Die Krise und das Ende des Liberalismus in Mitteleuropa

Während die gegenwärtige Krise die kapitalistischen Wirtschaften des Westens lehrt, die Tugenden des Staates wiederzuentdecken, erweisen sich die Länder Osteuropas als die letzte Bastion des Liberalismus. Ihnen fällt es offensichtlich schwer, sich von ihm zu verabschieden. Nach 1989 haben sie sich für den Liberalismus entschieden, um das alte totalitäre Regime zu zerschlagen. Man muss allerdings unterscheiden zwischen den politischen Liberalen (wie Václav Havel), für die der Liberalismus die Grundlage der Menschenrechte und der individuellen Freiheit und damit der Demokratie bildet, und den Wirtschaftsliberalen (wie Václav Klaus), für die die unsichtbare Hand des Marktes das absolute Gegengift zur Planwirtschaft des Ancien Régime darstellt. Gegenüber der Macht des Staates hatten beide dasselbe Ziel verfolgt. Die Wirtschaftsliberalen begreifen freilich nicht, dass der Liberalismus anderswo, wie in Frankreich, wo das leidenschaftliche Streben nach Gleichheit dominiert, eine negative Konnotation besitzt. Statt das Modell der Sozialen Marktwirtschaft zu übernehmen, haben sie eine “Schocktherapie” angewandt, einen Liberalismus “ohne Attribut”. Zu dieser Entscheidung haben sicher die vorangegangenen erfolglosen Experimente mit dem Dritten Weg beigetragen, das Scheitern halbherziger Maßnahmen zur Reformierung des sozialistischen Systems: der Prager Frühling, die ungarischen Reformen oder die jugoslawische Selbstverwaltung.

Ohne Zweifel ist den Ländern, die rasche liberale Reformen durchgeführt haben, der Übergang besser gelungen als Ländern, die sich nur schrittweise reformiert haben, mit Ausnahme von Slowenien. Mehr als zehn Jahre lang konnten sie Wachstumsraten verzeichnen, die doppelt oder dreimal so hoch waren wie die in Westeuropa. Ihr Liberalismus ist also nicht nur eine ideologische Haltung, sondern beruht auch auf einem wohlverstandenen Interesse. Sie haben dafür ihre Wettbewerbsvorteile ausgespielt (niedrigere Löhne und Steuern, Flexibilität usw.). Die “Flat tax” ist quasi zum Emblem der liberalen “Tigerstaaten” Mitteleuropas geworden. Wenn man Kapitalismus macht, ohne Kapital zu haben, kommt dieses von außen: Die Wirtschaft dieser Länder ist von westlichen Investitionen und der Einbindung in den Weltmarkt abhängig. In der Krise hat sich ihre Kraft in Verletzbarkeit und Schwäche verwandelt.

Es waren die Länder Mitteleuropas und des Baltikums, die den Wirtschaftsliberalismus importiert haben, nicht aber die Balkanstaaten oder die ehemaligen Sowjetrepubliken. Am radikalsten sind heute die Polen und die Tschechen, die den Rückgriff auf staatliche Interventionen zur Eindämmung der Krise vehement kritisieren. Ungarn, das anfangs ziemlich liberal war, ist es in den letzten Jahren immer weniger. Das lässt sich zum Teil mit dem massiven Haushaltsdefizit erklären, die Auswirkungen der Krise haben dann das Ihre getan. Wir müssen aber noch stärker differenzieren. Nehmen wir zum Beispiel Estland und Slowenien, zwei kleine Länder, die miteinander vergleichbar sind, die beide wirtschaftliche Erfolge gefeiert, aber unterschiedliche Modelle angewandt haben. Sie sind ungefähr gleich groß (1,5 bzw. 2 Millionen Einwohner), haben ihre jeweilige Föderation (die UdSSR und Jugoslawien) zum selben Zeitpunkt verlassen, und stehen beide für eine Erfolgsgeschichte des Übergangs. Estland hatte das liberalste Modell gewählt und sich als Hong Kong Europas präsentiert, als idealer Standort für Investitionen in neue Technologien. Slowenien hatte bereits unter dem alten Regime mit Reformen begonnen und benötigte somit keine “Schocktherapie”. Es wählte ein hybrides Modell, eine Mischung aus öffentlichem Sektor und progressiver Privatisierung, mit einer langsamen Einführung ausländischen Kapitals. Nun ist es als erstes Land der Eurozone beigetreten und hat das höchste Bruttosozialprodukt pro Einwohner unter den neuen EU-Mitgliedern aufzuweisen.

Es gibt zwei Entwicklungen, die den Liberalismus in Mitteleuropa inzwischen in Frage stellen. Die eine kommt von innen und ist mit dem Aufstieg der Populisten verbunden: Populisten auf der Rechten in Polen (die Kaczynski-Brüder), und Populisten auf der Linken in der Slowakei (Fico in seinem Bündnis mit den Nationalisten). Beide setzen auf soziale Fragen und das Misstrauen gegenüber den liberalen Eliten, die in der Zeit des Übergangs nach 1989 dominierten. Die zweite Herausforderung kommt von außen: die Krise und die Mittel, die in Europa und den Vereinigten Staaten zu ihrer Heilung vorgeschlagen werden. Anfangs haben die besagten Länder die Krise gar nicht kommen sehen, sie dachten, sie würden verschont bleiben. Wenn man gerade den Kommunismus hinter sich gelassen hat, kann man sich nicht vorstellen, dass auch der Kapitalismus krank sein könnte. Darüber hinaus waren diese Länder zunächst tatsächlich weniger betroffen, da sie kein überentwickeltes Banken und Finanzsystem besitzen, das in der Lage gewesen wäre, “Subprimes” und ähnliche Produkte der Finanzspekulation zu erfinden.

Sie glauben immer noch, dass die Antwort auf die Krise darin besteht, weiter demselben liberalen Rezept zu folgen. Václav Klaus hat die aktuelle Krise mit einer Grippe verglichen: Mit medizinischer Hilfe dauert das Ganze eine Woche, ohne sieben Tage… Sie verurteilen die Rückkehr des Staates bei der Regulierung der Märkte und die Rettungsmaßnahmen mit Hilfe öffentlicher Gelder, die nur ein Alibi der Protektionisten seien. Sie sagen: “Nach dem harten Sozialismus des Ostens müssen wir nun dem weichen Sozialismus des Westens die Stirn bieten.” Noch vor kurzem war ihr Argument plausibel: hier das alte Kerneuropa mit seiner entwickelten sozialen Marktwirtschaft, dort die liberaleren Länder der Peripherie – Großbritannien und die östlichen Staaten. Die Krise hat diese Kluft aber verwischt bzw. neu definiert. Die Frontstellung lautet nicht mehr Zentrum gegen liberale Peripherie, denn gerade die beiden Vorbilder für Mitteleuropa, Großbritannien und die Vereinigten Staaten, greifen heute massiv ins Kapital der Banken ein oder verstaatlichen sie gar. Die Karten sind durcheinandergeraten.

Die Liberalen im Osten sind die letzten Rechtgläubigen. Aber auch sie können der Krise nicht entgehen und einen “Kapitalismus in einem Land” pflegen, während der Rest der Welt von ihr erfasst ist. Die Tschechische Republik und die Slowakei sind momentan zwar noch weniger betroffen als Ungarn, das den IWF um Hilfe bitten muss, oder Lettland, das seine erste große soziale Protestbewegung erlebt. Dennoch kündigt die Krise das unausweichliche Ende des politischen und ökonomischen Zyklus an, den Mitteleuropa seit 1989 durchlaufen hat.

Die Krise hat auch dazu geführt, dass das, was vom Mythos des liberalen Mitteleuropa übriggeblieben ist, nun implodiert. Man muss sich inzwischen fragen, ob Mitteleuropa überhaupt noch existiert. Das Treffen der Länder der Visegrad Gruppe vom 1. März 2009 brachte die Bestätigung, dass es keine gemeinsame Antwort geben wird. Die Ansichten gingen völlig auseinander, und jeder beschwor auf seine Art die Gefahr eines neuen Eisernen Vorhangs. Zunächst entwarf der ungarische Ministerpräsident einen Rettungsplan für das krisengeschüttelte Mitteleuropa, der sich auf 190 Milliarden Euro belief. Andernfalls sähe sich Mittelosteuropa mit politischen Spannungen und wachsendem Migrationsdruck konfrontiert. “Wir dürfen keinen neuen Eisernen Vorhang zulassen”, sagte Gyurcsany. Gegen diese Vereinnahmung der Visegrad-Länder erhob sich sogleich Protest. Nach Ansicht des slowakischen Ministerpräsidenten Fico ist die Neigung, die betreffenden Länder als eine Einheit zu behandeln, entstanden, nachdem die österreichischen Banken in manchen osteuropäischen Ländern Probleme bekamen und so den Eindruck erweckten, es gebe einen guten Westen und einen schlechten Osten. Auch die Tschechen protestierten gegen jedwede regionale Herangehensweise an die Krise. “Wir wollen keine neuen Trennungslinien”, sagte Ministerpräsident Topolánek. Im Namen derselben Idee, nämlich eine neue Teilung Europas zu verhindern, brachten Ungarn und Tschechen Argumente für und gegen ein konzertiertes Vorgehen der mitteleuropäischen Staaten vor. “Wir sind nun wirklich keine Ungarn!” lautete der Titel eines Artikels der Prager Lidové noviny, während Fico mit der großartigsten mitteleuropäischen Solidaritätserklärung seit 1989 den Vogel abschoss: “Die Ungarn haben tausendmal schlimmere Probleme als die Slowakei! Und wenn man in Betracht zieht, dass wir zur Eurozone gehören, haben selbst die Tschechen und die Polen schwerwiegendere Probleme als wir in der Slowakei.”1 Mitteleuropa in der Krise? Eine Erfindung der Westmedien!

Das Ende des liberalen Traums von einer globalisierten Marktwirtschaft, die sich ohne Einmischung des Staats entwickeln würde, trifft Mitteleuropa umso härter, als es sich dabei um die herrschende Ideologie der letzten zwanzig Jahre handelt. Es fällt dort besonders schwer zuzugeben, dass die Marktwirtschaft überhaupt in eine Krise geraten kann und dass diese ihren Ursprung gar in den Vereinigten Staaten hat, die den Liberalen Mitteleuropas als Referenzmodell dient. So haben nach dem “schwarzen Montag” des 15. September 2008 alle großen Ökonomen festgestellt, dass die Finanzmärkte nicht in der Lage waren, sich selbst zu regulieren. Die New York Times vom 21. September titelte: “Das Dogma des freien Marktes wurde zu Grabe getragen”. Wenn Sie eine tschechische Zeitung vom darauffolgenden Tag aufschlagen, können Sie dort nachlesen, dass Ministerpräsident Topolánek eine flammende Rede gehalten hatte, in der er für die Tschechische Republik den Titel eines Weltmeisters in Sachen Deregulierung beanspruchte und ankündigte, dass ebendiese Deregulierung im Rahmen der tschechischen EU-Präsidentschaft Priorität haben werde. Zu einem Zeitpunkt, da Robert Reich von einem “Deregulierungswahn” sprach und selbst Alan Greenspan vor dem amerikanischen Kongress erklärte, dass er sich geirrt habe, um Vergebung bat und in der Folge gar die Verstaatlichung von Pleite gegangenen Banken befürwortete, forderte der tschechische Ministerpräsident ein “Europa ohne Barrieren” – das heißt mit weniger Hindernissen, die sich dem globalisierten Markt in den Weg stellen. Während also die Welt mit einer schrankenlosen Wirtschafts- und Finanzkrise konfrontiert ist, wollen die tschechischen Liberalen ein “Europa ohne Barrieren”. Zum ersten Mal hinken sie dem amerikanischen Modell hinterher.

Im März 2009 trat der ungarische Ministerpräsident Gyurcsany zurück, indem er sich angesichts der Wirtschaftskrise für inkompetent erklärte. Dieses Übermaß an Aufrichtigkeit bei einem Mann, der 2006 zugegeben hatte, “morgens, mittags und abends” gelogen zu haben, wurde von seinem tschechischen Kollegen Mirek Topolánek ganz und gar nicht geteilt, der genau wusste, was zu tun und was zu lassen sei. Eben dies erklärte er am 25. März, einen Tag vor dem Sturz seiner Regierung, vor dem verblüfften Europaparlament in Straßburg. Die Rettungsmaßnahmen für die Banken, die Rückfälle in Protektionismus und vor allem die Politik der massiven Wirtschaftsankurbelung durch den Staat, all dies wurde vom amtierenden EU-Ratspräsidenten Topolánek mit den Worten kritisiert, die Politik Präsident Obamas sei ein “Weg in die Hölle”. Tags darauf titelte die New York Times: “Der EU-Präsident bezeichnet die amerikanischen Wirtschaftsanreize als ‘way to hell'”. Der Sprecher des Weißen Hauses schrieb diese Worte den innenpolitischen Umständen zu, mit denen der tschechische Ministerpräsident zu kämpfen habe. Das trifft die Sache aber nicht genau: Der Grund dafür ist ideologischer Art, ein unerschütterlicher Glaube an die Fähigkeit des Marktes zur Lösung sämtlicher Probleme, den Topolánek wie Klaus dem amerikanischen Modell während des letzten Viertels des 20. Jahrhunderts abgeschaut hatten. Topolánek ist für seine offenen Worte bekannt; den Entwurf zur Europäischen Verfassung hatte er zum Beispiel öffentlich als “big shit” bezeichnet. Dass er sich aber am Vorabend des G20-Gipfels und von Obamas Pragbesuch mit dem amerikanischen Präsidenten anlegte, überraschte dann doch und hat die Mehrheit der Europaabgeordneten schockiert, die von sich wiesen, dass Topolánek im Namen Europas gesprochen habe. Am 5. April wurde Präsident Obama dann mit seiner Frau vom ultraliberalen und europafeindlichen Václav Klaus im Namen der EU in Prag empfangen.

So war die – durch den Sturz der Regierung vorzeitig gestutzte – tschechische EU-Ratspräsidentschaft geprägt von einer Mischung aus ideologischer Starrköpfigkeit, einem Erbe der kommunistischen Zeit, und der Ernüchterung über Amerika. Obama symbolisiert in diesem Zusammenhang sowohl das Ende des Mythos von Amerika als staatsfreier Wirtschaft und Gesellschaft als auch die Enttäuschung über das Ende der unipolaren Welt mit ihrer auf Stärke und Unilateralismus basierenden Politik, wie die scheidende US-Regierung sie verkörpert hatte. Die Heftigkeit, mit der die tschechischen Medien negativ auf Obamas Prager Rede zur nuklearen Abrüstung reagierten,2 offenbart die Konfusion und die trotzige Haltung der politischen Eliten Mitteleuropas, der letzten Waisen von Bush und Cheney.

In den 1960er Jahren lief in Prag ein Film mit dem Titel “Musik vom Mars”. Heute, da die beiden Referenzländer des angelsächsischen Liberalismus-Modells, die USA und Großbritannien, bei der Verstaatlichung von Banken und der Wirtschaftsankurbelung durch massive Einspeisung öffentlicher Mittel vorangehen, klingen das tschechische (und weniger schrill auch die polnische) Plädoyer für verstärkte Deregulierung und die Rede von einem aus dem Westen drohenden “weichen” Sozialismus wie ein fernes Echo vom Ende des letzten Jahrhunderts, wie von einem anderen Planeten kommend, wie Musik vom Mars.

Hospodarské noviny vom 1. 3. 2009.

Hier nur ein Zitat, das den herrschenden Tonfall in den tschechischen Medien treffend wiedergibt: "Es bleibt die Frage, ob Leute wie Obama nicht gefährlicher sind als der koreanische Diktator." (Josef Mlejnek am 13. April 2009 auf Radio Prag).

Published 25 August 2009
Original in French
Translated by Markus Sedlaczek
First published by Transit 37 (2009)

Contributed by Transit © Jacques Rupnik / Transit / Eurozine

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