Die Musik der Zukunft

Italien - altes Europa, neues Europa, Europa im Wandel

Venedig kontra Lampedusa: Bei einer Reise durch Italien beobachtet Slavenka Drakulic, wie das alte Europa einem neuen weicht. Anstatt zu versuchen, unsere kulturelle Vergangenheit zu konservieren, sollten wir uns vielleicht mit einem anderen Gedanken anfreunden: Das Phänomen Migration wird vieles von dem, was wir für “typisch europäisch” halten, dem eigenen Erscheinungsbild einverleiben.

Für die Venezianer erscheint Venedig aus der Ferne am schönsten, so malerisch wie in einer von Canalettos Veduten aus dem 18. Jahrhundert. Wenn sich an einem Herbstnachmittag die prächtigen Paläste im Wasser spiegeln, sieht die Stadt in ihrer unwirklichen Schönheit wie ein Filmset aus.

In der Tat ist Venedig heute nicht viel mehr als eine Kulisse.

Nachdem meine Nachbarin endlich aus dem ersten Stock des Palazzo, in dem ich eine Wohnung gemietet habe, heruntergestiegen ist, ziehe ich die schwere Haustür hinter uns zu. Signora Immacolata ist weit über achtzig und geht am Stock. Sie will mir den nächstgelegenen Supermarkt zeigen, wofür wir die Calle di Fabbri durchqueren müssen. Wir kommen nur langsam voran, nicht nur wegen des hohen Alters der Signora, sondern auch, weil sich in der Gasse zwischen Rialtobrücke und Markusplatz schon um neun Uhr morgens die Touristen drängeln. Die winzige, gebeugte, ganz in Schwarz gekleidete Signora Immacolata zieht ihren Einkaufswagen hinter sich her und bahnt sich mit großer Mühe einen Weg durch die Menge. An der ersten kleinen Brücke hält sie inne, ergreift das Geländer und zieht sich die Stufen hinauf. Auf dem Weg zum Supermarkt liegen zwei dieser Treppenbrücken. Obwohl der Laden am Campo Santa Maria Formosa nur fünf oder sechs gemütliche Gehminuten von unserem Haus entfernt liegt, braucht Signora Immacolata für die Strecke mindestens zwanzig Minuten. Als wir unser Ziel erreicht haben, erwartet uns an der Kasse eine lange Warteschlange. Offenbar suchen alle preisbewussten Touristen diesen Ort früher oder später auf. So kommt es, dass die alte Dame für ihren Einkauf mindestens eine Stunde braucht. “Und so ist es jeden Tag …”, seufzt sie. Mit dem Laufen klappt es noch recht gut, aber hinauftragen kann sie die Einkäufe nicht mehr selbst. Zum Glück kommt ihre badante bald zurück, die Kroatin, die ihr im Haushalt hilft.

Früher gab es in der Nähe ihrer Wohnung im Corte Gragolina eine Bäckerei, kleine Gemischtwarenläden, einen Metzger, einen Gemüsehändler, einen Zeitungskiosk und einen Schuhmacher – kurzum, alle Waren und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs waren gleich nebenan zu finden. Inzwischen wurden fast alle Geschäfte zu Souvenirläden umgebaut. Durch Signora Immacolatas Wohnstraße zieht sich eine ununterbrochene Kette von kleinen Shops, die falsches Muranoglas verkaufen, und Pizzerien, die für ein Stück Pizza acht Euro verlangen. Das Zielpublikum der Restaurants, Bars und Bäckereien sind die Touristen. Rund um den Markusplatz gibt es nur zwei Supermärkte, einer davon winzig klein; das vermutlich einzige Postamt in der Umgebung fand ich erst nach langer Suche.

Touristenshop in Venedig. Foto: Giovanni Dall’Orto. Source: Wikimedia

“In Venedig kann man heutzutage nicht mehr normal leben”, sagt einer meiner Nachbarn, der Bankangestellte von gegenüber. “Morgendliche Verabredungen oder Geschäftstermine einzuhalten ist geradezu unmöglich, denn ein Mann in meinem Alter boxt sich nicht so einfach bis zum Vaporetto durch. Die ganze Infrastruktur ist auf Touristen ausgerichtet. Das fängt bei den Preisen in Restaurants und Supermärkten an und geht bis zu englischsprachigen Theateraufführungen und klassischen Kirchenkonzerten, zu denen die Musiker barocke Kostüme tragen. Immobilien sind absurd teuer, und es gibt immer weniger Supermärkte, Schulen, Kindergärten, Arztpraxen und Krankenhäuser.”

Natürlich hat mein Nachbar Recht. In den letzten fünfzig Jahren hat das historische Zentrum Venedigs etwa 60 Prozent seiner Einwohner verloren. Geht man von der aktuellen Einwohnerzahl der gesamten Kommune aus, lebt nicht einmal jeder vierte Venezianer, zumeist ältere Leute, im historischen Teil der Stadt. Noch vor wenigen Jahrzehnten wohnten in der Altstadt 150 000 Menschen, heute sind es keine 60 000, Tendenz sinkend. Das liegt zum einen daran, dass die Immobilienpreise zu hoch sind und die Venezianer in die umliegenden Stadtteile abwandern, nach Mestre zum Beispiel; zum anderen gibt es für die gut ausgebildete Jugend keine Arbeit mehr. Die Universität von Venedig genießt einen ausgezeichneten Ruf und zieht viele Studenten an; dauerhaft bleiben möchte aber kaum einer von ihnen. “Wenn sie nicht gerade als Kellner, Reinigungskraft oder Altenpfleger arbeiten wollen, bleiben ihnen nicht mehr viele Möglichkeiten. Und selbst diese Jobs werden größtenteils von Ausländern erledigt, von Einwanderern”, erklärt mein Nachbar resigniert.

Die Venezianer brauchen einem dennoch nicht leidzutun. Manche verdienen ein kleines Vermögen damit, ihre Wohnungen zu vermieten, andere haben ihren Grundbesitz gewinnbringend verkauft. Tatsache ist jedoch, dass das Leben für die Zurückgebliebenen, darunter viele ältere Menschen, immer komplizierter wird. Die berühmte Lagunenstadt muss den Ansturm von mehreren Millionen Touristen jährlich verkraften. Die Menschenmassen schieben sich durch Straßen und Gassen, die an den meisten Stellen kaum mehr als drei oder vier Meter breit sind. Die Venezianer wissen längst, dass sie nicht in einer Stadt, sondern in einem Museum wohnen. Dass Venedig immer weniger ein authentischer, lebendiger Ort ist und immer mehr ein Museum für europäische Geschichte, das die Pracht, den Reichtum, die Macht, die Schönheit und die Kunst einer vergangenen Epoche zur Schau stellt. Nur aus diesem Grund kommen so viele Touristen her. Die Tourismusindustrie hat längst erkannt, dass Venedigs Schönheit sich nicht nur in bare Münze umsetzen lässt, sondern ausreicht, um aus der ganzen Stadt ein Freilichtmuseum zu machen.

Gleichzeitig ist das Venedig von heute eine perfekte Metapher für das Europa von damals; jenes Europa, auf dessen kulturelle Werte sich Europäer berufen, auf die sie stolz sind und die sie schützen wollen.

Im süditalienischen Bari stellt sich ein vollkommen anderes Bild dar. Es ist Ende September und noch warm, die meisten Feriengäste sind abgereist. Betritt ein einsamer Tourist an diesem Sonntagabend die Piazza del Ferrarese in der Altstadt von Bari, sieht er Einheimische auf niedrigen Mauern oder beim Bier im Café sitzen. Andere spazieren auf dem Platz herum, der den Stadtbewohnern als corso, als Flaniermeile dient. Tausende Menschen haben sich hier versammelt, und es macht den Eindruck, als würden alle sich kennen. Es ist neun Uhr abends, die kleinen Kinder spielen Fangen und die älteren essen Eis, während ihre schick gekleideten Eltern und Großeltern in Gruppen herumstehen und lautstark diskutieren. Die Szenerie erinnert an Vittorio de Sicas Schwarzweißfilme aus den Sechzigerjahren.

Diese Stadt lebt. Wenn das alte Europa in Venedig stirbt, so kommt hier in Bari ein neues zur Welt. Bari ist einer der ersten Anlaufpunkte für Einwanderer, die nach Europa wollen.

Vor über zwanzig Jahren, im Sommer 1991, erreichte der albanische Frachter Vlora den Hafen von Bari. Er hatte mehr als 20 000 Flüchtlinge an Bord. Ältere Leser erinnern sich vielleicht an den Exodus über die Adria, der vor der “samtenen Revolution” einsetzte – falls es in Albanien je so etwas gab. Damals gingen die Bilder des völlig überladenen Frachters um die Welt. Es gibt Fotos, die zum Symbol einer Epoche oder eines historisch bedeutsamen Ereignisses wurden, so zum Beispiel Jeff Wideners Aufnahme von dem einsamen Mann, der sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens den Panzern entgegenstellt. Oder Nick Uts Foto von dem kleinen nackten Mädchen und seinen Brüdern, die in Vietnam von Napalm verbrannt werden. Eddie Adams’ Bild von dem Polizisten, der in Saigon einem Vietcong in den Kopf schießt. Oder die Aufnahmen der Folterungen in Abu Ghreib. Ähnlich erging es Luca Turis Schnappschuss von der Vlora. Die Fotoausstellung “Flug der Adler”, die an den zwanzigsten Jahrestag des Flüchtlingsdramas erinnert, hatte gerade im Foyer des Teatro Petruzzelli eröffnet. Als die Vlora seinerzeit in den Hafen einlief, drängelten sich die Menschen auf den Decks, ganze Menschentrauben hingen von der Reling und den Schornsteinen, von Seilen und Masten. Im nächsten Bild hat das Schiff den Hafen fast erreicht, und die ersten Flüchtlinge lassen sich ins Wasser fallen und schwimmen los, so als fürchteten sie, das rettende Ufer könnte jeden Augenblick verschwinden. Es gibt ein fantastisches, beängstigendes, aus der Vogelperspektive aufgenommenes Foto, das die Menschenmassen an Land zeigt, unter der sengenden Sonne. Die Szene – 20 000 Menschen genau in dem Augenblick, als sie endlich wieder festen Boden unter den Füßen haben – entfaltet eine geradezu biblische Wucht.

In den folgenden Jahren kamen etwa 100 000 Albaner nach Italien. Inzwischen ist ihre Zahl auf eine halbe Million angestiegen. Und seit dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union sind noch einmal eine Million Rumänen dazugekommen. Angeblich stellen Roma, die Prügelknaben der europäischen Anti-Einwanderungspolitik, ungefähr zehn Prozent von ihnen. Die westlichen Staaten entziehen dieser Bevölkerungsgruppe die Aufenthaltsgenehmigung und schieben sie ab, so in Italien und Frankreich, während sie im Osten kaserniert, verfolgt und ermordet wird – in der Slowakei, der Tschechischen Republik und in Ungarn.

Und doch wurde die Einwanderungswelle in Italien und im restlichen Europa noch vor fünf oder sechs Jahren als weniger großes Problem wahrgenommen als heute. Die ausländerfeindliche und vor allem anti-muslimische Hysterie, die nach der Kontroverse um die Karikaturen des Propheten Mohammed im Jahr 2005 einen Höhepunkt erreichte, hat seit dem Einsetzen der Rezession 2008 bedenkliche Ausmaße angenommen. Die Bevölkerung von Bari zeigt sich dennoch geduldig und hilfsbereit, waren doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts Millionen von verarmten Italienern aus der Provinz Puglia nach Amerika aufgebrochen, ins gelobte Land, um dort innerhalb von zwei oder drei Generationen vollständig assimiliert zu werden. Hundert Jahre später ist Italien selbst zum gelobten Land geworden.

In jüngster Zeit dient Bari als Durchgangsstation für Immigranten. Die meisten von ihnen werden in der Nähe des Flughafens untergebracht und sind nicht aus wirtschaftlichen, sondern aus politischen Gründen hier; sie kamen nach den politischen Unruhen in Nordafrika mit einer Welle von etwa 40 000 Tunesiern und Libyern über die Insel Lampedusa ins Land. Die italienischen Behörden bringen Neuankömmlinge in Aufnahmezentren für Asylsuchende (CARA) unter. Später entscheidet eine Kommission über ihr weiteres Schicksal. Im September 2011 gibt es in Italien acht solcher CARA-Zentren, dreizehn Anstalten für Abschiebungshaft (CIE) und sieben Notaufnahmezentren (CPSA). Die Anzahl der eingesetzten Kommissionen ist vergleichsweise klein. Letzten Sommer geriet Bari wieder in die Schlagzeilen, diesmal wegen der Insassen eines CIE. Hunderte von ihnen gingen Anfang August in den Außenbezirken auf die Straße, stoppten Züge und lieferten sich Auseinandersetzungen mit der Polizei. Es kam zu 80 Verletzten und 29 Festnahmen.

Ich befrage meine neuen Bekannten zu dem Vorfall. Mittags treffen sie sich im Il Borghese, einer Bar an der Kreuzung von Via de Rossi und Corso Vittorio Emanuele: die Anwälte Dario Belluccio und Maria Pia Vigilante von der Bürgerorganisation “Giraffe”, die Einwanderer berät; Maddalena Tulanti, Redakteurin beim Corriere del Mezzogiorno; die Sozialarbeiterin Silvana Serini und Erminia Rizzi von der örtlichen Beratungsstelle für Immigranten. Das Problem sei komplex, erklärt Bürgerrechtler Dario. Er ist einer der wenigen, die Zugang zum CIE haben. Normalerweise ist weder Anwälten noch Journalisten der Zutritt zu den Abschiebungshaftanstalten erlaubt. Dario erzählt, dass zusammen mit den Libyern auch Menschen aus Ghana, Nigeria, Mali, Burkina Faso und anderen afrikanischen Staaten nach Italien kamen, die jahrelang in Libyen gearbeitet und gelebt hatten. Anders als die Libyer können sie für sich jedoch keinen Kriegsflüchtlingsstatus beanspruchen. Sie werden nach den Vorgaben für das jeweilige Herkunftsland behandelt, egal, wie viele Jahre sie in Libyen verbracht haben. Sie haben keine Chance auf eine vorübergehende Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Nicht nur, dass sich das Entscheidungsverfahren quälend lange hinzieht; während der Wartezeit behandelt man sie wie gewöhnliche Kriminelle. Sie leben ohne Kontakt zur Außenwelt und unter schlimmeren Umständen als im Gefängnis, sagt Dario. Sie sind auf die Straße gegangen, um auf ihre unhaltbare Situation aufmerksam zu machen.

Viele der Flüchtlinge, die nach Lampedusa kommen, sind Kinder. Silvana betreut Minderjährige ohne Begleitung, in anderen Worten: Flüchtlingswaisen. Sie erzählt von zwei afghanischen Brüdern, die vor dem Krieg in ihrer Heimat flohen und als Teenager zu ihr kamen. Sie konnten weder lesen noch schreiben, machen inzwischen ihren Schulabschluss und arbeiten nebenher, erklärt Silvana stolz. Sie zeigt mir die letzte Ausgabe der Wochenzeitung l’Espresso, in der Fabrizio Gatti einen Artikel mit dem Titel “Das Kindergefängnis” veröffentlicht hat. Im Notaufnahmelager auf Lampedusa harren 225 Kinder und Jugendliche aus, seit Monaten und ohne räumliche Trennung von den erwachsenen Insassen. Sie leben unter unwürdigen Umständen und haben nicht einmal das Nötigste, dabei sind viele dieser Kinder schwer traumatisiert. Manche haben ihre Eltern sterben sehen, alle haben tagelang Hunger und Durst gelitten. Zwischen März und August 2011 sind 707 Minderjährige auf die Insel gekommen, darunter viele Babys und Kleinkinder. Andere sind hier auf Lampedusa geboren. Ihre Lage ist furchtbar, ihre Zukunft ungewiss.

Don Angelo, Priester in der Kirche von San Sabino direkt am Stadtstrand von Pane e Pomadoro, ist für Hilfe suchende Flüchtlinge die erste Anlaufstelle im Ort. Als die Albaner mit der Vlora in See stachen, hatte er gerade das Priesterseminar absolviert. Don Angelo hat die Flüchtlinge auf dem Wasser und im Stadion gesehen, wo 10 000 von ihnen interniert waren. Damals ließen die Behörden sie erst auf Drängen des bekannten Pazifisten und Erzbischofs Antonio Bello frei. Don Angelo hat Einsätze als humanitärer Helfer im Bosnien- und im Kosovokrieg hinter sich.

Der große Mann mit dem roten Haarschopf und dem entwaffnenden Lächeln spricht über “institutionellen Rassismus”, über die Gründe für den Zorn der Insassen, die sich aufgrund ihrer Hautfarbe – und im direkten Vergleich mit den Libyern und Tunesiern – diskriminiert fühlen. Er bestätigt Darios Einschätzung, derzufolge die Menschen im Lager unter unwürdigen Bedingungen und in ständiger Ungewissheit leben; keiner weiß, wie die Kommission entscheiden wird. “Ihre Wut ist ansteckend und wird auf die anderen Lager übergreifen. Es ist nicht so, dass die Einwanderer dankbar ein Stück trockenes Brot entgegennehmen und dann geduldig abwarten. Sie wollen wissen, wie es weitergeht.” Schon vor den Ausschreitungen in Bari ist es zu Protesten gekommen, in Mineo zum Beispiel, in Crotone und selbst in Norditalien. Die Immigranten sind über die Art und Weise, wie die Verwaltung mit ihnen umgeht, zutiefst verbittert. “Das ist reine Verzweiflung, keine von außen angestiftete Revolte. Unglaublich, dass die Behörden das nicht einsehen wollen”, klagt Don Angelo.

Die Kluft zwischen Flüchtlingen und Ämtern ist eine Sache; inzwischen hat sich eine zweite aufgetan, die zwischen Flüchtlingen und Einheimischen. Die knapp 5000 Einwohner der Insel Lampedusa, die Tunesien näher liegt als Sizilien, haben anfänglich Schiffbrüchige aus dem Meer gezogen, Hunderte von Leben gerettet und die Flüchtlinge nach Kräften unterstützt. Aber im vergangenen September, als über 40 000 Afrikaner die Insel erreicht hatten, kippte die Stimmung. Die Bewohner wendeten sich von den Flüchtlingen ab, als diese das Notaufnahmezentrum in Brand steckten, das mit tausend Personen – weit über seine ursprüngliche Kapazität hinaus – hoffnungslos überbelegt war. Sie hatten gehofft, die Behörden zu schnelleren Entscheidungen zwingen zu können. Bei Zusammenstößen mit der Polizei wurden etwa zwanzig Menschen verletzt.
Tatsächlich lassen sich die Regierungsstellen zu viel Zeit damit, über Weiterreise aufs Festland oder Abschiebung zu entscheiden. Nach den Unruhen verkündete der Bürgermeister, die Insel werde von nun an keinen einzigen Flüchtling mehr aufnehmen. So wurde das abgeschiedene, vernachlässigte Lampedusa selbst zu einem Opfer der Flüchtlingskrise, zur Geisel der behördlichen Machenschaften. Etwas war furchtbar schief gelaufen und hatte die Solidarität der Inselbewohner innerhalb weniger Monate aufgerieben und in Ablehnung verwandelt. Dieselben Leute, die eben noch Ertrinkende gerettet hatten, bewarfen die Flüchtlinge nun mit Steinen und verlangten, die “Verbrecher zurück aufs Meer” zu schicken. Die kleine Inselgemeinschaft, die ohnehin schon mit schwierigen Lebensumständen zu kämpfen hat, kann die schwere Bürde nicht ohne staatliche Hilfe tragen.

In Emanuele Crialeses Film Terraferma (Festland), der 2011 beim Filmfest von Venedig den Spezialpreis der Jury gewann, geht es um genau diesen Konflikt zwischen humanitären Prinzipien und dem Gesetz. Dort landet eine Gruppe von Flüchtlingen auf einer kleinen, nicht näher bezeichneten Insel. Ich habe den Film einen Tag nach der Uraufführung in Bari gesehen. Bei der Vorstellung um halb sieben saßen zehn Zuschauer im Kinosaal. Vielleicht war es noch zu früh, vielleicht war es draußen zu heiß. Vielleicht aber war das mangelnde Publikumsinteresse darauf zurückzuführen, dass das Thema so heikel ist.

Auf der Insel leben Fischer. Weil sie vom Fischen allein nicht leben können, laden sie im Sommer Touristen auf ihre Insel ein. Als das Meer die ersten nordafrikanischen Flüchtlinge an den Strand spült, wird das Inselleben kompliziert. Familien zerbrechen, moralische Zwickmühlen tun sich auf. Die Flüchtlinge beschädigen nicht nur den Ruf des Ferienparadieses, sondern tragen neue, den Fischern unbekannte und unverständliche Probleme auf die Insel. Einer der Fischer drückt es so aus: “Darf der Staat uns verbieten, Menschen aus dem Wasser zu ziehen? Unser ganzes Leben haben wir es so gehalten. Und wenn das neuerdings verboten ist, brechen wir das Gesetz.”

“Ein schöner, menschlicher Film”, sagte ein älterer Mann unvermittelt zu mir, als wir das Kino verließen. 2011 setzten sich gleich mehrere auf der Mostra gezeigte Filme mit dem Thema auseinander, so zum Beispiel Andrea Segres Io sono Li, Francesco Patiernos Cose dell’altro mondo und Il villaggio di cartone des großen italienischen Regisseurs Ermanno Olmi. Über die Probleme der Immigranten und Flüchtlinge wurde viel geschrieben, nicht nur von den allseits bekannten Kommentatoren, sondern von Soziologen, Politologen und Schriftstellern wie Gabriele del Grande und Luca Rastello, um nur zwei zu nennen. Und auch die Flüchtlinge selbst melden sich zu Wort. Ich denke an Elvira Mujcic, eine gebürtige Bosnierin, und an Igiaba Scego, deren Eltern aus Somalia stammen. Das künstlerische und gesellschaftliche Bewusstsein für die Eingewanderten scheint größer zu sein als das der Tagespolitik, die sich für eine Abschottung der Grenzen einsetzt.

Viele ältere Italiener können sich noch an die Auswanderungswellen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts erinnern, die ganze Landstriche entvölkerten. Die Italiener wissen, dass die meisten Menschen ihrer Heimat, ihrer Sprache und Kultur kaum aus reiner Abenteuerlust den Rücken kehren. Es sind nackte Zwänge, die sie zur Auswanderung treiben, Krieg und große wirtschaftliche Not. Diese Menschen riskieren ihr Leben, wenn sie sich ins Ungewisse aufmachen. Das gilt auch für die Neuankömmlinge aus Nordafrika. Im Laufe der letzten 150 Jahre haben 18 Millionen Italiener – ein mittelgroßes europäisches Land – ihre Heimat verlassen. Die meisten gingen nach Amerika, fünf Millionen insgesamt, womit ihre Zahl die der irischstämmigen Amerikaner weit übertrifft.

Beim Besuch des Museums für italienische Emigration in Rom habe ich verstanden, warum es für die Geschichte einer Nation so wichtig ist, Ein- und Auswanderungsbewegungen zu dokumentieren und zu analysieren. Der unauffällige Museumseingang liegt an der Piazza dell’ara Coeli, neben dem Nationaldenkmal für Viktor Emanuel II. Nur selten verirren sich Touristen hierher. Die meisten der Besucher sind Italiener. Sie schlendern durch die Räume, sehen sich das Videoarchiv, die Bücherei und die zahlreichen Exponate an, zerschlissene Koffer und vergilbte Bordkarten, Passagierlisten, Ausweise und Reisepässe, verblichene Fotografien von der alten Heimat und dem neuen, weit entfernten, zweiten Zuhause. Vielleicht erinnern sich manche Besucher an ihre Vorfahren, vielleicht suchen sie die Passagierlisten nach einem bekannten Namen ab. Briefe, Tagebücher, Sportvereine, Folkloregruppen – all das erzählt von den individuellen Nöten und Hoffnungen der verarmten Bauern, die Süditalien verließen und in eine unbekannte Welt aufbrachen, manche ganz allein, manche keine vierzehn Jahre alt. Den Verzweifelten von heute geht es nicht anders. Was im Museum gezeigt wird, liegt erst wenige Generationen zurück. Immer noch leben Zeitzeugen, die das Drama des Abschieds schildern; sie erzählen von winkenden Eltern und Verwandten am Anleger, die zu einem kleinen Punkt am Horizont zusammenschmelzen.

Als ich im Museum stand, musste ich plötzlich an den Checkpoint Charlie in Berlin denken. Dort kann man sich bis heute ansehen, was die Ostdeutschen alles versuchten, um der DDR zu entfliehen und beispielsweise nach Westberlin zu gelangen, das von einer an die 140 Kilometer langen Mauer umgeben war. Einige dieser Bemühungen muten ganz unglaublich an. Die Leute sind mit einem Ballon geflogen, haben Tunnel gegraben, sich in Kofferräumen versteckt oder sind durch die Ostsee geschwommen.

Am Anfang des Films Terraferma sinkt ein voll beladenes Boot. An der Wasseroberfläche bleiben Briefe, Fotos, Dokumente, Zahnbürsten zurück. Sollte man diese Gegenstände nicht als Symbol der Individualität einsammeln und in einem den nordafrikanischen Flüchtlingen gewidmeten Museum ausstellen? Sollte man nicht die Aussagen der Augenzeugen dokumentieren, die an Bord Todesqualen erlitten, ihren eigenen Urin getrunken, Mitreisende ins Wasser gestoßen haben? Ein solches Museum würde nichts als menschliches Leid ausstellen. Die Flüchtlinge hätten es trotzdem verdient, egal, woher sie kommen.

So freute ich mich sehr, kaum eine Woche später in einer italienischen Zeitung eine kleine Meldung zu entdecken: “Holzstücke, Familienfotos, Koranseiten, Schuhe, Proviantdosen, Musikkassetten … Gegenstände, die aus dem Wasser gefischt oder in den Booten gefunden wurden, die jedes Jahr Tausende von Immigranten übers Mittelmeer tragen, alle zu besichtigen in einem kleinen Raum, keine zehn Quadratmeter groß. Es handelt sich um das Kernstück des Einwanderungsmuseums, das freiwillige Helfer der Organisation Askavuza auf Lampedusa aufbauen.” Ein einheimischer Künstler, Giacomo Sferlazzo, hat die Initiative gegründet in der Hoffnung, möglichst viele Mitstreiter zu finden.

Im Museum für italienische Emigration stoße ich auf Zahlen. In Italien leben 3 891 295 Einwanderer. Sie machen etwa sechseinhalb Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Caritas Migrantes hat andere Zahlen veröffentlicht: fünf Millionen beziehungsweise sieben Prozent. Interessanterweise spielt Islamfeindlichkeit kaum eine Rolle, eine These, die viele meiner Bekannten bestätigt haben. Anders als im mittleren und nördlichen Europa wird die Angst vor den Muslimen nicht politisch ausgeschlachtet. Trotzdem weisen Journalisten und Aktivisten wie Don Angelo darauf hin, dass andere Pauschalisierungsmechanismen greifen und der Gesetzgeber sowie die Medien immer wieder versuchen, die Immigranten als Gruppe zu kriminalisieren. Von den Behörden werden sie mehr oder weniger wie Verbrecher behandelt, auch wenn sie sich nichts zu Schulden haben kommen lassen. Aus diesem Grund protestieren sie. Und selbst daraus macht man ihnen einen Vorwurf, denn in Europa ist man den Anblick demonstrierender Flüchtlinge immer noch nicht gewohnt. Die Europäer erwarten Dankbarkeit.

In der Politik der Angstmacherei spielt das Fernsehen eine wichtige Rolle. Unter Berufung auf Daten von Demos & Pi gab La Repubblica an, dass im Sender TG1 Meldungen über Einwanderer 13,9 Prozent der Nachrichtensendungen einnahmen. Im Vergleich: France 2 kommt auf 1,6 und die deutsche ARD auf 0,6 Prozent. Dazu muss gesagt sein, dass Italien in der fraglichen Periode eine so genannte “Invasion” zu bewältigen hatte. Dennoch wirkte sich die intensive Berichterstattung kaum auf die öffentliche Meinung aus. In derselben Studie gaben nur sechs Prozent der befragten Fernsehzuschauer die Immigration als ihr dringlichstes Problem an. 55 Prozent sorgten sich wegen der steigenden Lebenshaltungskosten. “Damit ist das Gefühl der ‘bedrohten persönlichen Sicherheit’ als politisches und mediales Konstrukt entlarvt. Es schafft und verstärkt die ‘Angst vor dem anderen’ und macht sich dabei eine generelle Verunsicherung zu Nutze, die ihre Wurzel in wirtschaftlichen Problemen und der Angst vor Arbeitslosigkeit hat”, schreibt Ilvo Diamanti.

Zahlreiche humanitäre und bürgerrechtliche Organisationen, darunter auch Fortress Europe, setzen sich für die Rechte der Immigranten ein und bieten konkrete Unterstützung an. Diese Gruppen sind der Überzeugung, dass der Strom der Einwanderer nicht abreißen wird, egal, wie restriktiv und unmoralisch die Gesetzgeber reagieren, egal, wie viele Mauern und andere Hürden sie errichten. Denn in den Heimatländern der Flüchtlinge sieht es immer noch schlimmer aus. Die Einwanderungspolitik sollte sich also von Vernunft statt von Angst leiten lassen; von Letzterer profitieren nur solche Politiker und Parteien, die Unmögliches versprechen. Die Angst vor den Einwanderern ist der Nährboden jener Akteure.

In Rom leben die Flüchtlinge hinter dem Bahnhof Termini, in einem Viertel namens Esquilino. Wie sehr es sich von den anderen Stadtteilen unterscheidet, habe ich erst nach einem Spaziergang durch die Via Carlo Alberto zur Piazza Vittorio Emanuele verstanden. Dort bekam ich zu sehen, was ich zuletzt vor vielleicht fünfzig Jahren in Jugoslawien beobachten konnte: einen hausierenden Scherenschleifer. Der dunkelhäutige junge Mann stand über einen Schleifstein gebeugt und schärfte die Messer einer Frau, die rauchend in einem Hauseingang lehnte. Sie unterhielten sich auf Rumänisch.

Meine Freundin Alessandra wohnt in Esquilino. Von dem riesigen Balkon ihrer Dachgeschosswohnung kann man die Menschenmassen auf der Piazza Vittorio Emanuele nicht sehen. Die Ladengeschäfte, die den Platz säumen, verkaufen einfach alles; nicht, dass es hier viele zahlungskräftige Kunden gäbe. Die meisten Besitzer sind Chinesen, aber sobald Alessandra das Haus verlässt, findet sie sich zwischen Menschen von allen Kontinenten, aller Sprachen und Hautfarben wieder. Sie hatte ein Pflegekind aus Kamerun, das aber nach einigen Jahren wieder zu seiner Mutter zurückging. Ich entdecke ein Foto von David auf Alessandras Schreibtisch und muss an den Unterschied zwischen Europa und Amerika denken. Wäre der kleine Junge nicht nach Italien, sondern in die USA gekommen, wäre er heute Amerikaner. In Italien wird sowohl ihm als auch seinen künftigen Nachkommen die Einbürgerung verwehrt. Für seine weißen Altersgenossen aus Albanien und Bosnien sieht die Sache anders aus; sie und ihre Kinder können Italiener werden.

Alessandra ist Psychologin und unterstützt ehrenamtlich Gruppen, die Immigranten nach der Ankunft in der neuen Umgebung das Einleben erleichtern wollen. Sie organisieren Sprachunterricht, Schulbesuch und Arbeitssuche. Der Fonds zur sozialen Eingliederung von Einwanderern unterstützt eine ganze Reihe von unterschiedlichen Programmen und Kursen. Alessandra zeigt mir ein Buch und eine DVD mit dem Titel La meta di me (Eine Hälfte von mir), die aus der Projektarbeit mit Einwanderern der zweiten Generation hervorgingen. Es gibt viele Projekte dieser Art. Die Erfahrung hat gezeigt, dass ein großer Teil der Immigrantenkinder in Italien bleiben möchte und folglich eine Chance bekommen sollte, so schnell wie möglich eingebürgert zu werden. Von der aktuellen Einwanderungspolitik hält Alessandra nichts. Das Gesetz, das Immigranten erlaubte, ihre Familien nachzuholen, wurde abgeschafft. So kommt es, dass die meisten Wirtschafts- und Kriegsflüchtlinge alleinstehende junge Männer sind, die sich mit einer ganzen Reihe von Problemen konfrontiert sehen: Depressionen, Alkoholismus, Drogen, Kriminalität. Sie haben keine Motivation und kein Ziel mehr. Zu überleben ist allein kein Anreiz. Alessandra stellt einen Vergleich an, den ich schon früher gehört habe: Sie spricht von den Erfahrungen der ersten Italiener in den Vereinigten Staaten. Wenn man den Menschen eine Möglichkeit bietet, sich in die Gesellschaft zu integrieren, ergreifen sie sie für gewöhnlich. Ja, dem amerikanischen Schmelztiegel liegt ein anderes Einwanderungskonzept zu Grunde; aber auch hier in Italien, sagt Alessandra, sollte Einwanderung solidarisch und menschlich gestaltet werden und auf dem Prinzip des beiderseitigen Vorteils beruhen.

Ein Beispiel für diesen “beiderseitigen Vorteil” ist Elvira Mujcic, die als knapp Dreizehnjährige aus Srebrenica nach Italien fliehen musste. Sie absolvierte Schule und Studium und ist heute eine erfolgreiche Schriftstellerin. Eine italienische Schriftstellerin, denn sie schreibt auf Italienisch. Während wir bei melanzane alla parmigiana in einem kleinen Restaurant in der Via del Boschetto sitzen, unterhalten wir uns über Identität. Für Elvira bedeuten bosnische Herkunft und Schreiben auf Italienisch keinen Widerspruch; tatsächlich spricht sie Italienisch inzwischen besser als ihre Muttersprache, für die sie sich im Laufe unseres Gesprächs immer wieder entschuldigt. Identität ist kein starres Korsett, das man ein für alle Mal angelegt bekommt. Wir sprechen darüber, dass die eine Identität, die bosnische, eine zweite, italienische nicht ausschließt. Elvira liebt die bosnische Küche und die italienische Sprache. An ihrem Geburtsort möchte sie nicht mehr leben, und das liegt nicht nur daran, dass es in Bosnien keine Arbeit für sie gäbe. Nein, sie hat das Gefühl, nach Italien zu gehören. Hier ist sie zur Schule gegangen, hier lebt und arbeitet sie, hier hat sie sich verliebt.

Als Europäerin fiel ihr die Eingewöhnung vergleichsweise leicht. Für die Anwohner der Piazza Vittorio Emanuele sieht es anders aus, besonders für jene, die von anderen Kontinenten und aus anderen Kulturkreisen kommen. Doch selbst dort werden Erfolgsgeschichten geschrieben. Zum Beispiel gibt es das Orchestra di Piazza Vittorio. Inzwischen ist es recht bekannt, hat drei Alben veröffentlicht, dreihundert Konzerte in aller Welt gegeben und einen Dokumentarfilm inspiriert. Seine Musiker kommen aus Tunesien, Brasilien, Kuba, den USA, Ungarn, Ecuador, Argentinien, dem Senegal, Indien und, natürlich, Italien. Die Besetzung wechselt ständig. Das Orchester wurde 2002 vom Dirigenten Mario Tronco gegründet, der ursprünglich nur die Kampagne zu Rettung des Apollo-Kinos unterstützen wollte.

Noch interessanter als seine Entstehungsgeschichte ist das Musikspektrum des Orchesters. Einmal habe ich es geschafft, eine Karte zur Premiere der Zauberflöte im Teatro Olimpico zu ergattern. An jenem Abend hatte sich Roms progressive Elite eingefunden, ich habe sogar einige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens entdeckt. Dieses Ereignis wollte sich niemand entgehen lassen. Ein Zuschauer, der sich weder für Mozart noch für das Orchester interessiert, hätte die Veranstaltung als Mischung aus Oper und Popkonzert erlebt. Die Musiker spielten Klassik, Ethno, Jazz, Pop, Rap, Reggae und Mamba. Zwischen den Einsätzen der tunesischen Sängerin und den Soli von arabischer Laute, Kora, Djembé, Dumdum und Sabar hörte ich die Zauberflöte heraus, bekannte Arien der Königin der Nacht, des Papageno, Sarastro und Pamino. Die “Oper” wird in sechs Sprachen aufgeführt: Arabisch, Portugiesisch, Spanisch, Deutsch, Englisch und Wolof. Die Handlung entspricht nicht ganz dem Libretto, und das Ende wartet mit einer Überraschung auf. Natürlich handelt es sich nicht um eine herkömmliche Inszenierung. Schon das Plakat warnt die Zuschauer vor und kündigt eine Interpretation an: “Die Zauberflöte nach dem Orchestra di Piazza Vittorio”. Mario Tronco weist darauf hin, dass er keine herkömmliche Aufführung der Oper im Sinn hatte: “Wir haben uns bei der musikalischen Gestaltung große Freiheiten genommen und uns das herausgepickt, was zu unserem Orchester passt. Unsere Inszenierung bezieht andere Kulturen mit ein. Unsere Musiker kommen von weit her, und das meine ich nicht nur im geografischen Sinn. Jeder einzelne bringt seine Kultur mit, seine Sprache …” Während es bei Mozart darum gehe, wie es “früher einmal war”, möchte das Orchester zeigen, “wie es eines Tages sein wird”.

Und tatsächlich hatte ich an diesem Abend das Gefühl, das Orchester habe eine Tür zu Europas Zukunft aufgestoßen. Wir betrachten Mozarts Kompositionen als wichtigen Teil unseres europäischen Kulturerbes. Viele Zuschauer wünschten sich vielleicht eine werktreue Aufführung der Zauberflöte, was die gelungene Integration der Orchestermitglieder unter Beweis gestellt hätte. In den Ohren einiger mag eine solche Interpretation oder Überarbeitung der Mozart’schen Musik, egal wie kunstfertig und intelligent sie ist, blasphemisch klingen. Außer Frage steht jedoch, dass die nicht-europäischen Einwanderer etwas ganz Eigenes nach Europa mitbringen und wir uns in zunehmendem Maße mit einer Hybridkultur auseinandersetzen müssen, die auch vor Mozart und anderen europäischen Kulturheiligen nicht Halt machen wird.

Die Aufführung zeigte auch, dass Neuankömmlinge aus anderen Kulturkreisen sich entgegen aller Erwartungen nicht notwendigerweise der vorherrschenden Kultur anpassen, sondern versuchen, sich Elemente des Vorgefundenen anzueignen – ein Prozess, der im Leben genauso stattfindet wie in der Kunst. Dabei spielt die Statistik eine entscheidende Rolle, denn je mehr Immigranten aus Afrika und Asien ankommen, desto wahrscheinlicher wird es, dass ihr Einfluss nicht auf Essen, Musik, Mode und Gebräuche beschränkt bleibt, sondern sich irgendwann auch auf die Gesetzgebung auswirkt. Dennoch sind heute nur wenige Europäer bereit, freimütig zu sagen: Ja, das stimmt, na und?

Der Diskussion über die Integration und Assimilierung (andere Modelle scheinen undenkbar) von Einwanderern sind Grenzen gesetzt. Sie mag sinnvoll sein, wenn es um innereuropäische Immigration aus Albanien oder Bosnien geht, nicht aber, wenn sie sich mit den Roma befasst, die aus demselben Teil der Welt stammen und doch eine andere Kultur und Geschichte teilen. Und was ist mit den nicht-europäischen Flüchtlingen, die aus dem Süden über Lampedusa, Sizilien und die spanische Küste kommen, oder mit jenen aus dem Osten, aus Afghanistan, die über die Türkei, Griechenland und Bulgarien einreisen? Immerhin machen sie den größten Teil des Zuwandererstroms aus. Die meisten Europäer, egal ob pro oder contra Einwanderung, sind sich über zivilisatorische Errungenschaften einig, die alle Immigranten respektieren sollten, besonders jene aus anderen Kulturkreisen: die Gleichberechtigung der Frau, Achtung der Menschenrechte, Demokratie. Aber was ist mit der Kunst, die von Natur aus grenzüberschreitend ist?

Vielleicht sollten wir uns mit der Frage befassen, wie Mozart, Bach und Beethoven in der Zukunft klingen werden. Und wie liebgewonnene Traditionen sich verändern werden, falls sie es nicht schon längst getan haben. Ein Beispiel ist die Produktion von Muranoglas. Die kleine Insel Murano, seit dem späten 13. Jahrhundert für ihre Glasbläserkunst bekannt, gibt heute ein trauriges Bild ab. Die meisten der alten Fabriken sind geschlossen. Die überwiegende Zahl der Schmuckstücke, Figuren, Schüsseln, Lampen, Briefbeschwerer und Flaschenstopper, die heutzutage in Venedigs Souvenirläden verkauft werden, wurde in China hergestellt. Zwar liegt der hübschen Halskette ein Zertifikat bei, das sie als Original aus Muranoglas ausweist; doch mit höchster Wahrscheinlichkeit handelt es sich um Muranoglas Made in China. Der Durchschnittstourist wird den Unterschied nicht bemerken. Genauso wenig wird er sich fragen, wie die winzige Insel, die er am Vortag besucht hat, in der Lage ist, solche Massen von Andenken zu produzieren, oder warum der wunderschöne Glasring und der hübsche Armreif nur ein paar Euro kosten. Und warum alle Artikel identisch aussehen, sprich: aus Massenproduktion stammen. Denn die auf der kleinen Insel Murano hergestellten Objekte sind einzigartig. Daran erkennt man sie. Das zweite Merkmal ist ihre kunstfertige Ausführung.

Ich bekam eine Gelegenheit, einen Blick in die Werkstatt hinter meiner Wohnung in der Calle Fiubera zu werfen. Andrea, der dort arbeitet, zeigte mir alle möglichen Gegenstände, vom Briefbeschwerer bis zum Schmuckstück. Man sagt, es sei nicht einfach, die Originale aus Murano von den chinesischen Kopien zu unterscheiden. Bei der Internetsuche nach Warnhinweisen und Erkennungsmerkmalen stieß ich auf Werbung für Muranoglas aus China. Das ist natürlich Unsinn, steht der Begriff Murano doch nicht für eine bestimmte Technik, sondern für einen Herkunftsort. Andrea zeigte mir zwei Armreifen. Der eine war makellos, der andere erwies sich bei genauerem Hinsehen als krude Nachbildung. Der Massentourismus hat zu einer Nachfrage geführt, die Murano selbst bei voller Auslastung aller Kapazitäten nicht befriedigen könnte. Aber die Chinesen, sagt Andrea, haben weder einen Sinn für das Original noch moralische Skrupel, wenn es um die Herstellung von Kopien geht. Am meisten ärgerte ich mich, als Andrea mir eine millefiori-Glasperlenkette aus Murano zeigte und ich begriff, dass die Kette, die ich am Vortag gekauft hatte, eine billige Fälschung war.
Die “Gefahr einer Invasion”, wie sie manche Politiker heraufbeschwören, liegt nicht in der Zahl der Immigranten allein (in Italien leben nur 200 000 Chinesen, 2000 davon in Venedig), sondern auch in ausländischen Investitionen und Aufkäufen von Immobilien und Grundstücken. Das Geld befördert den Wandel schneller und nachhaltiger als alle Einwanderer. Zuerst kamen Chinesen nach Venedig, um kleine Ladengeschäfte zu kaufen und zu Shops für “Muranoglas” und Lederwaren umzubauen. Dann erwarben sie Bars und Restaurants. Mittlerweile sind sie bei den Palazzi angekommen, die zu Hotels umfunktioniert werden.

Eines Abends – ich fuhr gerade mit dem Vaporetto Nr. 2 von der Ponte dell’Academia zur Haltestelle San Marco an der Riva degli Schiavoni – fiel mir auf, dass ganze Abschnitte des Canal Grande unbeleuchtet waren. Die Paläste lagen im Dunkeln, als seien sie unbewohnt. Wie mir ein venezianischer Freund erklärte, handelt es sich um die Sommerresidenzen der Reichen; jedoch liegen dazwischen auch Häuser, die der Stadt gehören und die zum Verkauf stehen. Die Veränderung kommt auf vielen Wegen, und sie kommt nicht nur in Gestalt der armen Seelen, die es geschafft haben, Lampedusa oder einen anderen Teil Italiens lebend zu erreichen. Die Veränderung kommt nicht nur durch Essen, Mode und Musik, sondern auch durch Banken, Investoren und Geld, nicht zuletzt durch Geldwäsche und Korruption. Während die Europäer noch über höhere Zäune nachdenken (wenn man bloß wüsste, wo genau die Grenze verläuft!) und darüber, wie man die Immigranten fernhalten und Europas kulturelle Werte schützen kann, die von der Globalisierung, sprich: Amerikanisierung längst ausgehöhlt sind, investieren die Chinesen nach Lust und Laune. Sie kaufen Palazzi, bauen sie zu Hotels um und schlagen so aus dem europäischen Kulturerbe ihren Profit – manche Venezianer sprechen ganz offen von Geldwäsche. Vom venezianischen Standpunkt aus betrachtet wirkt die Angst vor muslimischen Einwanderern, wie sie in Frankreich und Italien umgeht, geradezu lächerlich.

Mein Nachbar sagt, Venedig sei dabei, sich zu verwandeln. Nicht in ein Freilichtmuseum, wie ich Romantikerin immer glaubte, sondern in einen Freizeitpark à la Disneyland, gewinnbringend betrieben von chinesischen Investoren. Vermutlich hat er Recht. Ob schnell oder langsam, legal oder illegal, mit viel Geld oder ohne, als Flüchtlinge oder als Investoren – die Einwanderer werden weiterhin kommen. Als ich Venedig verlasse, die gefälschte Muranoglaskette in der Tasche und das Orchestra di Piazza Vittorio im Ohr, stelle ich mir vor, wie Mozart in chinesischer Überarbeitung klingen würde, aufgeführt in nicht allzu ferner Zukunft von einem chinesischen Orchester im Teatro La Fenice.

 

This article is a part of the international project “Mirrors of Europe”, a series of literary reportages by authors from numerous European countries coordinated by the association Project Forum in Bratislava in cooperation with Eurozine.

Published 6 November 2012
Original in Croatian
Translated by Eva Bonné
First published by Wespennest 163 (2012) (German version); Eurozine (English version)

Contributed by Wespennest © Slavenka Drakulic / Mirrors of Europe / Project Forum / Eurozine

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