Die Last der Geschichte und die Falle der Erinnerung

Seit der Entscheidung für die Erweiterung der EU steckt Sand im Getriebe der deutsch-polnischen Beziehungen. Ein zentraler Streitpunkt seit 2003 war und ist ein vermeintlich abstraktes Thema: die Geschichte beider Länder. Umstritten ist vor allem die Frage, wie man die Besatzungszeit von 1939 bis 1945 und die anschließende Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten behandelt. Zwar haben sich die Bundespräsidenten Rau und Köhler und der scheidende Staatspräsident Aleksander Kwasniewski immer wieder um versöhnliche Gesten und den deutsch-polnischen Dialog bemüht, aber damit lassen sich die Differenzen zwischen Deutschen und Polen in der Erinnerung an das Jahrzehnt zwischen 1939 und 1948 nicht überbrücken.

Ginge es nur um eine politische Verständigung, dann könnte man wohl relativ rasch eine Übereinkunft herstellen. Die Besatzungsherrschaft in Polen gehörte zu den grausamsten Erscheinungen des Nationalsozialismus. Neben drei Millionen polnischen Juden wurden ebenso viele nichtjüdische Polen ermordet, Millionen als Zwangsarbeiter versklavt und gegen Kriegsende die Hauptstadt Warschau in Schutt und Asche gelegt. Auf der deutschen Seite gab es etwa acht Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus Polen, die vor der Roten Armee geflohen waren oder nach dem Kriegsende vertrieben wurden. Wie hoch die Zahl der Toten war, wird sich nie zweifelsfrei feststellen lassen, aber besonders auf der Flucht starben viele Kinder und alte Menschen, sie verhungerten, erfroren oder gerieten zwischen die Fronten.

Opferdiskurse

Im Kalten Krieg war der Rückblick auf die Besatzungszeit in Polen und die Vertreibung relativ bequem, denn da konnten sich Deutsche und Polen aufgrund der fehlenden Kommunikation zwischen beiden Ländern ungestört als Opfer definieren. In der Bundesrepublik war diese Sichtweise vor allem in den 50er Jahren verbreitet, ehe man sich nach 1968 vermehrt mit der eigenen Täterschaft im Holocaust befasste. Doch die Anerkennung von Schuld gegenüber Polen fiel schwerer als gegenüber Israel. Bis heute spielt die Besatzungszeit in Polen eine untergeordnete Rolle im öffentlichen Bewusstsein, da das Gedenken an den Holocaust die Erinnerung an die Täterschaft von Deutschen dominiert. Dagegen stellte der alltägliche Terror gegen Polen zwischen 1939 und 1945 nur ein Detail im Gesamtbild der nationalsozialistischen Verbrechen in Ostmittel- und Osteuropa dar. Generell ist der Antisemitismus in der deutschen Geschichte wesentlich besser aufgearbeitet als der Antipolonismus, der die Bundesrepublik in ihrer frühen Zeit weiterhin stark prägte.1

In Polen kam die Debatte über eigene Schuld in der Geschichte erst nach der Wende im Zusammenhang mit der Judenverfolgung in Gang. Traditionell definiert sich Polen als eine Opfernation, wofür es angesichts der Teilung des Landes zwischen 1795 und 1918, der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg und der anschließenden sowjetischen Hegemonie genügend Anhaltspunkte gibt. Vor allem das Aufdecken der Vorfälle in Jedwabne, einer polnischen Kleinstadt, in der die örtliche Bevölkerung sich im Zweiten Weltkrieg an der Ermordung der örtlichen Juden beteiligt hatte, löste 2001 einen Schock aus. Konservative und kirchliche Kreise leugneten oder minimierten dieses Verbrechen zunächst, doch Staatspräsident Kwasniewski erschien zur zentralen Gedenkfeier in Jedwabne, und Kardinalprimas Glemp gedachte nach anfänglichem Zögern der Opfer.2 Auch in Bezug auf die Deutschen leisteten polnische Historiker nach der Wende eine umfangreiche Aufarbeitung. Zahlreiche Publikationen dokumentieren inzwischen die Vertreibung mit ihren schlimmsten Begleiterscheinungen wie den Arbeitslagern.3 Aus diesen Untersuchungen, die zum Teil ein breites Lesepublikum erreichten, geht klar hervor, welches Leid Vertreibung und Zwangsaussiedlung bedeuten können.

Während man sich in Polen nach 1989 vorsichtig vom alten Selbstverständnis der Opfernation entfernte, ist im vereinigten Deutschland seit einigen Jahren das Gegenteil zu beobachten. Vor allem seit dem Erscheinen von Günter Grass’ Roman “Im Krebsgang” haben Opferdiskurse wieder Konjunktur. Das Thema der Vertreibung, das infolge der Ostpolitik von Willy Brandt eher am Rande der Aufmerksamkeit lag, ist in jüngster Zeit ins Zentrum der Medien gerückt. Betrachtet man die Bildsprache, so etwa im Spiegel spezial über die Flucht und Vertreibung der Deutschen,4 ist die Botschaft eindeutig. Dort sieht man Vertriebene fast nur im Treck und im Elend, mithin als Opfer.5 Dagegen fragt in den neuerdings so zahlreichen Artikeln, Filmen und Büchern zur Vertreibung kaum jemand nach der Vorgeschichte der Vertriebenen, obwohl die NSDAP 1932/33 in Niederschlesien und Ostpreußen Rekordergebnisse erzielt hatte und von dort aus Polen 1939 militärisch in die Zange genommen worden war. Auch die Sudetendeutschen haben eine problematische Vorgeschichte. Sie hatten 1938 mit überwältigen der Mehrheit für eine nationalsozialistisch gesonnene Partei gestimmt und damit wesentlich zur “Zerschlagung” der Tschechoslowakei beigetragen.

Kann man daher die gesamte geflohene und vertriebene deutsche Bevölkerung aus Mittel- und Osteuropa nur als Opfer bezeichnen? Beim Vertreibungsbegriff schwingt bis heute eine Schuldzuweisung an die Polen, Tschechen, Russen und Beteiligten anderer so genannter “Vertreiberstaaten ” mit. Hunderttausende Deutsche kamen jedoch 1945 deshalb ums Leben, weil diverse Gau- und Kreisleiter der NSDAP die Evakuierungsbefehle viel zu spät erteilten, um Ostpreußen, Schlesien und andere Gebiete möglichst lange zu halten. Auf der Flucht starben im Winter unzählige Menschen. Sie gelten heute alle als Vertreibungsopfer und nicht als Kriegsopfer, wobei im großen Gedenk- und Jubiläumsjahr 2005 häufig die Zahlen durcheinander gerieten. Obwohl zum Beispiel die gemeinsame deutschtschechische Historikerkommission die Zahl der sudetendeutschen Opfer bereits 1997 auf maximal 30.000 schätzte,6 war in den Medien anlässlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes und des Beginns der Vertreibung fortwährend von 250.000 toten Sudetendeutschen die Rede. Übertriebene Zahlen wurden im Deutschlandradio, in großen Tageszeitungen und sogar in der linken taz genannt, obwohl sie nachweislich auf einem statistischen Fehler bei der Volkszählung von 1946 und der Einberechnung aller Vermissten und Untergetauchten beruhten.

Das Neue an diesem Opferdiskurs des frühen 21. Jahrhunderts ist, dass er von Altlinken aufgebracht wurde. Günter Grass, Helga Hirsch und andere Publizisten, jedoch auch einige Historiker wie Karl Schlögel behaupten seit einigen Jahren, dass die Vertreibung von der linksliberalen Mehrheit der Bundesrepublik tabuisiert worden sei. Man spricht sogar von der “Rückkehr der Erinnerung”, als ob das Thema zuvor in Vergessenheit geraten wäre. In Süddeutschland, in kirchlich geprägten, in ländlichen Milieus und in den meisten betroffenen Familien und somit einer großen Mehrheit der westdeutschen Gesellschaft war dies zwar nie der Fall, aber der Einfluss der 68er reicht immerhin so weit, um die Medien von links bis rechts von ihrer These zu überzeugen. Dabei spielt der biografische Aspekt eine gewisse Rolle. Wie Helga Hirsch in mehreren Büchern betont, habe ihre Generation den eigenen Eltern nach 1968 nicht zuhören wollen, wenn sie von ihrem Schicksal während der Vertreibung erzählten. Nun wolle man ihnen wenigstens posthum Gerechtigkeit widerfahren lassen und damit einen Teil der eigenen Prägung in der Kindheit aufarbeiten. Diese biografisch begründete Entsagung von der eigenen ideologischen Prägung liegt in der Tradition von 1968. Vor bald vierzig Jahren hatten zahlreiche Mitglieder von K-Gruppen, Maoisten und sonstiger linker Splittergruppen ebenfalls biografische Motive für ihre Aktivitäten. Sie stammten häufig aus gutbürgerlichen Familien, die in den Nationalsozialismus verstrickt waren, und konnten daher mit ihren Eltern nicht über deren Verbrechen und Mitwisserschaft kommunizieren. Während man vor 40 Jahren noch Zuflucht beim Kollektivismus suchte, steht heute passend zum gesellschaftlichen und politischen Wertewandel das Individuum im Vordergrund. Es geht um die individuelle Opferrolle und das Trauma, das Deutsche in den Bombennächten und auf der Flucht erlitten haben. Diese Geschichten lassen sich besser erzählen und verkaufen als kausale Erklärungen, wie es zur Vertreibung kam und warum gerade auf Seiten der Deutschen Opfer- und Tätergeschichten eng miteinander verwoben sind.

Die Memorians: Erinnerung an Deutsche als individuelle Opfer

Wie die zahlreichen neu gegründeten Geschichtsmagazine (ZEIT Geschichte, Geo-Geschichte etc.), die Sonderhefte des Spiegel und der Erfolg von Guido Knopps Doku-Soaps im Fernsehen belegen, ist Geschichte ein Geschäft geworden, das sich von lauten Thesen, dramatischen Bildern und erschütternden Einzelschicksalen nährt. Hier hat sich ein neuer Berufszweig von “Memorians” gebildet, die sich meist außerhalb der Universitäten und unbelastet von mühsamer Forschungsarbeit mit Geschichte befassen. Die mediale Aufarbeitung läuft unter dem Etikett der “Erinnerung”, das der Befassung mit Geschichte etwas Authentisches verleiht und gleichzeitig die Konzentration auf individuelle Schicksale rechtfertigt, auch wenn sich damit weder der Holocaust noch die Vertreibung erklären lassen. Und da die Deutschen die gelungene Vergangenheitsbewältigung inzwischen als Teil ihrer nationalen Identität empfinden, prallt auch die Kritik von Historikern wie Norbert Frei, dass die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen noch längst nicht beendet sei, an den Memorians ab. Sie verweisen darauf, dass schon so viel über die Deutschen als Täter bekannt sei und die Deutschen so viel in der Vergangenheitsbewältigung geleistet hätten, dass man sich nun quasi als Ausgleich den Opfern zuwenden könne. So plump wie Martin Walser hat selten jemand formuliert, dass die Deutschen genug von der ewigen Büßerrolle hätten, aber selbst die linksliberale ZEIT konstatiert eine zeitliche und logische Abfolge. Demnach hätten die alte Bundesrepublik und der linksliberale Mainstream seit 1968 die deutsche Schuld und Täterschaft aufgearbeitet, nun könne man sich daher als nächstes dem Thema der deutschen Opfer zu wenden. Oder um es in die gewundenen Worte von Sebastian Ullrich in der ersten Ausgabe von “ZEIT Geschichte” vom Frühjahr 2005 zu fassen: “Bei der in der letzten Zeit zu beobachtenden verstärkten Erinnerung an die deutschen Opfer von Krieg und Vertreibung handelt es sich daher nicht um eine bloße Rückkehr zu Gedenkmustern der 1950er Jahre, denn die Vergegenwärtigung deutschen Leidens findet heute in einem gänzlich veränderten geschichtspolitischen Kontext statt und dient nicht mehr der Relativierung der deutschen Verbrechen. Durch die Debatten um die Wehrmachtsausstellung und die Goldhagen-Kontroverse ist in den späten 1990er Jahren das Bewusstsein für die Täterschaft der Deutschen noch einmal geschärft worden.”7 Demnach muss man das Täterbewusstsein nicht mehr schärfen, man darf sich jetzt neuen Themen zuwenden.

Ein wesentlicher Unterschied zu den Geschichtsdiskursen in den 50er Jahren liegt darin, dass diese selektive Erinnerung in der Berliner Republik vorerst ohne Steuerung von oben bzw. durch eine Regierung erfolgt. Die treibenden Kräfte sind neben den Nationalkonservativen gewendete 68er, die mit fortgeschrittenem Alter sich als das erweisen, was sie vielleicht schon immer waren: gute Deutsche, die an der Festigung nationaler Geschichtsbildermitwirken. Und die Rhetorik dieser guten Deutschen ist viel besser als vor 50 Jahren, sie kennen das Vokabular der globalen Opferrhetorik und der political correctness, sie wissen um den Holocaust und würden ihn niemals leugnen, sie bekennen sich mit Verve zu den Schattenseiten der deutschen Geschichte und fordern von den Polen und Tschechen doch nur, sich ebenfalls zu bekennen und eine Büßerhaltung einzunehmen, wobei diesen Ländern gerne unterschwellig unterstellt wird, sie hätten den Stand der Vergangenheitsbewältigung in der Bundesrepublik noch nicht erreicht.

Ein neues deutsches Geschichtsverständnis und die Reaktionen in Ostmitteleuropa

Es gibt einen weiteren Unterschied zu den 50er Jahren: Die Debatten um die Geschichte in der Bundesrepublik werden heute in Ostmitteleuropa genau mitverfolgt. Vor allem die polnischen Zeitungen und das Fernsehen verfügen seit der Wende in Deutschland über ein dichtes Netz an Korrespondenten. Unter ihnen herrscht wie bei der gesamten polnischen Intelligenz eine besondere Aufmerksamkeit in Bezug auf die Geschichte. In fast jeder gebildeten polnischen Familie ist mindestens ein Großvater oder Großonkel der deutschen Besatzungsherrschaft zum Opfer gefallen. Zwangsarbeit, Hunger oder der Verlust des Eigentums gehörten ohnehin zum Alltag. Es gibt daher in Polen eine Sensibilität für den Umgang mit dem Nationalsozialismus, die den heutigen Deutschen kaum bewusst ist. Überhaupt genießt die Bundesrepublik allein aufgrund ihrer Größe und Wirtschaftskraft in Polen und Tschechien eine vielfach höhere Aufmerksamkeit als umgekehrt. Daher sind dort die Funktionäre der Vertriebenenverbände wesentlich bekannter als in Deutschland selbst. Der Name von Erika Steinbach, der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen (BdV) ist in Polen fast so geläufig wie jener von Gerhard Schröder, sie hat es dort auch mehrfach auf die Titelseiten der Nachrichtenmagazine geschafft.

Vor allem die Forderung der Vertriebenenverbände auf Entschädigung für verlorenes Eigentum im Osten hat Abwehrreaktionen ausgelöst, die sich unter anderem im Erweiterungsvertrag mit der EU niederschlugen. Die polnische Regierung beharrte – im Wesentlichen aus Furcht vor den Deutschen – auf einer langen Übergangsregelung für den Kauf von Land und nahm dafür sogar massive Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt in Kauf. Als die “Preußische Treuhand”, eine personell eng mit den Vertriebenenverbänden verwobene Organisation, vor zwei Jahren erstmals Entschädigungsklagen gegen Polen ankündigte, reagierte das polnische Parlament im Herbst 2003 mit einer einstimmigen Resolution, die die Regierung zu Reparationsforderungen an Deutschland auffordert, sollten von dort aus materielle Ansprüche gestellt werden. Der Inhalt der Resolution und noch mehr die Einstimmigkeit stellen einen Rückfall in die 50er Jahre dar, als der damalige Parteichef Wladyslaw Gomulka antideutsche Stimmungen förderte, um sich Unterstützung für den Sozialismus und die erzwungene Bruderschaft mit der Sowjetunion zu sichern. Die Resolution des Sejm ist rational nicht ohne weiteres nachvollziehbar, da die Entschädigungsforderungen gegen Polen nach einem fundierten Rechtsgutachten ohnehin chancenlos sind.8 Aber vor allem auf lokaler Ebene haben jene Polen Angst, die in früheren deutschen Häusern wohnen. Ein Drittel der polnischen Bevölkerung lebt in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, so dass diese Befürchtungen kein gesellschaftliches Randphänomen darstellen. Außerdem lässt sich die vermeintliche Bedrohung durch vertriebene Deutsche stets für den Wahlkampf ausschlachten. Auch vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom Herbst 2005 machte die “Preußische Treuhand” wieder Schlagzeilen, obwohl nur die alten Forderungen aus dem Jahr 2003 wiederholt wurden.

Auf ebenso viel Empörung stieß der Vorschlag von Erika Steinbach, ein “Zentrum gegen Vertreibungen” zu errichten. Dieses Zentrum sollte laut der ursprünglichen Konzeption von 2003 in Berlin samt einer “Gedenkrotunde ” in “zentraler Lage” errichtet werden, was eine indirekte Konkurrenz zur Holocaustgedenkstätte bedeuten würde. Das Zentrum sollte nach den ersten Plänen eine eindeutig nationalgeschichtliche Ausrichtung haben und primär dem Gedenken an die deutschen Vertreibungsopfer dienen. In Polen trieb vor allem die Aussicht, im Berliner Zentrum auf der Anklagebank zu sitzen, Politiker aller Couleur auf die Barrikaden, darunter auch den ehemaligen Außenminister Wladyslaw Bartoszewski, der trotz seiner Haft in Auschwitz als ausgesprochen germanophil gilt. Er drohte in Reaktion auf die Pläne von Steinbach, in Poznan ein Zentrum gegen die preußische Unterdrückung zu errichten. Auch die Person Steinbachs sorgt in Polen für fortwährende Irritationen. Die Frau vom rechten Flügel der CDU wurde im besetzten Polen als Tochter eines Besatzungssoldaten geboren. Dass sie nun als Vertriebene gilt – nach dem bundesdeutschen Vertriebenengesetz ist das korrekt – und sich als Fürsprecherin eines Opferverbandes geriert, empfinden Polen als Hohn. Bundeskanzler Schröder distanzierte sich im Sommer 2003 vom geplanten Zentrum gegen Vertreibungen, aber 2005 wurde es im Wahlkampf erneut zu einem Thema parteipolitischer Auseinandersetzungen. Angela Merkel machte das Zentrum gegen Vertreibungen zu einem Teil ihres Programms und verursachte damit in Polen einen Sturm der Entrüstung. Warum die eigentlich eher liberale Kanzlerkandidatin die Karte der Vertreibung ausspielte, lässt sich auf zweierlei Motive zurückführen. Entweder wollte Angela Merkel damit den rechten Rand der CDU/CSU einbinden und die Stimmen der Vertriebenen an sich binden, oder sie beabsichtigte tatsächlich eine Umdeutung der deutschen Zeitgeschichte. Die Taktik schlug indes fehl, denn ausgerechnet im Stammland der Vertriebenen, in Bayern, verlor die Union bei der Wahl vom September 2005 neun Prozent und damit weit mehr als im Landesdurchschnitt. Außerdem kann sich die künftige deutsche Regierung angesichts des Zustands der EU keine Eiszeit in den Beziehungen zu Polen und Tschechien leisten.

In Polen vermutet man hinter der moralischen Anerkennung einer Opferrolle der Deutschen außerdem rechtliche und finanzielle Ansprüche. Der BdV verfolgte in der Nachkriegszeit stets eine Doppelstrategie: die Anerkennung der Vertreibung als Unrecht und die Entschädigung der Vertriebenen durch Polen und Tschechien. Diese Politik behielt der Verband auch nach der Wende bei und machte jegliche Annäherung an Deutschland von einer Anerkennung seiner Sichtweise auf die Geschichte abhängig. Die Vertreter des BdV stimmten im Bundestag gegen die deutsch-polnischen Verträge von 1990/91, gegen die deutsch-tschechische Aussöhnungserklärung von 1997 und lehnten auch den EU-Beitritt Polens und Tschechiens ab, sollten diese beiden Länder sich nicht deutlich von der Vertreibung distanzieren.

Seit die EU-Erweiterung beschlossen ist, bedient sich Steinbach weniger aus dem Vokabular des Kalten Krieges, sondern aus dem internationalen Repertoire von Opferdiskursen. Es geht nicht mehr um Forderungen und Interessen, sondern um Erinnerung, Gedenken und Anerkennung. Damit ließen sich in Deutschland nicht nur ehemals Vertriebene ködern wie der jüngst verstorbene SPD-Politiker Peter Glotz, den man vor zehn Jahren niemals im Umfeld von Steinbach vermutet hätte, sondern auch Intellektuelle wie Ralph Giordano. Im Vergleich zur globalisierten Opferrhetorik der Vertriebenenverbände wirkte die einstimmige Resolution des polnischen Parlaments vom Herbst 2003 anachronistisch. Da schäumte noch einmal die Sprache des Kalten Krieges hoch, wurde Deutschland als Ganzes brüsk für die Kriegsschäden verantwortlich gemacht und mit Reparationsforderungen gedroht.

Nach diesem Eklat herrschte in Deutschland Ratlosigkeit. Wieso reagieren die Polen so überzogen, war die häufig gestellte Frage diverser Journalisten von öffentlich-rechtlichen Sendern und renommierten Tageszeitungen. Die Frage, ob vielleicht auf deutscher Seite ein Problem im Umgang mit der Vergangenheit besteht, wird erst gar nicht gestellt. Dies wäre in einem Land, das sich inzwischen durch seine gelungene Vergangenheitsbewältigung definiert, ein Schlag gegen das nationale Selbstwertgefühl.

Ein Indiz für die jüngere Schwerpunktverlagerung im Geschichtsverständnis der Deutschen liegt in der Gewichtung der Themen. Während der Gedenkveranstaltungen zum Kriegsende vor 60 Jahren im Winter und Frühjahr 2005 ging es immerzu um die zerbombten Städte und die Vertriebenen (nota bene selten um Flüchtlinge, wie es eigentlich korrekt gewesen wäre). Dagegen spielten die Verbrechen der Besatzer in Polen kaum eine Rolle. Völlig unter den Tisch fielen die über drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, die in deutschen Lagern an Hunger und Seuchen zugrunde gingen. Bei diesen Themen ist in Deutschland ein Vergessen zu konstatieren, das in auffälligem Kontrast zur Konjunktur der eigenen Opferdiskurse steht. Beispielhaft für den Paradigmenwechsel ist die Rede von Bundespräsident Köhler am 8.Mai 2005. Er erinnerte an die deutschen Untaten vor 60 Jahren, gleichwohl kam das Wort “Besatzung” kein einziges Mal vor, während es an vier verschiedenen Stellen um die Vertreibung und die Vertriebenen ging. Diese Rede entsprach offensichtlich dem Konsens in der deutschen Gesellschaft, denn weder von links noch von rechts regte sich Kritik.

Desinteresse und alte Ressentiments gegenüber Polen

Das verbreitete Unverständnis für Polen beruht indes weniger auf einer aktiven Verdrängung der deutschen Untaten von vor über 60 Jahren, an die Köhler ausführlich erinnerte, als vielmehr auf einer asymmetrischen Wahrnehmung. Nur eine Handvoll deutsche Zeitungen und Rundfunkanstalten leisten sich Korrespondenten in Warschau. Deutsche kennen Polen kaum oder gar nicht, Sprachkenntnisse sind die Ausnahme. Immer noch zeigen Umfragen über Polen erschreckende Vorurteile. Dies hat sich seit der Wende nicht wesentlich gebessert, nur der Hochmut gegenüber der “polnischen Wirtschaft” ist angesichts der Krise im eigenen Land zurückgegangen. Doch Polnisch ist an deutschen Schulen nach wie vor ein exotisches Wahlfach, selbst in grenznahen Gebieten wie Brandenburg und Sachsen.

Auch gebildeten Deutschen mangelt es oft an den einfachsten Grundkenntnissen über polnische Geschichte, obwohl diese aufs engste mit der deutschen und preußischen Geschichte verbunden ist. Preußen verdankte seinen Aufstieg zur Großmacht den Teilungen Polens von 1772, 1793 und 1795. Selbst die Gründung des Deutschen Reiches von 1871 beruhte auf dem Fortbestand dieser Teilung. Angesichts der Größe und Bedeutung der polnischen Minderheit und anderer slawischsprachiger Gruppen kann man durchaus hinterfragen, ob dieses Deutsche Reich und vor allem sein Kernstaat Preußen wirklich ein Nationalstaat war. Die vielen polnischen Namen in Berlin und im Ruhrgebiet zeugen von der Zuwanderung aus Polen im 19. Jahrhundert. Doch von diesen polnischen Einflüssen ist heute kaum noch etwas sichtbar – eine der vielen Folgen des Nationalsozialismus und des deutschen Nationalismus.

Die EU-Erweiterung hat neben Ignoranz und Vorurteilen ein neues Element ins Spiel gebracht: Die Furcht vor der “Billigkonkurrenz” aus dem Osten. Bereits im Jahr 2001 war im Vorfeld der Verhandlungen zur Erweiterung der EU nur noch vom “Öffnen der Schleusen”, der drohenden “Flut” von Einwanderern, einer nötigen “Kanalisierung” und “Eindämmung” die Rede, als stünden Hunderttausende von Polen an der Oder, um Deutschland zu überschwemmen. Die von der Regierung Schröder maßgeblich betriebene Zuzugssperre von sieben Jahren für Arbeitskräfte aus den neuen EU-Mitgliedsländern hat das Problem zwar verschoben, gibt aber den Menschen Anlass, sich fortan vor der endgültigen Öffnung des Arbeitsmarktes zu fürchten.

Die Furcht vor der Zuwanderung aus dem Osten erinnert an vergleichbare Diskurse vor über 100 Jahren. Kein Geringerer als Max Weber warnte in seiner Antrittsvorlesung an der Universität Freiburg über den “Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik” vor einer Zuwanderung aus Polen. Weber erklärte 1895 die Verdrängung deutscher Landarbeiter damit, dass die Polen “als Rasse” mit schlechteren Bedingungen leben könnten, zur Not “das Gras vom Boden essen”.9 Der Soziologe plädierte für eine Mischung aus Assimilation und Unterdrückung und eine aktive Ansiedlungspolitik, um die Polen im preußischen Teilungsgebiet in den Status einer Minderheit zu drücken. Polen wurden im Kaiserreich in vielfacher Hinsicht diskriminiert, auf dem Weg in den Staatsdienst, bei der Ausübung des Versammlungsrechts, in der Schule und anderen öffentlichen Einrichtungen. Vor allem die Manipulation der ethnischen Bevölkerungszusammensetzung nach dem Reichansiedlungsgesetz hatte fatale Folgen. Die deutschen Siedler im Osten konnten den Aufstieg der Polen zu einer modernen Nation nicht verhindern. Doch nach dem Ersten Weltkrieg, als Polen wieder ein unabhängiger Staat wurde, versuchte die neue Regierung, die Kolonisten aus dem Kaiserreich abzuschieben. Damit wurde die Sequenz von Ansiedlung und Aussiedlung, die Bismarck begonnen hatte, fortgesetzt. Im Zweiten Weltkrieg fand sie mit der massenhaften Vertreibung von Polen aus dem Warthegau und nach 1945 mit der Vertreibung der Deutschen aus dem nach Westen verschobenen Polen ihren Höhepunkt.

Ein Wegbereiter der rassistischen Einstellungen gegenüber Polen unter dem deutschen Bürgertum war der Schriftsteller Gustav Freytag. Der erfolgreichste deutsche Romanschriftsteller des 19. Jahrhunderts siedelt seinen 1855 publizierten Roman “Soll und Haben” in Schlesien und im preußischen Teilungsgebiet an und porträtiert seine Hauptfigur Anton Wohlfahrt als Kulturträger im Osten. Der Sohn einer kleinstädtischen protestantischen Familie arbeitet sich zunächst aus kleinen Verhältnissen zum Kaufmann empor, der im benachbarten Polen etliche Abenteuer zu bestehen hat. Im zweiten Teil beweist er sich als Mann im preußischen Teilungsgebiet, verteidigt einen deutschen Junker gegen eine angreifende polnische Meute und sichert das Landgut für sein Vaterland. Bei Freytag sind die Polen durchwegs diebische, schnauzbärtige und ungewaschene Kerle, denen man mit der nötigen Härte begegnen muss, damit sie kuschen. Wohlfahrt äußert an einer zentralen Stelle des Romans, es gebe “keine Rasse, welche so wenig das Zeug hat, vorwärts zu kommen und sich durch ihre Kapitalien Menschlichkeit und Bildung zu erwerben, als die slawische.” Die Deutschen besäßen daher ein Recht und die Pflicht, Polen zu “kolonisieren”. Der ganze Roman liest sich wie ein Panoptikum deutscher Tugenden – von Fleiß, Ordnung, Bescheidenheit und Ehrlichkeit. Auch die sozialen und konfessionellen Spezifika der wilhelminischen Deutschen als bürgerlich-protestantischer Nation werden in Abgrenzung zu Polen definiert. Perfide ist die Ausgrenzung der Juden, die im Roman als Betrüger und Gefahr dargestellt sind. Freytag lässt die Juden in seinem Buch mit polnischer Syntax reden, exotisiert sie somit, obwohl die Juden in seiner Heimatregion Schlesien in Wahrheit stark an die deutsche Kultur assimiliert waren. Der Roman “Soll und Haben” war nicht nur der Bestseller des Kaiserreiches, sondern bis weit in die Nachkriegszeit in jedem besseren bürgerlichen Haushalt in Deutschland zu finden. Freytag übertrug später seine kolonialistische Attitüde gegenüber den Polen auf die überseeischen Kolonien und avancierte zu einem prominenten Aktivisten des Kolonialvereins. Sein Roman wurde im Kaiserreich zum Gründungswerk eines ganzes literarischen Genres, der so genannten Ostmarkenliteratur, dem Pendant zur englischen oder französischen Kolonialliteratur.10

Die Antwort der von Preußen beherrschten Polen war anders als in “Soll und Haben” beschrieben. Sie machten sich die vermeintlich exklusiv deutschen Tugenden zu eigen, bauten sich ein autarkes Genossenschaftssystem in der Wirtschaft auf und reagierten auch auf dem Feld der Kultur. Henryk Sienkiewicz, der spätere Nobelpreisträger, schrieb gewissermaßen als Antwort auf Freytag den historischen Roman Krzyzacy (Die Kreuzritter), in dem die Deutschen als Invasoren und Ausbeuter hingestellt werden. Aus den vermeintlichen Kulturträgern im Osten Europas, als die sich die Deutschen selbst sahen, machte er Krieger und Barbaren, die nur auf Beute unter den friedlichen Slawen aus sind. Auch wenn die preußischen Polen aufgrund dieser wirtschaftlichen und kulturellen Leistungen einen Teil ihrer Komplexe ablegten, so blieb die Furcht vor den Deutschen und den Kolonisten in der Zwischenkriegszeit eine Obsession, die sich während der Besatzungszeit auf das Schlimmste bestätigte. Heute weckt vor allem das durch den Zweiten Weltkrieg vertiefte Wohlstandsgefälle ein Gefühl der Ungleichheit. Deutschland genießt in Polen nach wie vor den Ruf des ordentlicheren, entwickelteren und reicheren Nachbarn, der aber wegen seiner Macht stets unheimlich bleibt. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die hitzige Abwehrreaktion gegen Steinbach und die “Preußische Treuhand” einordnen. Sie entspringt der alten, über ein Jahrhundert lang gewachsenen Angst.

Es liegt an der deutschen Öffentlichkeit und Politik, wie man mit dieser Angst umgeht. Eine interne Klärung der Rechtslage hinsichtlich der Eigentumsansprüche von ehemaligen Vertriebenen durch die Bundesrepublik wäre möglich. Immerhin haben die Vertriebenen seit den 50er Jahren einen Lastenausgleich für ihr verlorenes Eigentum im Osten bekommen, der bei einer Rückübertragung ihrer ehemaligen Besitztümer eigentlich zurückzuzahlen wäre. Mit dieser Rechnung könnte man etliche der Kläger in Polen oder demnächst auf der Ebene der EU davon überzeugen, ihre Ansprüche zurückzuziehen.

Ebenso wichtig wäre es, dass keine zentrale Gedenkstätte für die Vertriebenen in Berlin errichtet wird. Inzwischen ist zwar klar, dass der BdV mit Erika Steinbach genug Spenden gesammelt hat, um bald eine vorläufige Ausstellung in Berlin zu eröffnen. Im August 2005 verkündete Steinbach in einer Pressekonferenz vorschnell, dass sie die St. Michaelskirche in Berlin Mitte als Ort für das Gedenkzentrum und die Dauerausstellung gewonnen habe. Doch wenig später erklärte der Berliner Kardinal Sterzinski, dass er das Zentrum für nicht zeitgemäß halte und seine Kirche daher nicht für das Zentrum zur Verfügung stehe. Dann distanzierten sich auch die deutschen Bischöfe in einer gemeinsamen Erklärung mit ihren polnischen Amtsbrüdern deutlich von dem Prestigeprojekt des BdV, worauf Erika Steinbach dem Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, “Ungeheuerlichkeiten” und einen Bruch des achten Gebots “Du sollst nicht lügen” vorwarf. Diese Ausfälle und das schwache Abschneiden der Union bei der Wahl dürfte Steinbachs Projekt unrettbar beschädigt haben, aber dies ändert nichts an den grundsätzlichen Problemen im deutschen Diskurs über die Vertreibung und die Zeitgeschichte.

Differenzierende Betrachtung der Vertreibungsschicksale

Der Terminus der Vertreibung ist in den vergangenen Jahren zu einem Sammelbegriff für alle Arten von Opferschicksalen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges mutiert. Die Evakuierung durch die Nationalsozialisten wird darunter ebenso subsumiert wie die Flucht vor der Roten Armee, die Vertreibung zwischen Kriegsende und Potsdamer Abkommen und die vertraglich sanktionierte Zwangsaussiedlung nach dem August 1945. Diese Gleichsetzerei ist schon deshalb fragwürdig, weil sich hinter Flucht und Vertreibung verschiedene Schicksale verbergen. Wie erwähnt, befahlen die Nationalsozialisten die Evakuierung in vielen Gebieten zu spät, um die deutsche Zivilbevölkerung zum Durchhalten gegen die heranrückende Rote Armee zu zwingen. Doch wer rechtzeitig den Weg in den Westen fand, wie zahlreiche Parteibonzen und Angehörige der gesellschaftlichen Eliten, kam meistens glimpflich davon. Schlimm erging es hingegen den Opfern der sogenannten “wilden Vertreibung” im Frühjahr 1945, denn an ihnen entlud sich der aufgestaute Hass gegen die ehemaligen Besatzer. Die vertraglich geregelte Vertreibung nach dem Potsdamer Abkommen war im Vergleich dazu stärker durchorganisiert, vor allem nach zusätzlichen Verträgen zwischen den Siegermächten und den beteiligten Staaten Ostmitteleuropas Anfang 1946.11 Allerdings kamen die mittellosen Vertriebenen in einem Nachkriegsdeutschland an, das unter allgemeinem Hunger litt und keinen Wohnraum mehr zu verteilen hatte. Flucht und Vertreibung ist also keineswegs das Gleiche, und die Lebenswege vor und nach dem traumatisierenden Heimatverlust unterscheiden sich außerdem je nach Herkunftsregion. Sudetendeutsche hatten andere Erfahrungen und Startbedingungen nach 1945 als zum Beispiel Ostpreußen oder Schlesier.

Was die Landsmannschaften, also die organisierten Vertriebenen, hingegen eint, ist die Tatsache, dass in ihren Reihen Altnazis und großdeutsche Nationalisten häufig führende Stellungen einnehmen konnten, darunter der langjährige Vorsitzende der sudetendeutschen Landsmannschaft, Lodgman von Auen. Wie die beiden Historiker Detlev Brandes und Jiri Pesek herausgefunden haben, verfasste besagter Lodgman von Auen vor dem Krieg eine Schrift, in der er selbst die massenhafte Aussiedlung von Tschechen anregte. Dieser Teil der Vergangenheit der Vertriebenen ist noch überhaupt nicht aufgearbeitet, wobei man betonen muss, dass stets nur eine kleine Minderheit in den Landsmannschaften organisiert war.

Die im multiplen Gedenk- und Jubiläumsjahr 2005 deutlich ausgeprägte Fixierung auf das Ereignis der Vertreibung hat die Zeit nach der Vertreibung ebenso an den Rand gedrängt wie die Vorgeschichte vor 1945. Es ist eine der Aufgaben der Geschichtswissenschaft, diese verkürzte zeitliche Perspektive wieder zu erweitern. Vor allem die Zeit nach der Vertreibung liegt noch weitgehend im Dunkeln.12 Dies gilt nicht nur für die Vertriebenenverbände, sondern für alle Vertriebenen, die in Deutschland ankamen. Eine Erklärung für die fortgesetzte Klage über ihr Schicksal könnte darin liegen, dass ihnen im Nachkriegsdeutschland niemand wirklich zuhören wollte, sie ihre tragischen Erfahrungen nicht oder nur untereinander kommunizieren konnten. Das hieße jedoch, dass die Vertreibung oder deren mangelnde Aufarbeitung primär ein internes Problem der deutschen Nachkriegsgesellschaft ist und nur sekundär ein internationales Problem zwischen Polen und Deutschen sowie Tschechen und Deutschen. Auch in Polen und Tschechien weiß man über die Nachkriegsgeschichte der Vertreibungsgebiete relativ wenig.

Erinnerung – ein heterogener und transnationaler Forschungsgegenstand

Die Geschichtswissenschaft steht außerdem vor einer grundsätzlicheren Herausforderung. Die Begriffe der Erinnerung und des Gedächtnisses beruhen in der Regel auf der Vorstellung eines nationalen Kollektivs, das an die Vergangenheit zurückdenkt. In der deutschen Version von Pierre Noras “Lieux demémoires”, den von Etienne François und Hagen Schulze herausgegebenen Bänden “Deutsche Erinnerungsorte”, ist dieser Kollektivismus zwar schon ansatzweise durchbrochen, aber es geht doch um die Erinnerung der Deutschen an verschiedene Epochen.13 Wie der Wiener Kulturhistoriker Moritz Csaky herausgearbeitet hat, überdeckt diese Forschungsrichtung zu sehr die internen Differenzen der Erinnerung innerhalb einer Nation.14 Er betont außerdem den transnationalen Charakter der Erinnerung, den man mit Blick auf die Vertreibungsdiskurse nur bestätigen kann. Die deutschen Vertriebenen erinnern sich heute an Orte, die längst nicht mehr deutsch sind, genauso wie sich die polnischen Vertriebenen auf Orte beziehen, die heute in der Ukraine und Litauen liegen. Auch die im Osten verlorene Kultur kann man an vielen Orten eigentlich eher als eine Mischkultur begreifen, anstatt ihr nationale Stempel aufzudrücken.

Zudem ist die Wirkung kollektiver Erinnerungen transnational. Die Bundesrepublik ist heute kein isolierter westlicher Frontstaat mehr wie in den 50er Jahren, als man ohne größere internationale Proteste die nichtdeutschen Opfer an den Rand drängen und dafür die eigenen Leiden um so stärker in den Vordergrund rücken konnte. Jede Veränderung des historischen Selbstverständnisses wird in den östlichen Nachbarstaaten der Bundesrepublik argwöhnisch beobachtet. Darauf mag Helga Hirsch trotzig antworten, dass nationales Gedenken und Trauer weiter möglich sein müsse. Aber sobald dies medial verarbeitet wird, wird die Erinnerung automatisch transnational. So unbequem die Einsprüche aus Polen, Tschechien oder auch Israel sein mögen, so stellen sie doch ein Korrektiv dar, das die Generation der 68er heute nur noch vereinzelt anzubieten vermag. Daraus könnte ein Dialog über Geschichte entstehen, der nicht mehr um unvereinbare Erinnerungen kreist, sondern in internationaler Kooperation nach Erklärungen sucht, warum das 20. Jahrhundert so viele Katastrophen hervorgebracht hat und was sich heute daraus lernen lässt. In diese Richtung zielt auch die im September 2005 geglückte Gründung der Stiftung “Europäisches Netzwerk Erinnerung und Solidarität”, in der Polen, Deutsche, Slowaken und Ungarn gemeinsam die Geschichte der totalitären Regimes und damit auch der Kriege und Zwangsmigrationen erforschen wollen. Für das kommende Jahr sind im Rahmen der Stiftungsaktivitäten die Erstellung einer Wanderausstellung und eines wissenschaftlichen Lexikons über Zwangsmigrationen geplant. Allerdings bleibt abzuwarten, inwieweit die künftige Bundesregierung dieses Projekt ihrer rot-grünen Vorgängerin weiterhin betreiben wird und ob sich Tschechen und Österreicher substantiell daran beteiligen.

Bei der künftigen Aufarbeitung wird man die zur Zeit modische Fixierung auf Einzelschicksale überwinden müssen, denn das Urverbrechen der modernen Geschichte, der Holocaust, zeichnet sich gerade dadurch aus, dass man als Individuum der Verfolgung nicht entrinnen konnte. Ein ähnliches Prinzip galt bei den Vertreibungen, bei denen es nicht darauf ankam, welcher Nationalität sich ein Mensch zuordnete. Der verstorbene tschechische Historiker Jan Havranek hat indes den Unterschied zwischen Genozid und Vertreibung, zwischen dem Schicksal der Juden und den Vertriebenen genau benannt: “Der Weg der Zweiten endete nach dem Übertritt der bayerischen oder sächsischen Grenze in Armut, in der sie allein auf ihre Hände und ihren Kopf angewiesen waren. Der Weg der Ersten führte fast immer über Theresienstadt in die Gaskammern nach Auschwitz.”15 Die Aufspaltung der Geschichte in individuelle Einzel- oder Opferschicksale bringt in letzter Konsequenz nur eine Relativierung des Holocaust mit sich. Auch wenn dies nicht offen zugestanden wird, könnte darin die tiefere Absicht der Memorians liegen. Man will privatim und im globalen Diskurs Opfer sein, auch in Deutschland. Wie das Buch “Opa war kein Nazi” gezeigt hat, herrscht gerade unter den gebildeten Deutschen die Tendenz vor, unter den eigenen Vorfahren unschuldige Zeitzeugen, Opfer oder Widerstandskämpfer zu vermuten.16 Dagegen werden nationalsozialistische Biographien verdrängt. Die familiäre Erinnerung wird also bereits heute geschönt, es ist daher kein Wunder, dass es Versuche gibt, das gesamte Geschichtsbild der Gesellschaft zu verändern. Wenn man von dieser Schönschreibung der eigenen Familiengeschichten auf ein gesellschaftliches Niveau abstrahiert, dann will in Deutschland kaum noch jemand Täter sein, sondern lieber Opfer. Doch gerade die Polen, die während der Besatzungszeit lebten, ihre Kinder und Enkel wissen, wer die Täter waren. Es gibt für die Bundesrepublik kein Entrinnen aus dieser Geschichte, so sehr man es auch herbeisehnen mag.

Es gab im Zusammenhang mit der Entspannungspolitik jedoch grundlegende Versuche, das deutsch-polnische Verhältnis aufzuarbeiten. Vgl. dazu insbesondere die zahlreichen Aufsätze von Klaus Zernack, die in seinem Buch Preußen -- Deutschland -- Polen. Aufsätze zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, Berlin 1991, zusammengefasst sind.

Die Debatte um Jedwabne ist in der Zeitschrift Transodra auf Deutsch und Polnisch dokumentiert. Vgl. Ruth Henning (Hg.), "Die 'Jedwabne-Debatte' in polnischen Zeitungen und Zeitschriften. Dokumentation, in: Transodra 23, Potsdam 2002. Am einfachsten zugänglich ist die Internetausgabe auf www.dpg-brandenburg.de/text/inhalt23.htm (Zugriff am 5.10.2005).

Zu nennen ist hier insbesondere die vierbändige Quellendokumentation von Lemberg und Borodziej über die Behandlung der Deutschen in Polen, die inzwischen auch in einer deutschen Übersetzung erschienen ist. Vgl. Hans Lemberg und Wlodzimierz Borodziej, Die Deutschen östlich von Oder und Neiße 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven, 4 Bde. Marburg 2000-2003.

Vgl. Spiegel spezial vom 18.6.2002: Die Flucht der Deutschen.

Vgl. zur Bildsprache der Vertreibung Heidemarie Uhl, "Deutsche Schuld, deutsches Leid -- Eine österreichische Perspektive auf neue Tendenzen der deutschen Erinnerungskultur", in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 33 (2005), S. 160-180.

Vgl. Konfliktgemeinschaft, Katastrophe, Entspannung. Skizze einer Darstellung der deutschtschechischen Geschichte seit dem 19. Jahrhundert, hg. von der Gemeinsamen deutsch-tschechischen Historikerkommission, München 1996, S. 69.

DIE ZEIT Geschichte, Nr. 1, Teil 1, April 2005, S. 34.

Vgl. das Gutachten der beiden Professoren Jan Barcz (Universität Warschau) und Jochen Frowein (Universität Heidelberg), das u.a. auf der Webpage der Polnischen Botschaft in Berlin zugänglich ist (http://ambasadaniemiec.pl/files/gutachtenbarcz-frowein-dt.pdf (Zugriff vom 5.10.2005). Vgl. zu den Entschädigungsforderungen auch Krzysztof Ruchniewicz, "Doppelt betrogen? Der Streit um die polnischen Entschädigungsansprüche an die Bundesrepublik Deutschland", in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, H. 5/6, 2005, S. 323-332.

"Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik: Akademische Antrittsrede von Dr. Max Weber o. ö. Professor der Staatswissenschaften in Freiburg i.B.", in: ders., Schriften und Reden, Bd. 4, 2. Halbband: Landarbeiterfrage, Nationalstaat und Volkswirtschaftspolitik. Schriften und Reden 1892-1899, hg. von W. J. Mommsen, Tübingen 1993, S. 535-74, dort v.a. S. 545, 551 und 553.

Zu den kolonialen Attitüden im Kaiserreich gegenüber Polen vgl. Philipp Ther, "Deutsche Geschichte als imperiale Geschichte. Polen, slawophone Minderheiten und das Kaiserreich als kontinentales Empire", in: Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel, Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004, S. 129-148.

Vgl. zu diesen verschiedenen Phasen von Flucht und Vertreibung in vergleichender Perspektive u.a. Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene: Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen 1998.

Zu den Ausnahmen gehört das Buch des finnischen Historikers Pertti Ahonen, After the Expulsion. West Germany and Eastern Europe 1945-1990, Oxford 2003.

Vgl. Etienne François und Hagen Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001.

Vgl. zu dieser Kritik an der nationalen Ausrichtung der Erinnerungsforschung Moritz Csaky, "Gedächtnis, Erinnerung und die Konstruktion von Identität. Das Beispiel Zentraleuropas", in: Catherine Bosshart-Pfluger u.a. (Hg.), Nation und Nationalismus in Europa. Kulturelle Konstruktion von Identitäten, Frauenfeld 2002, S. 25-50, hier S. 26.

Jan Havranek, "Das tragische Jahrzehnt in Mitteleuropa", in: Richard G. Plaschka u.a. (Hg.), Nationale Frage und Vertreibung in der Tschechoslowakei und Ungarn 1938-1948. Aktuelle Forschungen, Wien 1997, S. xiii-xviii, hier xvii.

Vgl. Harald Welzer / Sabine Moller / Karoline Tschuggnall, 'Opa war kein Nazi'. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt 2002.

Published 21 August 2006
Original in German
First published by Transit 30 2005/2006

Contributed by Transit © Philipp Ther/Transit Eurozine

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