkaufen” möchte, wird man für “weiche”, offenere Grenzen zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern optieren. Polen hätte aus alten historischen, neuen ökonomischen und aus politischen Gründen Schwierigkeiten mit einer “harten” Grenze zu Litauen oder zur Ukraine. Das gleiche gilt für die Tschechen gegenüber der Slowakei. Ungarn hat seine Politik ganz auf die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern Rumänien und Slowakei abgestellt mit dem Ziel, ihnen einen besseren Zugang und Schutz durch ein integriertes Europa zu sichern. Eine Schengener Grenze zwischen diesen Nachbarn hätte den gegenteiligen Effekt und würde einen harten Schlag für jede Europa-orientierte Politik bedeuten. Während der Anpassung an die EU-Standards ein positiver und modernisierender Effekt zugeschrieben wird, wird die Implementierung des Schengener Systems – noch vor dem Beitritt zur Union – negativ wahrgenommen, als Verlagerung der Ungewissheiten und Risiken von der EU auf die neuen, schwachen Kandidaten.
Der Erweiterungsprozess wirft implizit die Frage nach den Grenzen von Europa auf, die nicht mit jenen der EU verwechselt werden dürfen. Im Westen, Norden und Süden sind die Grenzen von Europa klar abgesteckt, nicht aber im Osten.Toynbeeunterschied zwischen, den Grenzen eines untergehenden Reiches, und, den Grenzen eines expandierenden Imperiums. Ostmitteleuropa stellt eine Zone dar, die durch beide Grenztypen geprägt ist: die Grenze des untergegangenen russischen bzw. sowjetischen Reiches und die Grenze eines aufsteigenden, nur widerwillig seine Rolle annehmenden Imperiums – der Europäischen Union. Die EU könnte für die ostmitteleuropäischen Länder in mancher Hinsicht einen Ersatz oder ein funktionales Äquivalent der Habsburgermonarchie darstellen: Sie könnte zum einen die Fehden und Rivalitäten neutralisieren, zum anderen das Verhältnis zu Deutschland ausbalancieren.
Die Entscheidung von Helsinki im Dezember 1999, die Liste der Kandidaten zu erweitern, schien all jenen eine gute Nachricht, die befürchteten, die EU werde nicht imstande sein, den südosteuropäischen Ländern ihren Platz im künftigen Europa zu verschaffen9. Auf die Entscheidung, die Türkei auf die Liste zu setzen, reagierte die Mehrzahl der ostmitteleuropäischen Kandidaten allerdings mit Erstaunen. Hatte doch die EU ihnen gegenüber mehr als ein Jahrzehnt lang äußerste Vorsicht an den Tag gelegt, um nun plötzlich einen geopolitisch waghalsigen Sprung in den Nahen Osten zu tun. Der Beitritt der Türkei würde der EU Grenzen mit Ländern wie dem Iran, Irak oder Syrien bescheren. Nicht ganz der Rückhalt bietende Club, den sich die postkommunistischen Kandidaten vorgestellt hatten! Die Debatte über die Grenzen der EU und die “Geopolitik” der Erweiterung war schon lange fällig. Wie immer das Ergebnis ausfallen wird, diese Grenzen müssen von der demokratischen Natur des europäischen Projekts geprägt sein, sie dürfen nicht die Resultate vorgegebener historischer oder kultureller Vektoren werden.Die aktuelle Situation ist durch drei parallel verlaufende Debatten über die Zukunft Europas charakterisiert. Gegenstand der ersten Debatte sind die Reform der zentralen EU-Institutionen und die Perspektiven einer künftigen europäischen Verfassung, mit dem Ziel, die drohende Lähmung der Union zu überwinden. Jacques Delors’ Ruf nach einem neuen föderalen Kerneuropa, Joschka Fischers Rede vor der Humboldt-Universität im Mai 2000 und Chiracs Rede vor dem Deutschen Bundestag bezeugen die Bestrebung, ein Kerneuropa zu bilden, bevor man sich der Herausforderung der Erweiterung stellt. Zweitens gibt es eine spezifische, fast möchte man sagen technokratische Debatte über das Für und Wider, die Gewinner und Verlierer des Erweiterungsprozesses. Der aktuelle Stand lässt sich so zusammenfassen: “Wir tun so, als ob wir euch wollen, und ihr tut so, als ob ihr bereit seid.” Und drittens läuft eine Debatte, wie mit den Balkanländern zu verfahren sei: ob sie zum Katalysator einer neuen europäischen Sicherheitspolitik und Verteidigungsidentität werden können. Für Ostmitteleuropa lauten die zentralen Konzepte “Integration” und “Erweiterung”, für den Balkan “Intervention” und “Protektorate”.
Für die Zukunft Europas ist die Verknüpfung dieser drei Debatten von wesentlicher Bedeutung. Die Osterweiterung hat dabei die geringste Priorität, doch stellt sie ein wichtiges Bindeglied zwischen den beiden anderen Fragen dar. Die Debatte um die konstitutionellen und föderalen Perspektiven Europas steht vor allem deswegen auf der Tagesordnung, weil ohne Schritte in dieser Richtung der Erweiterungsprozess die EU-Institutionen handlungsunfähig machen würde. Und wie glaubwürdig ist eine “europäische” Zukunft für die Balkanstaaten, die dem nach der Kosovointervention geschlossenen Stabilitätspakt angehören, wenn die Erweiterung um die ostmitteleuropäischen Länder mit ihren gefestigten Demokratien nicht voranschreitet.
Die westeuropäischen Vertreter eines föderalistischen harten Kerns befürchten, die Erweiterung könnte das europäische Projekt seiner Substanz berauben. Für die ostmitteleuropäischen Kandidaten wiederum drohen Begriffe wie “harter Kern”, “Avantgarde” (Delors)10, “Pioniergruppe” (Chirac) – abgesehen von der für postkommunistische Ohren etwas beunruhigenden und antiquierten Wortwahl -, das Erweiterungsprojekt seiner Substanz zu berauben: Die Bildung eines Kerns würde die Kandidatenländer abermals zur Peripherie machen. Was Europa in der Nachkriegszeit zusammenhielt, ging hauptsächlich auf einen externen Faktor zurück – die Furcht vor dem Osten. Doch das heutige Zaudern der EU gegenüber der Erweiterung zeigt uns, so Bronislaw Geremek, “ein Europa, das sich vor sich selber fürchtet”. Die Aufgabe Europas in den nächsten Jahren wird darin bestehen, ein Integrationsmodell zu entwickeln, das sich nicht mehr auf Ängste gründet.
Helmut Kohl sagte vor dem französischen Senat im Oktober 1993: "Für mich als Deutschen ist es unvorstellbar, dass Polens und Tschechiens Westgrenze für immer die Ostgrenze der EU bleiben sollen", zitiert nach derFAZvom 14.10.1993. Der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe sprach von Deutschlands "vitalem Interesse" zu gewährleisten, dass die Ostgrenze der Nato und der EU nicht mit Deutschlands Grenzen identisch bleibt, vgl.Le Mondevom 1.10.1994.
Valerie Giscard d'EstaingundHelmut Schmidt, "Time to Slow-down and Consolidate around 'Europe-Europe'",International Herald Tribunevom 11.4.2000.
B. James, "In Germany, Firms Call for Slower EU Expansion ", International Herald-Tribune vom 26.4.00.
In: Nash Dziennik
Die Strukturfonds verfügen für den Zeitraum 2000-2006 über ein Budget von 213 Milliarden Euro. 70% des Betrages ist für Regionen mit einem Bruttosozialprodukt unter 75% des EU-Durchschnitts gedacht. Wie auch hinsichtlich der Agrarpolitik bedeutet der Erweiterungsprozess eine Neufestsetzung der Kriterien und Prioritäten für die Vergabe dieser Mittel.
Vgl.Eurobarometer 52(die Umfrage wurde Ende 1999 durchgeführt und im April 2000 in Brüssel veröffentlicht). EU-Bürger würden einer Erweiterung durch Norwegen und die Schweiz den Vorzug geben, die dieses Angebot bisher abgelehnt haben. Die Prioritäten für die Ostkandidaten reihen sich folgendermaßen: Ungarn, Polen, die Tschechische Republik, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen etc.
Es bedarf eigentlich keiner besonderen Betonung, dass die Angst vor Ausländern völlig übertrieben ist. Zudem zeichnet sich mit der Überalterung der westeuropäischen Bevölkerung ein Arbeitskräftemangel bereits für das nächste Jahrzehnt ab. Die Beitrittskandidaten sind ihrerseits Ziel von Gastarbeitern aus der ehemaligen Sowjetunion und dem Balkan geworden. Die meisten arbeiten nur zeitweilig hier (über 700 000 etwa in Polen). Die möglichen Auswirkungen der EU-Erweiterung untersuchen der Bericht einer Studiengruppe unter der Führung vonGiorgio Amato:The Borders of an Enlarged EU, hg. vom European University Institute, Florenz 1999, sowieHeather Grabbe,The Sharp Edges of Europe: Security Implications of Extending EU Border Policies Eastwards, Institute for Security Studies-WEU, Paris 2000.
Vaclav Klaus' Rede in Österreich, zitiert inLidove Novinyvom 25.06.00. Vaclav Havel bezog, wie vorauszusehen war, eine entgegengesetzte Position, er kritisierte die EU nicht für ihre Haltung gegenüber Haider, sondern weil sie sich über die Ereignisse in Tschetschenien ausschwieg, vgl.V. Havel/J. Rupnik, "Dialogue pragois sur l' Europe", inEurope magazine(Sommer 2000), S. 18 ff. (Transkription einer Sendung des Prager Rundfunks vom 26.2.2000).
Vgl.Vladimir Gligorov, "Delaying Integration: The Impact of EU Eastern Enlargement on Individual CEE Countries not Acceding or Acceding Only Later",Research Report nr. 267(Juli 2000), Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW).
Jacques Delors, "L' Europe doit se constituer une avant-garde" inLibérationvom 17./18. Juni 2000.
Published 7 September 2001
Original in English
Translated by
Andrea Marenzeller
Contributed by Transit © Transit
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