Die Neudefinition der Sicherheit

Über zehn Jahre nach Ende des Kalten Krieges hat der Westen am 11. September 2001 wieder einen Feind gefunden. So gilt es nun Klarheit über den neuen Konflikt herzustellen und eine neue Definition der Sicherheit zu finden, die es vorzieht den Hass durch Lernprozesse einzudämmen, anstatt ihn mit Einschüchterungstaktiken zu bekämpfen.

Die einzigartig monströse Qualität der Angriffe vom 11. September kann man sich mit Blick auf den Umstand klarmachen, daß wohl noch niemals außerhalb des Kontextes erklärter zwischenstaatlicher Kriege durch einen einzigen Akt organisierten Aggressionshandelns von Zivilpersonen so viele Menschen gleichzeitig ums Leben gebracht worden sind wie bei den Ereignissen in New York und Washington. Es erscheint heute nicht allzu riskant, diese Ereignisse als eine zeitgeschichtliche, innen- und außenpolitisch gleichermaßen folgenreiche Zäsur zu betrachten und sie in dieser Hinsicht auf eine Stufe mit den Ereignissen vom November 1989 zu stellen. Ganz schematisch könnte man sagen: Am 9.11. 1989 hat der Westen seinen Feind verloren. Am 11.9. 2001 hat er einen anderen Feind wiedergefunden.

Einzigartig ist auch die Tatsache der Koinzidenz von Massenmord und kollektiver instrumenteller Selbsttötung von (bis zu) 19 Personen. Die Frage ist, welcher Verbund von Motivlagen und Organisationsstrukturen dafür verantwortlich ist, daß die menschliche Selbsttötungshemmung im Dienste nicht nur eines expressiven Akts religiösen Wahns, sondern im Dienste eines zielgerichtet koordinierten Plans ausgeklinkt worden ist. Wir kennen sowohl massenhafte Selbsttötungen im Rahmen religiöser Sekten wie individuelle Selbsttötungen im Dienste militärischer Ziele (Kamikaze, Selbstmordattentate) – aber bisher nicht die Kombination beider Handlungstypen. (Ich erspare uns hier eine Betrachtung der Stammheimer Todesfälle, ebenso die der tamilischen “Schwarzen Tiger” in Sri Lanka.) Diese Kombination ist nur zu erklären auf dem Hintergrund organisierten Hasses. Noch für die tollkühnste Unternehmung militärischer Verbände gilt, daß die Akteure den eigenen Tod als eine bloße Eventualität in Kauf nehmen, nicht – wie hier – als eine unabwendbare Gewißheit im Dienste eines Zweckes selbst herbeiführen.

“Haß” ist eine Emotion, die sich als bedingungsloses Verlangen nach der Schädigung eines Haßobjektes umschreiben läßt, das oft ein Kollektiv ist. Dabei ist das Haßobjekt durch das definiert, was es “ist” – nicht dadurch, was es “hat” (wie bei der Emotion des Neides) und auch nicht dadurch, was es “tut” oder getan hat (Wut oder Zorn). Das Haben oder Handeln eines sozialen Objekts läßt sich verändern (nämlich durch Umverteilung bzw. Sanktionierung), das Sein nur vernichten. “Beim Haß gilt meine Feindschaft einer anderen Person oder einer Kategorie von Individuen, die als schlechthin und unaufhebbar böse angesehen werden. […] Die Wut will, daß der Übeltäter leidet, während der Haß will, daß er aufhört zu existieren.”1 Der Haß löst Handlungstendenzen aus, die nicht nur dem Gegner Gefahr bringen, sondern auch den Hassenden; er macht bedenkenlos gegen Nachteile, etwa gegen strafrechtliche Sanktionen. Der Haß kennt kein Kalkül der Verhältnismäßigkeit: Im Extremfall finden die Handlungsfolgen dieser Emotion weder im Umfang des zugefügten Schadens noch im Umfang der in Kauf genommenen Selbstschädigung des Akteurs eine Grenze. Im Gegensatz zu Emotionen wie Wut, Neid, Eifersucht, Trauer, Empörung usw. muß der Haß keine peinigende Gefühlsregung sein. Der Haß kann durchaus mit dem Selbstgenuß einer heroischen Mission einhergehen (wie man etwa in Ernst Jüngers politischen Äußerungen aus den 20er Jahren nachlesen kann). Es ist nicht bekannt, wie genau dieser Verzicht auf die Abwägung von Handlungsfolgen am Maßstab von (eigenen) Interessen wie an Werten (z. B. des Lebens anderer) entsteht. Nicht nur haben die Täter fremdes und eigenes Leben radikal mißachtet; sie haben auch, soweit bekannt, im Unterschied zu anderen und vergleichsweise kleinformatigen terroristischen Aktivitäten (etwa der baskischen ETA) auf jegliche Selbstbeschreibung, die Angabe von Forderungen und Zielen sowie den Versuch einer öffentlichen Selbstlegitimierung verzichtet. Wenn das eine richtige Beschreibung der Motivlage der Täter ist, dann ergäbe sich die Folgerung: Weil der Haß nicht ausgelöst ist durch das, was sein Objekt “getan” hat, kann das Objekt auch kaum etwas tun, um den Haß seiner Gegner abzuwenden. Es kann allenfalls durch einen an sich selbst vollzogenen radikalen Identitätswandel aufhören, der oder das zu sein, dem der Haß gilt. Der fundamentalistische Prediger Jerry Falwell hat völlig recht: Wenn die Amerikaner sämtlich seiner Sekte gefolgt wären, wären sie vielleicht verschont worden

Soziologisch kann jedenfalls ausgeschlossen werden, daß Haß und die aus ihm resultierenden Handlungen im Rahmen von Hierarchien befohlen oder durch gewährte Vorteile erkauft werden können. Vielmehr setzt Haß – sofern es sich nicht um eine individuelle psychopathische Erscheinung handelt – als Entstehungskontext eine kollektiv geteilte religiös basierte Glaubensgewißheit voraus, die auf einem bestimmten Bild von der göttlichen Weltordnung und den aus ihr resultierenden Pflichten beruht. Notwendiger Bestandteil dieser Gewißheit ist das Konstrukt eines Lebens nach dem Tode sowie die Vorstellung, daß die bedingungs- und (selbst)schonungslose Erfüllung des göttlichen Auftrags dann im Jenseits kreditiert werden wird. (Derartige Gewißheiten ergeben sich aus den aufgefundenen Selbstzeugnissen der Attentäter.) Aber auch solche Glaubensgebilde können nur in Wechselwirkung mit politischen und sozialökonomischen Kontextbedingungen entstehen, die ihnen zu einer gewissen Plausibilität verhelfen. Die Bewältigung des “Diesseits” ist keiner Anstrengung wert; was solchem Fatalismus bleibt, ist das paradiesische “Jenseits” mit seinen 72 Jungfrauen.

Der hypothetische Zusammenhang von Haß und dieser Art Glaubensgewißheit würde implizieren, daß die Emotion des Hasses gar nicht zweckrational organisierbar ist. Allenfalls kann eine bereits vorhandene Disposition zum Haß aktiviert und ermutigt werden, indem eventuell noch vorhandene Restbedenken hinsichtlich des Umfanges der (Selbst-)Schädigung weggewischt werden oder kognitive Deprivation eine angemessene Wahrnehmung des Haßobjektes behindert. Anders als die Emotion der Furcht ist die Emotion des Hasses keine, die planmäßig erzeugt und konditioniert werden könnte. Das gilt zumindest für die Kombination von Vernichtungswillen und Bereitschaft zur Selbstaufopferung – eine Disposition, die weder lehrbar noch belehrbar ist. Wir müssen uns diese Disposition wohl als das im wesentlichen nicht-verfügbare Ergebnis von uns pathologisch erscheinenden politischen und/oder religiösen Sozialisationsprozessen und ihren sozialen Kontexten vorstellen. Insofern ist auch das Deutungsmuster unstimmig, daß der Anschlag von übergeordneter Seite, von “Hintermännern” geplant und angestiftet worden wäre. Die Vorstellung, hinter den Taten bzw. Tätern stehe ein master mind, der das Geschehen in eigener Verantwortung veranlaßt habe, kommt wohl einem Kategorienfehler gleich. Der amerikanische Präsident hat dem Kongreß erklärt: “Al Qaida verhält sich zum Terror wie die Mafia zum Verbrechen.” Soziologisch ist das eine Fehldiagnose. Vielmehr war der Anschlag das in wie immer auch perverser Weise “autonome” Werk der Täter, keine Veranstaltung von “Bossen”. Vielleicht hat die kognitive Schematisierung der Anschläge nach dem Muster einer geplanten Verschwörung oder eines befohlenen militärischen Angriffs etwas Tröstliches, weil sie die Aussicht auf Abhilfe durch Enthauptung der unterstellten Hierarchie suggeriert. Aber Netzwerke kann man nicht enthaupten, erst recht keine Netzwerke von Hassenden. Das schließt selbstverständlich nicht aus, daß es (wie aufgrund zahlreicher Anhaltspunkte vermutet) im Umkreis von bin Laden eine Leitstelle gegeben hat, von der aus der Angriff koordiniert, finanziert und logistisch vorbereitet worden ist. Eine solche Leitstelle hätte aber die aggressive Energie nur gebündelt, nicht erzeugt. Sie läßt sich zudem leicht an anderem Ort wieder aufbauen, wenn sie an einem Ort zerschlagen ist, so lange das Rohmaterial des Hasses zur Verfügung steht, das nur noch in die koordinierte Tat umgesetzt werden muß.

Die Verletzbarkeit der Supermacht

Einzigartig sind die Ereignisse auch deshalb, weil der angerichtete Schaden nicht nur in dem exorbitanten Verlust von Menschenleben und Sachwerten bestand, sondern zugleich der ebenso überzeugende wie schockierende Nachweis der Verletzbarkeit und Wehrlosigkeit der einzigen verbliebenen Supermacht USA geführt wurde. Die Täuschung, daß Sicherheit mit den institutionalisierten Mitteln polizeilicher, militärischer und geheimdienstlicher Vorsorge gewährleistet werden kann, ist auf dramatische Weise enttäuscht worden. Die Radikalisierung der Lenkwaffentechnik durch Einsatz menschlicher Steuerungssysteme für menschliche Bomben führt diese Technik durch Überbietung ad absurdum. Der verursachte Schaden beschränkt sich daher nicht auf den Verlust von Leben und Eigentum. Er erstreckt sich auch auf die abermalige Zertrümmerung des leichtfertigen Glaubens, daß Leute, die mit modernen technischen Geräten umgehen können, deshalb auch schon mit den einfachsten Werten und Prinzipien der Moderne vertraut sein müßten. Er kulminiert in der lähmenden Angst vor einer Wiederholung von Akten, denen ganze Bevölkerungen einer unbestimmten Zahl westlicher Gesellschaften wehrlos ausgesetzt sein könnten. Daher der nicht so sehr aus übereinstimmenden Interessen, Werten und Politikzielen, sondern aus Angst und Verunsicherung geborene und zumindest seiner rhetorischen Intensität nach ebenfalls beispiellose, zumindest vorübergehend aktualisierte atlantische Schulterschluß. Seit dem 11. September gilt die Neudefinition, daß Sicherheit nicht schon dann gegeben ist, wenn potentiellen Angreifern im Sinne der Abschreckungslogik Furcht vor Sanktionen beigebracht wird; denn von Haß motivierte Akteure können, wie sich gezeigt hat, gegen Furcht (vor Gefahren für das eigene Leben) wie gegen Versprechungen innerweltlicher Vorteile durchaus immun sein. Der Zustand physischer Sicherheit wäre letztlich erst dann erreicht, wenn es niemanden gäbe, der dem zu sichernden Gemeinwesen die Emotion eines generalisierten Hasses entgegenbringt.

Zwei zusammenhängende sozialwissenschaftliche Fragen schließen sich an und beherrschen die gegenwärtige Debatte. Zum einen (1) die retrospektive und eher theoretische Frage nach der Genese des Hasses und die Konstitution des Haßobjektes. Zum anderen (2) die prospektive und eher praktische Frage nach geeigneten Gegenmaßnahmen, welche die Wiederherstellung von Sicherheit bewerkstelligen könnten.

ad 1: Es fehlt nicht an Erklärungsversuchen (zu schweigen von Rechtfertigungsversuchen), die Entstehung des Hasses zu “endogenisieren”, das heißt der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der globalen wirtschaftlichen Rolle der USA eine (Mit-)Ursächlichkeit an den politisch-psychologischen Entstehungsbedingungen des Hasses zuzurechnen. Das liefe auf die rationalisierende Verharmlosung des Hasses zur bloßen Wut über von den USA Getanes hinaus. Im Mittelpunkt solcher Überlegungen steht hier die Rolle der USA im israelisch-palästinensischen Konflikt. (In der gedanklichen Fluchtlinie dieser Erklärung liegt übrigens die Vermutung, daß die Länder der EU weit weniger, wenn überhaupt, von terroristischen Angriffen wie denen vom 11. September bedroht sind, weil sie sich nicht annähernd so sehr wie die USA politisch und militärisch zugunsten Israels positioniert haben.) Eine implizite Übernahme einer solchen Erklärung durch die US-Administration könnte man darin sehen, daß diese gegenwärtig wohl erstmals Wendungen wie die von der “‘Vision’ eines Palästinenserstaates” verlautbart, während sie die israelische Führung mit einer bisher ungekannten Härte und in aller Öffentlichkeit kritisiert. Aber solche Konzessionen und Selbst-Korrekturen der US-Politik sind bloße Nebeneffekte der Bekämpfung des Terrorismus; sozusagen “Kollateral-Nutzen”.

Der Nahost-Konflikt und die immer wieder verfehlte palästinensische Nationenbildung ist jedoch – ganz abgesehen von der begrenzten Rolle der USA in der Geschichte ihres Scheiterns – weit davon entfernt, ein pan-arabisches, geschweige denn ein pan-islamisches Gravamen zu sein. Ein Symptom für die Natur des Konfliktes kann man darin sehen, daß unter den Tätern keine Palästinenser waren. Deren Konflikt mit Israel findet in den ersten Verlautbarungen von bin Laden keine Erwähnung. Auch die irakische Niederlage im Golfkrieg wird nur in Bruchteilen der islamischen Welt als eine von den USA zugefügte Schmach erinnert. Angesichts der in der islamischen Welt höchst abgestuften und vielfach wohl lediglich rhetorischen Solidarität von Eliten wie Nicht-Eliten mit der Sache der Palästinenser greift zumindest die Israel-bezogene Erklärung für die Genese extremer Haßgefühle entschieden zu kurz. Es kommt hinzu, daß die mit guten normativen Argumenten geltend zu machenden Einwände gegen die amerikanische Außen-, Militär- und Wirtschaftspolitik, deren architektonischen Spitzensymbolen die Anschläge ja galten, vorzugsweise in Weltregionen außerhalb des Islam ihre Anhaltspunkte finden. Das gewählte Datum des 11. September steht mit dem 11. September 1973, also dem US-inspirierten Pinochet-Putsch in Chile, in keinerlei Verweisungszusammenhang. Die autoritären Regimes, welche die amerikanische Außenpolitik von Chile bis Vietnam zu installieren geholfen hat, sitzen ja in den islamischen Ländern verschiedentlich ganz ohne amerikanisches Zutun fest im Sattel; sie stoßen sogar, sofern sie sich als Faktoren regionaler militärischer Instabilität aufgeführt haben, auf die politische und militärische Gegnerschaft der USA (wie Irak, Iran, Pakistan, Syrien, Jemen und Libyen). Von revolutionären Widerstands- und Befreiungsbewegungen der “Dritten Welt” und ihrer vergleichsweise rationalen anti-imperialistischen und anti-amerikanischen Stoßrichtung unterscheidet sich der islamistische Fundamentalismus grundlegend dadurch, daß seine Motive mit solchen national- und sozialrevolutionärer Art kaum in Mischung zu gehen scheinen. Dem entspricht, daß es heute kein einziges annähernd liberal-demokratisches Land in der arabischen Welt gibt und die weltweite Welle des Übergangs zur Demokratie an dieser Weltregion spurlos vorbeigegangen ist – mit der symptomatischen Ausnahme des fehlgeschlagenen algerischen Demokratieversuchs. Dem entspricht weiter, daß die islamischen Länder, von denen ja einige Öl-Länder zur globalen Spitzengruppe im Hinblick auf ihr Pro-Kopf-Einkommen gehören, eine große Vielfalt sozialökonomischer und politischer Strukturen aufweisen und keineswegs sämtlich eine globale Armutsbevölkerung.

Deshalb scheint es, daß der haß-generierende Provokationseffekt der USA weniger in dem besteht, was ihre politischen und ökonomischen Eliten “tun” oder getan haben, als in dem, was sie in kultureller und moralischer Hinsicht “sind” und repräsentieren: nämlich einen als “teuflisch” verdammten Komplex von libertär-individualistischen und säkularen Mustern und Werten, gegen deren Penetrationsvermögen sich reaktionär-fundamentalistischen Kräfte der islamischen Welt wehrlos wähnen und deshalb zu haßgetriebenen Panikreaktionen neigen. Eine weitere in Betracht kommende Deutung beschränkt sich darauf, daß die USA sich lediglich deswegen zum bevorzugten Haßobjekt qualifiziert haben, weil sie als größte Militär- und Wirtschaftsmacht und wegen ihres Nimbus der Unangreifbarkeit einfach das weltweit lohnendste Ziel für terroristische Ambitionen boten. Es finden sich in Europa schlechterdings keine Bauwerke, deren Zerstörung eine vergleichbare global widerhallende symbolische Wirkung hätte entfalten können.

ad 2: Noch am 11. September hat der amerikanische Präsident den Angriff als einen “Krieg” bezeichnet. Der Gebrauch dieser Metapher hat nicht viel mehr als den taktischen Sinn, Anordnungsbefugnisse zu zentralisieren, NATO-Ressourcen verfügbar zu machen, Beweislasten (z. B. über die “Täterschaft” von bin Laden oder al Qaida) zu ermäßigen, Einstellungen der nationalen Geschlossenheit zu aktivieren und den Primat der Außenpolitik zu etablieren. Aber es bleibt doch eine metaphorische Kennzeichnung der Konfliktlage, weil es keine Kriegserklärung und keinen identifizierten Kriegsgegner gibt, kein lokalisierbares Schlachtfeld, vor allem aber kein Kriegsziel, das in der Form einer verläßlichen Neutralisierung des gegnerischen Aggressionspotentials, einer Kapitulation und eines Friedensschlusses jemals evidentermaßen erreicht werden könnte. Andererseits wäre allerdings auch die Kategorie des terroristischen “Verbrechens” inadäquat, weil zum einen die unmittelbaren Täter sich trivialerweise bereits selbst mit dem Tode bestraft haben und andererseits, weil es – unter anderem wegen des bisherigen Widerstandes der USA – bisher kein internationales Strafgericht gibt, vor dem Taten, Täter und Beihelfer gegebenenfalls und mit Aussicht auf weltweite Legitimität zur Anklage gebracht werden könnten. Die Verwendung der Kriegs-Metapher appelliert an die Bereitschaft der eigenen Bevölkerung, sich in kriegerischen Tugenden wie Ausdauer, Härte, Entschlossenheit, Einheit und Verzichtbereitschaft zu üben. Außerdem signalisiert die Metapher des “Krieges” mit ihrer Freund/Feind-Schematisierung die Perspektive auf eine zeitlich unbegrenzte Militarisierung der amerikanischen Innenpolitik wie der internationalen Beziehungen der sogenannten “zivilisierten” Welt unter US-amerikanischer Hegemonie. Kehrseite dieser Militarisierung könnte die Entpolitisierung innen- und außenpolitischer Beziehungen sein, die Herabstufung “normaler” politischer Konfliktthemen ins Illegitime und die Dominanz einer öffentlichkeitsenthobenen Arkanpolitik mit unmittelbarer Auswirkung besonders auf die Einwanderungspolitik sowie den operativen Gehalt der Grundrechte insgesamt, und das alles nicht nur in den USA. (Eine Sprecherin der liberalen Bürgerrechtsorganisation ACLU in Amerika stellt fest: “Die geheimen Verhaftungen von mehr als 800 Leuten in den vergangenen Wochen kommen der Praxis lateinamerikanischer Diktaturen erschreckend nahe, Menschen einfach ‘verschwinden’ zu lassen.”) Diese Konstellation unterscheidet sich von den Hochzeiten des Kalten Krieges unter anderem dadurch, daß die US-Hegemonie sich auf einen territorial erweiterten Bereich erstreckt und nun vor allem auch Rußland einschließt.

Verpflichtungen, die Rechte implizieren

Anders als der Kalte Krieg mit seiner Abschreckungslogik der mutually assured destruction (MAD) und dem “Gleichgewicht des Schreckens” ist der antiterroristische “Krieg” weit weniger gegen die Gefahr einer Eskalation gefeit. Der Kalte Krieg wurde ja durch die wechselseitige Erwartung beider Seiten gezähmt, daß jeder der Beteiligten lieber überleben als nicht überleben wollte. Für diese Unterstellung bieten, wie gesagt, haßgetriebene Gegner keine Gewähr. Hinzu kommt, daß die beiden einschlägigen Gerechtigkeitsgebote, die bei dieser Kriegführung eine Rolle spielen, praktisch unerfüllbar sind: das Gebot, daß die Ziele von Vergeltungsakten nachweislich die “Schuldigen” sind, und das komplementäre Gebot, daß Unschuldige von “Kollateralschäden” zu verschonen sind. Michael Walzer hat recht, wenn er im Blick auf diese beiden Kriterien feststellt: “Wenn wir sie nicht erfüllen, dann werden wir unsere Zivilisation dadurch verteidigen, daß wir es den Terroristen nachmachen, die sie angreifen.”2 Wenn man als ein drittes Kriterium die präventive Wirksamkeit militärischer Interventionen hinzunimmt, also ihren Abschreckungseffekt, dann sind legitimierbare Erfolge noch schwerer zu haben. Schlimmer noch: bin Laden und seine Gesellen werden mit einem Charisma und einer Zufuhr an Solidarität versorgt, die sie sich aus eigener Kraft in der islamischen Welt kaum hätten verschaffen können. Vorausgesetzt, die oben angestellten Vermutungen sind richtig und der Terrorismus folgt keiner militärischen Logik von Befehl, Gehorsam und hierarchischer Planung, sondern einer Logik des Hasses und der Bereitschaft zur Selbstvernichtung – dann werden die angestrebten generalpräventiven Wirkungen selbst punktgenauer militärischer Angriffe ausbleiben und statt dessen zu demonstrativen Akten einer “Vergeltung der Vergeltung” führen, also zur Eskalation und Perpetuierung des Konflikts.

Andererseits erlauben Wut und Empörung, die tiefe und berechtigte moralische Empörung und schiere Angst, die nicht nur die amerikanische Bevölkerung erfaßt haben, es der gegenwärtigen (und keiner denkbaren alternativen) amerikanischen Administration auch nicht, auf den Einsatz militärischer Mittel zu verzichten. Aus innenpolitischen Gründen konnte sich der amerikanische Präsident nicht leisten, diese Mittel nicht einzusetzen – was auch immer gegen einen Erfolg ihres Einsatzes sprechen mag. Die amerikanische Administration wird – ähnlich wie im Falle der Kosovo-Intervention – noch viel Mühe darauf zu verwenden haben, die tatsächlichen Folgen ihrer militärischen Unternehmungen als Erfolge zu verkaufen. Das kann nur im Wege der Zielverschiebung gelingen: Erst ging es darum, bin Laden festzunehmen; inzwischen schon darum, das Taliban-Regime gegen ein anderes auszuwechseln; und eines Tages, wer weiß, vielleicht nur noch darum, Usbekistan zu einem loyalen US-Verbündeten zu machen. Immerhin hat sich die Bush-Regierung, unterstützt und zum Teil herausgefordert von den Medien, mit bemerkenswerter Konsequenz und Differenziertheit bemüht, nach innen und nach außen klarzustellen, wie “anders” dieser “Krieg” ist und sein wird, daß ein Verbund von militärischen, diplomatischen, polizeilichen, humanitären und geheimdienstlichen Mitteln erforderlich ist, daß ein “Sieg” als solcher schwer zu dokumentieren sein wird, daß es sich nicht um einen Krieg zwischen Staaten oder Zivilisationen handelt, usw.

Nicht zu übersehen ist allerdings auch, daß die neuartige internationale Konfliktlage eine Gelegenheitsstruktur geschaffen hat, die für ökonomische und mehr noch für politische Interessenten die Aussicht auf eine reiche Ausbeute an windfall profits bietet. Die Durchsetzung politischer Projekte, die ohne diese Konfliktlage keine Chance gehabt hätten, wird nun zu einer Sache von Tagen oder Wochen: Der Volksrepublik China gelingt der unbehelligte Einzug in die WTO, Putin bekommt eine “Neubewertung” des Tschetschenien-Krieges geschenkt, die Luftfahrtindustrie ein gigantisches Subventionsprogramm und grünes Licht für einen neuen Konzentrationsschub, Interessenkonflikte zwischen EU und USA werden stillgestellt, die Belieferung des britischen Drogenmarktes mit Opiaten aus Afghanistan wird wirksam unterbrochen, zuvor nahezu unterschriftsreife Liberalisierungen des Personenverkehrs über die Südgrenze der USA sowie die Ostgrenze der EU werden im Handumdrehen von der Agenda genommen, eine schrille law&order -Partei erlebt einen ungeahnten Wahlerfolg und gegen die Rasterfahndung (mit ihren willkommenen Nebenwirkungen auf Geldwäsche und Steuerhinterziehung) regt sich kaum noch ein vorzeigbarer Einwand. Alle sitzen ab sofort “im selben Boot”. Auf die Landschaft legt sich der Mehltau der political correctness. Zwei Drittel der amerikanischen Bürger erklären sich bei Umfragen einverstanden, zum Zwecke der Bekämpfung des Terrorismus die Verfassung zu suspendieren. In einem Nachrichtenmagazin wird der Vorschlag erörtert, die Folter als Mittel der polizeilichen Ermittlung zuzulassen. Binnen weniger Wochen haben die Folgen des 11. September einen neuen Aggregatzustand der nationalen und internationalen Politik, ihrer Themen und Akteure herbeigeführt.

Nach weniger als zwei Monaten, die seit der Katastrophe von New York und Washington vergangen sind, zeichnet sich eine innen- und außenpolitische Zerreißprobe der westeuropäischen Demokratien ab, in denen sich ganz unvorbereitet zwei Lager gegenüberstehen. Auf der einen Seite des Konflikts stehen die Befürworter einer “uneingeschränkten” Solidarität mit den USA, die im Namen von “Sicherheit” und durch martialische Dramatisierung geborgter Bedrohungsszenarios die Bevölkerung auf Kriegsbereitschaft und innenpolitische Feindbilder einstimmen möchten. In Kauf genommen wird dabei nicht nur die Beschädigung liberaler Grundsätze, sondern auch die weitere Verschlechterung der Aussichten auf zivilisierende Ergebnisse eines kaum begonnenen “interkulturellen Dialogs” mit der islamischen Welt. Mit deutlichen Anzeichen von Angstlust schwelgen deutsche Medien Anfang November in der Meldung, daß nun “die ersten Fälle von Anthrax” in Deutschland aufgetreten seien; so redet man von Ereignissen, deren Eintreten gewiß ist und von denen man nur noch nicht den Zeitpunkt kennt, wie vom ersten Schnee. Auf der anderen Seite steht eine bunt gemischte Koalition aus politischen Profiteuren pazifistischer Emotionen und anti-amerikanischer Ressentiments, aber auch aller derer, die über die Ziel-, Sinn- und Ergebnislosigkeit des amerikanischen Kriegshandelns in Afghanistan, die eingetretenen und absehbaren “Kollateralschäden” sowie über den gewaltigen Mobilisierungserfolg zunehmend beunruhigt sind, den dieser Krieg moralisch verwahrlosten Anhängern des islamistischen Fundamentalismus verschafft.

Die beispiellos umfassende internationale Allianz zur Bekämpfung des Terrorismus, welche die USA binnen dieser wenigen Wochen auf die Beine gestellt haben, erzeugt für die Beteiligten militärische und diplomatische Pflichten. “Solidarität” mit den Amerikanern wäre indes auch möglich (und sogar authentischer), wenn sie ohne die Fiktion einer Gefährdungsgemeinschaft auskäme, – ohne die Propaganda, wir säßen “im selben Boot” mit ihnen. Aber ohne diese Fiktion wäre der geforderte Schulterschluß noch anstrengender, als er es in Europa ohnehin von Tag zu Tag zunehmend ist. Was die europäischen Teilnehmer der Allianz angeht, so agieren sie als Nationalstaaten, nicht als gemeinschaftliche Träger der vielberufenen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik (für die sich hier eine schöne Bewährungsgelegenheit in puncto “europäische Sicherheitsidentität” ergeben hätte!). Statt dessen sehen wir eine deutliche innereuropäische Abstufung der Solidaritätsbekundungen, mit dem Vereinigten Königreich als dem europäischen Protagonisten, dem die Bundesrepublik Deutschland in dichtem Abstand folgt, während die Franzosen und Belgier es ein gutes Stück weniger enthusiastisch angehen lassen mit dem atlantischen Schulterschluß und den militärischen Verpflichtungen, die er impliziert. Aber diesen Verpflichtungen stehen Rechte gegenüber, die über kurz oder lang einzuklagen sein werden: das Recht, informiert und konsultiert zu werden, und das Recht, für nur zeitweise verdrängte Vorbehalte gegenüber der amerikanischen Sicherheits-, Wirtschafts- und Nahostpolitik ein gewisses Gehör bei der Hegemonialmacht zu finden. Die “uneingeschränkt” solidarischen europäischen Regierungen werden es sich schon aus ihren jeweiligen innenpolitischen Gründen gar nicht leisten können, diese Rechte auf Dauer brachliegen zu lassen.

Schließlich könnte jedem Teilnehmer und Beobachter dieses metaphorischen Krieges klar sein, daß Erfolge nicht primär vom Einsatz der Mittel militärischer Vergeltung und Repression, sondern von der zivilisierenden Einflußnahme auf die Entstehungskontexte von Haß abhängen. Die Frage ist hier, welche Seite den ganz und gar unmilitärischen “Meta-Konflikt” über die Definition des Konflikts gewinnt: Handelt es sich um einen Konflikt zwischen der islamischen Welt auf der einen Seite und den arroganten, räuberischen und korrupten Sachwaltern westlicher Rationalität auf der anderen? Oder handelt es sich um einen Konflikt zwischen Anhängern menschheitsverbindlicher Minimalstandards zivilisierten Zusammenlebens und verächtlichen Banden von fanatisierten Barbaren? Die Anstrengungen, die erforderlich sind, wenn die letztgenannte Deutung die Oberhand gewinnen soll, auch bei denen, deren materielle und ideelle Lebenswelt sie für die erstgenannte Lesart durchaus empfänglich machen – diese Anstrengungen gehen nicht nur über die Mobilisierung militärischer Ressourcen, sondern auch über die diskretionäre Zuwendung von Entschuldungsmilliarden und humanitären Hilfsprogrammen weit hinaus. Es sind Anstrengungen, die ausgesprochen “weiche” Kategorien internationalen politischen Handelns ins Spiel bringen: die Institutionalisierung von Menschenrechten, eine Praxis der Anerkennung und Vertrauensbildung zwischen Kulturen und Religionen, die supranationale Gewährleistung sowohl der Stabilität wie der Friedlichkeit von Staaten, die Sicherung glaubwürdiger und fairer ökonomischer Entwicklungsperspektiven – also sämtlich weithin unerprobte Mittel der internationalen Politik, die eingesetzt werden müssen, wenn der erstgenannten Deutung des Konflikts auf dem Wege eines moralischen Lernprozesses ihre Grundlage entzogen werden soll.

Statt dessen verlassen wir uns auf Versuche zur militärischen Übermächtigung des Terrors – so, als sei die alte Definition von Sicherheit noch in Kraft und als könne man Haß dadurch bekämpfen, daß man seine Protagonisten das Fürchten lehrt. Aber der achtbare Grundsatz, man solle nichts unversucht lassen, um dem abgründig niederträchtigen Tun der Terroristen ein Ende zu setzen, verliert seine Rationalität wie seine moralische Verpflichtungskraft dann, wenn seine Befolgung absehbar vor allem den Kollateralschaden mit sich führt, die Lernfähigkeit aller Beteiligten stillzustellen.

Jon Elster, , New York 1999, S.65, 67 (Übs. v. Verf.).

21.9.2001 (Übs. v. Verf.).

Published 9 February 2002
Original in German
First published by Blätter für deutsche und internationale Politik 12/2001

Contributed by Blätter für deutsche und internationale Politik © Claus Offe / Blätter für deutsche und internationale Politik / Eurozine

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