Die letzten Tage des Saddam Husseins

Report from Baghdad

Obwohl die Wiederwahl von Ariel Scharon düstere Perspektiven für
den Frieden im Nahen Osten eröffnet, lassen sich George W. Bush und
seine Falkenfraktion nicht von ihrem längst gefällten
Kriegsbeschluss abbringen. Trotz der Proteste aus aller Welt und
entgegen den Vorbehalten vieler Regierungschefs kündigte der
amerikanische Präsident am 6. Februar an, die Uhr für Saddam
Hussein sei abgelaufen. Doch niemand weiß bislang, wie ein Konflikt
unter der einheimischen Bevölkerung aufgenommen würde. Während
das Regime Lebensmittel verteilt, Brunnen bohrt und ein bewaffnetes
System aus lokaler Abwehr und Überwachung errichtet, bleibt die
Frage, welchen Reim sich die Iraker auf ihre Lage und ihre
möglichen Nachkriegsperspektiven machen.

Die Bush-Administration konnte die Menschen im Irak nicht davon
überzeugen, dass sie den kommenden Krieg aus moralischen
Beweggründen führt und als zivilisatorische Mission und
Friedenswerk versteht. Gleichwohl bezweifelt im Irak mittlerweile
niemand mehr, dass die Drohungen der USA, die man noch vor kurzem
für leere Worte hielt, ernst gemeint sind. Die Iraker hatten
geglaubt, es handele sich um eine weitere jener Krisen, die das Land
seit 1991 heimsuchen und aus denen Präsident Saddam Hussein
merkwürdigerweise jedes Mal gestärkt hervorgegangen war – so dass
im Irak das Gerücht über eine nicht nur objektive Allianz
zwischen Bagdad und Washington zeitweise Hochkonjunktur hatte.

Auf die ständig wiederkehrenden Krisen reagierte die irakische
Bevölkerung nur noch mit Gleichgültigkeit und Resignation, obwohl
sie jedes Mal unter gezielten Bombenangriffen zu leiden hatte. Selbst
während der Operation “Wüstenfuchs” im Dezember 1998, während
der schwersten der zahlreichen militärischen Angriffe in den
1990er-Jahren, waren Hamsterkäufe die Ausnahme. Am Morgen nach den
ersten nächtlichen Luftangriffen gingen die Schüler und Studenten
wie gewohnt zum Unterricht, und jeder Abwesende wurde registriert.
Abends stieg man mit der ganzen Familie aufs Dach, um die
herannahenden Raketen zu beobachten und Wetten über den jeweiligen
Einschlagsort abzuschließen. Die Erzählungen aus jenen
Kriegstagen vermitteln noch immer Urlaubsstimmung.

Heute dagegen dominiert im Lande eine ungewohnte Nervosität. Auf
den ersten Blick scheint alles normal, aber es mehren sich die
Anzeichen zunehmender Spannung. Der Handel ist zum Erliegen gekommen.
Jeder tätigt nur noch die lebensnotwendigen Investitionen und
Anschaffungen. Die Autopreise gehen in den Keller. Der Dollarkurs
schwankt heftig und erreicht an manchen Tagen den Rekordstand von
fast 2 800 Dinar, obwohl der Staat nach Kräften versucht, den Kurs
zu stabilisieren.

Der Devisenmarkt mit seiner besonderen Volatilität drückt jedoch
nur, wenn auch verstärkt, eine allgemeinere Stimmung aus. Viele
Iraker hören ausländische Sender, vor allem Radio Monte Carlo und
einen iranischen Satellitensender in arabischer Sprache, den man seit
einigen Monaten legal empfangen darf. Im Freundeskreis zirkulieren
auch eingeschmuggelte ausländische Zeitschriften.

Sogar Leute, die immer so tun, als seien sie der aktuellen Ereignisse
längst überdrüssig, kolportieren die neuesten Gerüchte. Der
Irak erlebt eine Explosion des gesprochenen Worts, so dass man
glauben könnte, die Angst, auf die das Regime sich gründet, lasse
allmählich nach.

Woher rührt diese neu gewonnene Gewissheit, dass die Zeiten sich
ändern? Der Ton der US-amerikanischen Erklärungen kann den
Umschwung nicht hinreichend erklären, doch Saddam Husseins
Reaktionen lassen ahnen, dass die Stunde der Entscheidung naht.
Hussein hatte sich dem Druck der USA gebeugt und vorbehaltlos die
Rückkehr der Unmovic-Waffeninspektoren akzeptiert. Wenig später
lud er die CIA ein, die Kommissionsmitglieder zu begleiten, was
manche Iraker geradezu als Verrat empfanden. Er erklärte sich
bedingungslos bereit, sämtliche Rüstungsfabriken, ja sogar seine
eigenen Paläste zu öffnen, und er entschuldigte sich zwölf
Jahre nach der Invasion in Kuwait bei dem Nachbarvolk. Um seine
persönliche Macht zu retten, scheint Saddam also zu allem bereit,
auch auf Kosten des Irak und seiner eigenen Würde. Es gibt sogar
Gerüchte, wonach er Geheimverhandlungen führt, um sich seinen
Verbleib an der Macht mit Öl zu erkaufen.

Doch dieses Gefühl, dass die Dinge sich derzeit ändern, ist noch
schwach. Viele beschreiben das aktuelle Geschehen als “Theater”. Die
Iraker sehen sich als Zuschauer einer Intrige, die in Wirklichkeit
hinter den Kulissen spielt. Und die wahren Motive, die Bush zum Krieg
veranlassen, liegen ihrer Meinung nach weder in der Sorge um ihr
Schicksal noch in der Frage begründet, ob der Irak über
Massenvernichtungswaffen verfügt.

Für die Zukunft des Irak hat die Bush-Administration bislang kein
glaubwürdiges Projekt vorgelegt. Die Opposition, innerlich
zerstritten und ohne jeden Rückhalt in der Bevölkerung, spricht
über die “Nach-Saddam-Zeit” nur mit den Amerikanern. Ihre
“subversiven” Radiosendungen gelten als ebenso “zuverlässig” wie
die amtlichen Medien, deren Methoden sie reproduzieren (Propaganda,
Desinformation, Sonntagsreden). Umso verständlicher ist das
Bedürfnis der Menschen, über die Zukunft zu sprechen,
Erklärungen zu suchen, Alternativen durchzuspielen.

Die Fantasie wird beflügelt durch das unbezähmbare Bedürfnis
nach Sinngebung und durch die Tatsache, dass keine stimmige und
hinreichend konsistente Erklärung dieses Grundbedürfnis
befriedigt. Da man die Amerikaner nicht als Befreier wahrnimmt, ist
ihre Präsenz nur als demütigende Besatzung vorstellbar. Manche
malen sich aus, dass sie demnächst in ihrer eigenen Stadt an jeder
Ecke von GIs kontrolliert werden. Andere empören sich bereits beim
Gedanken an die siegreichen und arroganten Marines, in Shorts und mit
einem Bier in der Hand, denen sich die Mädchen anbieten, die der
allgemeinen Armut entkommen wollen.

Die Fantasie will auch die tieferen Ursachen des drohenden Schicksals
ergründen und sie will die Mächte des Bösen identifizieren, die
so viel Unrecht und Grausamkeit verursachen. Am meisten verbreitet
ist die (im arabischen Massenbewusstsein fest verankerte, vom Regime
noch geschürte) These, der US-Imperialismus verfolge das Ziel, sich
die gesamte arabische Welt unterzuordnen und deren Ressourcen
anzueignen, und das Ganze sei selbstredend eine zionistische
Verschwörung. Dass sich in diesem Punkt Massenbewusstsein und
offizielle Verlautbarungen decken, darf indes nicht zu falschen
Schlüssen verleiten. Immer wieder hört man, Saddam Hussein, der
sich selbst zum Vorkämpfer gegen die Vereinigten Staaten und Israel
erkoren hat, sei womöglich ein Agent dieser Länder, weshalb zu
befürchten sei, der angekündigte Krieg werde – trotz der
militärischen Drohkulisse – am Ende durch eine gütliche
Geheimvereinbarung verhindert.

Aufgrund der zweideutigen Informationen und der ambivalenten
Gefühlslage hört man allenthalben widersprüchliche
Äußerungen. Diese geistige Konfusion beeinträchtigt auch die
Einschätzung des kommenden Kriegs. Die Mehrheit der Bevölkerung
wünscht zwar einen Wechsel, doch das unerträgliche Maß an
Ungewissheit lässt die Menschen am Bestehenden, am Bekannten
festhalten, statt auf das Abenteuer eines Umbruchs zu setzen. Wird
der Krieg kurz sein, oder müssen wir uns auf monatelange
Versorgungsmängel einrichten? Sollen wir in Bagdad bleiben oder
aufs Land fliehen? Wird Saddam Hussein nichtkonventionelle Waffen
gegen die eigenen Bürger einsetzen?

Diese und andere Fragen laufen auf folgende Haltung hinaus: Das
Regime wird am Ende fallen – umso besser -, aber um welchen Preis?
Wie soll man glauben, dass einem nach einem Krieg, in dem es nur um
Interessen geht, eine bessere Zukunft bevorsteht? Der Zusammenbruch
des Systems wird eine große Leere hinterlassen. Ein Wettlauf um die
Macht wird beginnen, und was daraus für die Demokratie folgt, ist
ungewiss. Wenn sich nämlich das dicht gewebte Netz aus
Baath-Partei1, Polizei und Sicherheitsapparat auflöst, wer wird
dann die aggressiven Triebe einer verarmten, gedemütigten,
frustrierten, rachsüchtigen Bevölkerung zügeln? Die Unruhen im
Gefolge der Operation “Wüstensturm”, die man auch als “Intifada von
1991” bezeichnet hat, waren durch Plünderungen und Racheakte
gekennzeichnet.

Viele Stützen des Regimes, vom Mitglied der örtlichen Parteizelle
bis zum Geheimdienstoffizier, fürchten Repressalien. In einer Zeit,
da jedes Anzeichen mangelnder Loyalität fatale Folgen haben kann,
bleibt ihnen keine andere Wahl, als weiterhin ihr Amt auszuüben,
was sie morgen zu Opfern ihrer ehemaligen Opfer machen wird. Einige
versuchen, sich mit den Menschen, die sie geschurigelt haben,
rechtzeitig zu versöhnen, und argumentieren dabei, sie hätten die
von ihnen ausgeführten Befehle innerlich nicht gutgeheißen.
Andere ziehen aus ihrer Umgebung weg und versuchen so, in der
Anonymität unterzutauchen. Im Falle eines Krieges wollen sie die
Befehle zwar befolgen, doch ohne jeden Eifer, um einerseits für den
Fall vorzubauen, dass das Regime auf wundersame Weise überlebt, und
sich andererseits keine neue Feinde zu machen. So beginnt ein
riskantes Spiel der Neupositionierung, dessen Erfolg erst mit dem
Zusammenbruch des Regimes sichtbar werden wird.

Clans und Kalaschnikows

Die Existenz von Clanstrukturen2, die ihre Angehörigen in feste
Gemeinschaften einbinden, wird in dieser Phase die Versuche, die
Karten neu zu mischen, noch komplizierter machen. Diese Clans, denen
wichtige Persönlichkeiten des sozialen und politischen Lebens
vorstehen, verfügen über ein hohes Mobilisierungspotenzial, wenn
die Interessen oder die Ehre ihrer Gemeinschaften auf dem Spiel
stehen. Sie sind bereits heute gut mit Waffen versorgt
(Kalaschnikows, Granaten, Mörser) und werden den Zerfall des
derzeitigen Sicherheitsapparats zu nutzen wissen, um sich noch besser
einzudecken. Sie verfügen über eine weitgehende Autonomie und
regeln viele ihrer inneren Streitigkeiten nach dem traditionellen
Stammesrecht. Es steht daher zu erwarten, dass diese Clans
untereinander wie auch mit der Zentralmacht ein kompliziertes
Machtgerangel initiieren werden, wenn es an die Aufteilung der
Ressourcen geht (Land, Wasser, Waffen, Prestige, Lebensart). Und
bewaffnete Auseinandersetzungen sind nicht auszuschließen.

Im Unterschied zu Afghanistan werden die USA diese traditionellen
Clans während der Kämpfe in keiner Weise für sich einspannen
können. Die mächtigsten unter ihnen haben keinen Grund, sich
über die Politik des Regimes zu beschweren, und werden über
genügend Macht verfügen, um ihr Wohlwollen von einer künftigen
Regierung teuer bezahlen zu lassen. Durch Verrat an Saddam Hussein
haben sie nichts zu gewinnen – jedoch alles zu verlieren, wenn dieser
politisch überleben sollte. Was nicht völlig ausgeschlossen ist,
wenn man an die unzähligen Attentate und Putschversuche denkt, die
er genauso überlebt hat wie den Krieg gegen das Bündnis von 33
Staaten. Kein Zweifel also, dass sich niemand von der Stelle rühren
wird, bis klar ist, dass der König fällt.

Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die Situation ab einem
bestimmten Moment kippen wird. In den ersten Stunden oder Tagen der
US-Intervention wird sich der lokale Sicherheitsapparat im
Hintergrund halten, und die rebellisch gestimmten Einwohner der alten
Elendsviertel in Bagdad und in den südlichen Städten werden erst
einmal abwarten. Doch dann wird das Regime plötzlich am Ende sein.
Es wird schlagartig auseinander fallen und sich rasch auflösen. Es
wird zu Aufständen, Plünderungen, Lynchmorden kommen, die aber
für den Kriegsverlauf ohne Bedeutung sind. So unterschiedlich die
Iraker die Widerstandsfähigkeit des Regimes einschätzen, so
einstimmig sagen sie solche chaotischen Zustände voraus.

Dass die Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt kippen wird – den
Washington nicht kennt -, zeigt sich an den Kriegsvorbereitungen des
Regimes. Sie sind darauf gerichtet, diesen Augenblick möglichst
lange hinauszuzögern und die Bevölkerung möglichst lange unter
Kontrolle zu halten. Entgegen allen hochtönenden Verlautbarungen
erwartet das Regime nicht, dass sich die Massen gegen den
Eindringling erheben, sondern dass sie sich ruhig verhalten und zu
Hause bleiben. Mit Beginn der Feindseligkeiten soll eine totale
Ausgangssperre in Kraft treten. Man verteilt bereits
Lebensmittelrationen, die bis Juni reichen sollen. Im Fernsehen wird
die Bevölkerung gewarnt, die Lebensmittel (wie gewöhnlich)
weiterzuverkaufen – man werde sie noch dringend benötigen. In
Bagdad und in den Städten des Hinterlands lässt man überall
Brunnen bohren, um die Wasserversorgung durch die Partei
sicherzustellen.

Die örtlichen Parteibüros in den einzelnen Stadtvierteln wurden
in Schulen verlagert. Sie sind dafür zuständig, die eingelagerten
Vorräte an Wasser und Brennspiritus (für Beleuchtung, Heizung und
Küche) zu verteilen und für jede Straße einen Verantwortlichen
für Ruhe und Ordnung zu benennen. Jeder Haushalt wird für das
Verhalten seiner einzelnen Mitglieder verantwortlich gemacht. Es wird
verboten sein, das Haus zu verlassen. An jeder Kreuzung sind bereits
Absperrungen aus Sandsäcken errichtet, um die Straßenzüge
besetzen zu können.

Diese Sicherheitsmaßnahmen sollen auf psychologisch subtile Weise
die Funktionäre einschüchtern. Die meisten würden schnell
desertieren, wenn sie direkt der ungeheuren technologischen
Überlegenheit der Amerikaner entgegentreten müssten. Wie groß
die Angst ist, zeigen die umlaufenden Gerüchte über Panzer, die
ihre Granaten mit der Geschwindigkeit eines Maschinengewehrs
abfeuern, über Flugzeuge, die 25-fache Schallgeschwindigkeit
erreichen, über Raketen, die plötzlich abstoppen können, um die
kleinste Bewegung aufzuspüren.

Nützlicher werden diese Stadtteilfunktionäre dort sein, wo es
darum geht, die öffentliche Ordnung zu wahren. Und diese Aufgabe
werden sie sich zu Eigen machen. Gleichwohl werden sie auch auf den
Ernstfall von Straßenkämpfen vorbereitet. Zu diesem Zweck
organisieren die Republikanische Garde und die “Saddam-Fedayyin”3
derzeit Trainingslager. An ausgewählte Bevölkerungsgruppen wurden
bereits Kalaschnikows verteilt. Unmittelbar vor Ausbruch des Krieges
wird das Regime zweifellos alle leichten Waffen ausgeben.

Das Hauptziel des Regimes besteht darin, die Bevölkerung unter
Kontrolle zu halten. In den Städten, wo die Gefahr von Aufständen
am größten ist, stützt sich das Regime auf die Partei und den
Sicherheitsapparat. Aber es weiß auch, dass deren Loyalität
durchaus fragil ist. Einerseits droht es indirekt mit Repressalien,
andererseits verlangt es auch kein übermäßiges Engagement. So
wird von den Angestellten der politischen Polizei und der
Nachrichtendienste nicht erwartet, dass sie ihr Leben opfern. Sie
sollen nur ihren normalen Pflichten nachkommen. Dieses Minimalprinzip
gilt auch für die ländlichen Regionen. Von den regimetreuen
Stammesorganisationen wird nicht etwa erwartet, dass sie sich in
einen sinnlosen Kampf stürzen. Es genügt, wenn sie Aufstände
und die Infiltration der von ihnen kontrollierten Gebiete zu
verhindern wissen. Dafür werden sie bezahlt und ausgerüstet.

Diese Strategie zielt darauf ab, das in Friedenszeiten eingeübte
Stillhalten der Bevölkerung auch in Kriegszeiten zu
gewährleisten. Ihre Schlagkraft und abschreckende Wirkung bezieht
diese Strategie aus der Allgegenwart der Sicherheitskräfte, die
ebenso abschreckend wirken soll wie die Propaganda, die hinreichend
Angst verbreitet, um jeden Aufstandsgedanken im Keim zu ersticken.

Was die persönliche Sicherheit des Präsidenten betrifft, so gibt
es hier eine erprobte Taktik, die nicht auf befestigte
Verteidigungsanlagen, sondern auf Mobilität setzt (falsche
Präsidentenkonvois, Ortswechsel mit “normalen” Autos,
unangekündigte Übernachtungen bei ausgewählten Familien).
Unzählige Gerüchte inszenieren Saddam Hussein als
vielgestaltiges, ungreifbares, erfindungsreiches Wesen, das alle
denkbaren Verstecke des Landes zu nutzen weiß, bis hin zu den
verschlungenen Gängen in den Grundmauern der gigantischen Moscheen,
die in Bagdad derzeit errichtet werden.

Die totale militärische Überlegenheit der US-Streitkräfte
verbietet jeden herkömmlichen Gegenangriff. Erfolg verspricht
allein eine Taktik, die das genaue Gegenteil der US-Strategie ist.
Sollte sich der Krieg in die Länge ziehen und auf einer oder auf
beiden Seite sehr viele Opfer fordern, könnte die Situation auch in
die andere Richtung kippen und eine Volkserhebung gegen den
Eindringling auslösen. Auch die Iraker, welche die US-Politik für
akzeptabel halten, falls es ihr gelingt, Saddam Hussein rasch zu
stürzen, empfinden den Krieg als ungerecht und unmoralisch. Deshalb
muss dem Regime daran gelegen sein, den Kampf auf die Straße zu
tragen.

Welche Rolle fällt in diesem Szenario der regulären Armee und der
Republikanischen Garde zu, den einzigen bewaffneten Verbänden, die
der amerikanischen Feuerkraft entgegentreten könnten? Saddam
Hussein kann sich auf seine Truppen weder in militärischer noch in
politischer Hinsicht verlassen. Dem könnte der Präsident Rechnung
tragen, indem er von seinen Männern nicht mehr erwartet, als auf
ihren Posten auszuharren und ein minimales Pflichtbewusstsein zu
zeigen. Die außerhalb von Bagdad stationierten Truppen werden den
Luftangriffen und dem Vormarsch der US-Streitkräfte nur schwachen
Widerstand entgegensetzen können, so dass der Weg nach Bagdad frei
wäre. Die in Reserve gehaltenen Elitetruppen könnten in einer
zweiten Phase zum Einsatz kommen. Sie haben in den städtischen
Wohngebieten Stellung bezogen, wo sie für die US-Luftwaffe ein
schwieriges Ziel abgeben.

Wie immer sich die an der Front geopferten Truppen schlagen mögen,
in erster Linie muss das Regime versuchen, die militärische
Konfrontation in die Fläche zu tragen. Nur so kann es hoffen, dass
die Situation in die andere Richtung kippt – wenn es nicht zuvor
durch eine Rebellion hinweggefegt wurde. Doch selbst in dem
wahrscheinlichen Fall, dass das Regime stürzt, bleibt die Frage, ob
sich die Bevölkerung nicht jeder US-Präsenz gewaltsam widersetzen
wird. Ohne Zweifel werden nur wenige zu den Waffen greifen, um das
Regime zu verteidigen, doch viele Iraker haben Zugang zu Waffen und
kündigen an, dass sie Soldaten der Besatzungsstreitkräfte töten
werden.

Für eine solche mögliche Radikalisierung gibt es reichlich
Anhaltspunkte. Jahre der Entbehrung und der Demütigung durch das
Hussein-Regime, aber auch die Sanktionen der Weltgemeinschaft haben
ein explosives Spannungspotenzial aufgebaut. Die Vorstellung, nach
dem Krieg würden rasch demokratische Verhältnisse einkehren, ist
eine Kopfgeburt. Im Prinzip sind die Iraker durchaus offen für
vernünftige Sinnangebote, aber simplizistische, dogmatische und
militante Phrasen sind wirksame Propagandamittel – ein gutes Beispiel
dafür sind ja die USA selbst.

Und was sagen die eigentlich Betroffenen, die Iraker selbst, die sich
in der aktuellen Debatte kaum zu Wort melden können? Einer meint,
seine Entscheidung stehe fest: Wenn es nicht zum Krieg kommt, werde
er das Land verlassen, weil er das Regime von Saddam Hussein nicht
“weitere zehn Jahre” ertragen könne. Und ein anderer wiederum sagt,
er würde sich lieber weiterhin mit einem “voll gefressenen”
Präsidenten arrangieren als mit irgendwelchen Nachfolgern, die das
verarmte Land mit ihrer Unersättlichkeit kahl fressen würden.
Doch der irakische Bürger, der ernsthaft glaubt, die USA würden
verantwortungsbewusst handeln, einen Marshallplan auflegen und dem
Irak Frieden und Wohlstand bringen, ein solcher Optimist muss erst
noch gefunden werden.

Dazu David Baran, "Baath-Partei im Irak: Kuschen, schwitzen, Punkte sammeln", Le Monde diplomatique, Dezember 2002.

Dazu Faleh A. Jabar, "Parti, clans et tribus: un fragile équilibre", Manière de voir 67, Januar/Februar 2003.

Miliz, die Saddam Husseins ältestem Sohn Uday untersteht, bestehend aus jungen, entmachteten, sorgfältig ausgewählten Freiwilligen.

Published 11 March 2003
Original in English
Translated by Bodo Schulze

Contributed by Le Monde diplomatique © Le Monde diplomatique Eurozine

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