Die Macht der Frauen unterm Kopftuch
Im weiblichsten Viertel der Stadt leuchtet über allem ein rosa Halo
An einem ganz gewöhnlichen Tag des Jahres 1899 gelangte Sadullah Pascha, ein herausragender Staatsmann und Botschafter des Ottomanischen Reiches in Wien, zum Schluss, dass sein Leben allzu qualvoll geworden und die Heimat ferner denn je sei, und er nahm sich das Leben. Als die Nachricht von seinem Tode in Istanbul eintraf, ging seine Frau, Necibe Hanim, in ihr Zimmer, wo sie still auf seine Heimkehr gewartet hatte. Sie ging zum Schrank, sah ihre Kleider durch und entschied sich nach einiger Überlegung für ein geschmackvoll-elegantes rosafarbenes Kleid – eine höchst ungewöhnliche Farbe für eine muslimische Frau, die um ihren Mann trauert. Doch in diesem Kleid hatte Sadullah Pascha seine Frau früher sehr gern gesehen, und nun, da er von ihr gegangen war, beschloss Necibe Hanim, es für ihn zu tragen. Sie gelobte, zur Erinnerung an ihren verstorbenen Mann und zum Zeichen ihrer unsterblichen Liebe von nun an immer Rosa zu tragen. Sie hielt ihr Versprechen und trug trotz der wachsenden Missbilligung ihrer Nachbarn und Verwandten immer nur rosafarbene Kleider, selbst noch im hohen Alter.
Das Haus, in dem Necibe Hanim lebte, eine prachtvolle Residenz namens Sadullah Pascha Yalisi, lag im alten Viertel Üsküdar (Skutari) gleich am Meer. Es ging das Gerücht, von Zeit zu Zeit hätten die Bediensten Necibe Hanim hinter den Vorhängen ihres Zimmers im oberen Stockwerk stehen sehen, von Kopf bis Fuss in Rosa gekleidet, wo sie schweigend und geduldig auf die Heimkehr ihres Mannes wartete. So wartete sie in ihrer rosafarbenen Trauerkleidung, bis sie 1917 im Alter von achtzig Jahren starb.
Schöpfung aus der Feder von Frauen
Vielleicht lässt sich mit jedem Stadtviertel Istanbuls eine Farbe oder sogar ein spezieller Farbton assoziieren. Vielleicht erscheint jedes Viertel dieser Stadt in einem anderen Ton, wenn die Sonne sich auf den Dächern der Häuser oder in den Fensterscheiben spiegelt, so dass sich konzentrische Kreise aus Licht bilden, ähnlich einem unsichtbaren, aber dennoch irgendwie wahrnehmbaren Halo. Falls das wirklich so ist, hat das alte Stadtviertel Üsküdar keine andere Farbe als Altrosa – ein feines, gedecktes, eindrucksvolles Rosa. Kein heller oder lebhafter Ton, sondern eher eine unheimliche Mischung aus Scharlachrot und einem pastösen Weiss, aus Kraft und Trauer. Üsküdars rosafarbener Halo flattert im Wind wie ein zum Abschied winkendes Kopftuch, als Tribut an eine Vergangenheit, die ganz und gar vergangen ist.
Üsküdar gilt als das traditionellste Stadtviertel Istanbuls. In Wirklichkeit jedoch ist es traditionell das weiblichste Viertel der Stadt. Das ganze Viertel gleicht einem längst vergessenen historischen Dokument, das von zahllosen Frauen unterzeichnet ist, einer Schöpfung aus der Feder von Frauen. Viele der Monumente, Moscheen und Brunnen, der religiösen Bauten und Derwischhäuser wurden von oder für Frauen gebaut. Die Sultan-Valide-Moschee, der Sultan-Fatma-Brunnen, der Bas-Kadin-Brunnen, der Sultan-Ayse-Brunnen, die Sultan-Atik-Valide-Karawanserei, die Gülfem-Hatun-Schule sind nur einige Beispiele dafür. Das ganze Viertel trägt den unsichtbaren, aber stets wahrnehmbaren Stempel von Frauen längst vergangener Zeiten.
Istanbuls Rapunzel
Nicht weit vor der Küste leuchtet der berühmte “Jungfrauenturm” Kiz Kulesi, umgeben von rauhen, wogenden Gewässern. Nach einer bekannten Legende wurde dort einst eine junge, schöne Prinzessin von ihrem Vater eingesperrt, weil er glaubte, sie so vor jedem Feind schützen zu können. Dort lebte sie einsam und eingeschlossen wie ein schöner Vogel in einem Käfig. Ihr Vater wusste jedoch nicht, dass sie heimlich einen jungen Mann namens Leondras liebte, der oft zu dem Turm schwamm, um mit ihr zusammenzusein. So lebten die beiden ihre heimliche Liebe, weit weg von den Augen ihrer Familien und weit weg von den Augen Istanbuls. Doch selbst eine so sorgsam beschützte Isolation vermochte nicht alle Feinde und Gefahren fernzuhalten. Eines Tages traf ein Korb voll köstlicher Früchte, Trauben und Feigen im Turm ein, das Geschenk eines Unbekannten. Tief unten im Korb lauerte eine Giftschlange. Ihr Gift tötete die Prinzessin. Seither ist der Turm Sinnbild der Liebe, die alle von Menschen gesetzten Grenzen überschreitet, und des Todes, der ebenfalls keine achtet. Heute ist ein schickes Restaurant im Turm, in dem die Istanbuler speisen und schwatzen, während sie aus den winzigen Fenstern schauen, an denen einst eine verlorene Prinzessin ihren Gedanken nachhing.
Und wie in der Vergangenheit, so ist auch heute die Verbindung aus Weiblichkeit und Religiosität das prägende Merkmal des alten Stadtviertels. Üsküdar ist die Bühne, auf dem Himmlisches und Weltliches einander begegnen und gemeinsam auftreten. Das Viertel ist voll von religiösen Symbolen. Das Heilige wird hier ernst genommen.
Im Hamam einen Supermarkt
Das Grabmahl des heiligen Mahmud Hüdai, einstmals Oberhaupt eines religiösen Ordens, der heute noch existiert, liegt mitten in Üsküdar und gilt als Wahrzeichen. Die heilige Stätte ist auf allen Seiten umgeben von Geschäften, Supermärkten und Restaurants, ganz zu schweigen von den Bars. Die Menschen, die in die Bars gehen oder herauskommen, mischen sich mit den Besuchern der zahllosen religiösen Stätten. Die Strassen sind voller Menschen, Tag und Nacht, im Sommer wie im Winter. Es kann sein, dass Sie in einem alten Hamam einen modernen Supermarkt finden und in historischen Bauten ein Café oder ein Warenhaus. Man kann unmöglich entscheiden, wo die Vergangenheit endet und die Zukunft beginnt, und ebenso unmöglich ist es, Westliches von Östlichem zu trennen. Am deutlichsten zeigt sich die Verschmelzung von West und Ost auf den Friedhöfen. Üsküdar ist voll von alten Gräbern. Manche befinden sich auf grossen, deutlich von der Stadt abgegrenzten Friedhöfen; andere liegen in der Stadt, allein oder in kleinen Gruppen mitten im brandenden Strassenverkehr. Der grösste muslimische Friedhof Istanbuls, der Karaca-Ahmet-Friedhof, liegt in Üsküdar. Neben den vielen muslimischen Friedhöfen gibt es in Baglarbasi auch armenische, griechische und jüdische Friedhöfe. Der grösste davon ist der armenische.
Ein Heiliger für alle Fälle
Obwohl der Tod überall sichtbar wird und die Toten so in die Gegenwart eingebunden sind, ist Üsküdar ein von Leben überquellendes Viertel. Es herrscht fast ständig ein reges, hektisches und zuweilen auch etwas chaotisches Treiben. Anders als in anderen Istanbuler Stadtvierteln promeniert man hier nicht, sondern strebt auf geradem Weg seinem Ziel zu. Frauen mit Kopftuch gehen zuweilen Seite an Seite mit Frauen ohne Kopftuch.
Wenn sich darin eine gewisse Harmonie zeigt, so ist es eine bizarre. In den unzähligen Cafés in Üsküdar sieht man junge Frauen aus konservativeren Familien Händchen haltend mit ihrem Freund sitzen. Menschen aus dem Westen und Kemalisten denken oft an “Unterdrückung”, wenn sie eine Frau mit Kopftuch sehen. Doch das alltägliche Leben in Üsküdar bietet viele Beispiele, die allzu grobschlächtige Verallgemeinerung hinsichtlich des Islams und der Religiosität in Frage stellen. Es gibt verschiedene Arten von Kopftüchern, wie es auch verschiedene Gründe gibt, sie zu tragen. Aber es gibt nur ein Wort dafür. Und das Wort “Kopftuch” verfehlt nur allzu oft die volle Komplexität und den fliessenden Charakter des Alltagslebens in Üsküdar. Heiliges und Weltliches, Politisches und Individuelles, Tradition und Moderne sind hier eng miteinander verflochten.
Junge und alte Frauen besuchen die in den alten, verwinkelten Gassen gelegenen Heiligtümer. Fast für jedes Bedürfnis gibt es einen speziellen Heiligen. Manche werden von Frauen besucht, die keine Kinder haben können, andere sollen den Kranken und Behinderten helfen, wieder andere vermögen Melancholie zu heilen. Aber in jedem Fall sind es Frauen, die bei den Heiligen Hilfe suchen. Der Staat ist darüber nicht sonderlich glücklich. Und das war immer schon so. Auf einigen Grabmälern steht in Grossbuchstaben:
Zünde keine Kerzen an!
Der Heilige braucht dein
Licht nicht.
Das Religionsministerium lässt in den Heiligtümern Schilder anbringen, auf denen steht, wie die Frauen beten sollten. Doch die Besucherinnen achten nicht auf die Regeln und Vorschriften des Ministeriums. Sie beten, wie sie es für richtig halten, wobei es gelegentlich zu einer unheimlichen Verbindung zwischen Schamanismus und Islam kommt. Sie zünden Kerzen an, zerbrechen Glas, binden Kleider, knoten ihr Haar oder singen und tanzen um die Gräber der Heiligen. Die staatliche Elite versteht diese Frauen nicht. Orthodoxe Gläubige verstehen sie gleichfalls nicht. Die Heiligen dagegen tun es. Und das war immer schon so.
Wenn Istanbul eine Stadt mit vielen Gesichtern ist, dann muss Üsküdar das Gesicht mit der rosafarbenen Narbe sein. Dieses alte, verwinkelte Viertel ist Istanbuls Narbengesicht. Die Istanbuler Elite kann oder will dieses Gesicht nicht sehen, und noch weniger will sie es den anderen zeigen, vor allem nicht den Touristen und den westlichen Diplomaten. Verglichen mit den anderen Teilen Istanbuls ist Üsküdar zu übervölkert, zu laut, zu sehr der Tradition verhaftet und allzu sehr alla turca.
Doch unter der Hektik und Bewegung des alltäglichen Lebens fliesst fast unsichtbar die Geschichte des Viertels. Und genau das verbirgt Üsküdar unter der Oberfläche: die Silhouette verzweifelter, trauernder, aber keineswegs passiver Frauen, die geduldig und entschlossen hinter den Fenstern warten, halb verborgen, halb sichtbar, als lebende Zeugen einer Vergangenheit, die ganz und gar vergangen ist.
Published 2 November 2005
Original in Turkish
Translated by
Michael Bischoff
First published by du 10/2005
Contributed by du © Elif Safak/du Eurozine
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