Die historischen Wurzeln des Darfur-Konflikts
Die Massenmörder, die in der westsudanesischen Provinz Darfur die
Lebensgrundlagen der Bevölkerung zerstören, dürfen auch nach einer
Befriedung der Region keine politische Zukunft mehr haben. Aber die
öffentliche Empörung über ihre Schreckenstaten verdrängt deren Ursachen.
Die Zentralregierung in Khartum versagte beim Aufbau der Infrastruktur
und löste die Konflikte um die Bodennutzung nicht, dann
instrumentalisierte sie die “arabischen” Nomaden für den Kampf gegen die
“afrikanischen” Bauern. Aber auch die Großmachtträume des libyschen
Staatschefs Gaddafi hinterließen ihre Spuren.
Nicht einmal alle Militärkommandeure in der sudanesischen Provinz Darfur
verstehen, um was es bei ihren Kämpfen geht. Die üblichen Beschreibungen
– ein Kampf von “Arabern” gegen “Afrikaner”, ein Kampf um die
natürlichen Ressourcen, der Kampf einer vernachlässigten Region um einen
gerechten Anteil am Reichtum der Nation -, sie alle enthalten ein Stück
Wahrheit, aber zugleich führen sie in die Irre. Die “Araber” von Darfur
sind üblicherweise genauso schwarz und genauso “eingeboren” wie ihre
Widersacher. Die Identitäten als “Araber” respektive “Fur” haben sich
ungefähr zur gleichen Zeit im 17. Jahrhundert herausgebildet; dabei sind
Heiraten zwischen den Angehörigen beider Gruppen seit langem üblich.
Auch Konflikte über Landbesitz und Wasserrechte hat es in der Geschichte
von Darfur schon immer gegeben, doch ein organisierter Krieg zwischen
arabischen und nichtarabischen Gruppen ist eine neue Erscheinung. Kein
Zweifel besteht auch, dass Darfur innerhalb der ökonomischen Entwicklung
des Sudan zurückgeblieben ist. Aber diese Tatsache erklärt keineswegs das
Ausmaß der Feindseligkeiten zwischen arabischen und nichtarabischen
Gruppen, denn beider Interessen wurden gleichermaßen vernachlässigt. 1
In Darfur hat es ganz sicher schwer wiegende Verletzungen der
Menschenrechte gegeben. Viele davon wurden von der Dschandschawid-Miliz
begangen. Ihr bekanntester Kommandeur, Musa Hilal, steht ganz oben auf
der vom US-Außenministerium veröffentlichten Liste mutmaßlicher
Kriegsverbrecher. In der Tat: Für Verbrechen wie das Abbrennen von
Dörfern, für Massenvergewaltigungen und Massaker kann es keine
Rechtfertigung geben. Und dennoch muss man sich die Frage stellen, warum
manche Leute in Darfur zu Killern wurden.
Musa Hilal ist das Oberhaupt des Rizeigat-Stammes der Jalul, der vor
allem im Norden von Darfur beheimatet ist. Schon sein Vater, Scheich
Hilal Musa, war in den ersten 30 Jahren nach Gründung der Republik Sudan
(1956) Stammesoberhaupt gewesen. Damals waren die Jalul Nomaden, deren
Kamelherden große Entfernungen zurücklegten. Sie pendelten zwischen dem
Weideland am Rand der Wüste und der Hügellandschaft im zentralen Darfur,
wo die Fur sie gastfreundlich empfingen.
Die Jalul besaßen kein Territorium im eigentlichen Sinne. In ihrer
nomadischen Existenz fest verwurzelt, durchzogen sie mit ihren Herden die
Wälder und Weidegründe, die zwischen den verstreuten Dörfern liegen, und
tauschten bei den Bauern ihr Fleisch und ihre Milch gegen Hirse ein. Im
Rahmen eines komplexen Systems von Gewohnheitsrechten war es ihnen
gestattet, sich mit ihren Kamelherden auf bestimmten Wanderrouten zu
bewegen. Zugleich galt das Prinzip, dass jeder einzelnen Familie, auch
denen der Rizeigat, genügend Land für den eigenen Bedarf zustand, sodass
Nomaden, die ihre Herde verloren hatten, sich einen neuen Lebensunterhalt
als Subsistenzbauern sichern konnten. Dieses System geriet im Lauf der
1980er-Jahre zunehmend unter Druck. Die Weideflächen schrumpften infolge
von Dürreperioden, der Ausdehnung der Wüsten, aber auch durch die
Ausweitung der Ackerflächen.
Als ich 1985 Scheich Hilal besuchte, war er ein alter, fast blinder
Mann. Die Regierung hatte ihm im Norden von Darfur in der Nähe von Kutum
ein kleines Stück steinigen Landes zugewiesen, wo er seine Zelte
aufschlug und über seinen Stamm residierte. Obwohl er zu alt war, um noch
ein Kamel zu besteigen, wollte er nicht in ein Haus in der Stadt ziehen.
Er zog es vor, seine Gäste in einem traditionellen Beduinenzelt zu
empfangen, wo seine Schwerter, seine Sättel und ein altes Gewehr an der
Wand hingen.
Scheich Hilal war stolz auf seine Kamelherden, die damals gerade 400
Kilometer weiter im Norden grasten, und bestand darauf, dass kein
Angehöriger des Jalul-Stammes jemals gezwungen sein sollte, vom Ackerbau
zu leben. Doch schon bald darauf wurden viele seiner Leute vom Hunger
ereilt. Selbst in der Nähe von Aamo, wo er seine Zelte aufgeschlagen
hatte, traf ich auf verarmte Jalul-Familien, die auf ausgedörrten Böden
das Nötigste zum Überleben anzubauen versuchten. Die einheimischen
Bauern, die den Tunjur, einem eng mit den Fur verwandten Volk,
angehörten, hatten ihnen nichts vom fruchtbaren Schwemmland überlassen.
Andere Dörfer der Jalul standen völlig verlassen, weil ihre Bewohner auf
der Suche nach Arbeit in die Städte gezogen waren. Mittlerweile waren
Bauern aus den Dörfern der Fur dazu übergegangen, die Jalul an ihrer
nomadischen Lebensweise zu hindern, indem sie die Wanderrouten der
Kamelherden abschnitten und sogar Weideflächen in Brand steckten.
Für Scheich Hilal bedeuteten die Dürren und der Vormarsch der Wüste mehr
als nur eine wirtschaftliche Bedrohung. Sie bedeuteten auch eine
moralische Gefährdung, denn sie brachten die stabile Ordnung seiner
traditionellen Welt durcheinander und führten zu sozialen Spannungen und
Konflikten. 1987 kam es in Darfur zu den ersten größeren Zusammenstößen
zwischen den arabischen Beduinen und der bäuerlichen Fur-Bevölkerung.
Eine Friedenskonferenz im Jahr 1989 endete mit der Übereinkunft, dass
beide Parteien – die Araber wie die Fur – ihre Milizen auflösen sollten.
Bei der Verteilung der Bodennutzungsrechte und der Regelung von
Konflikten wollte man zu traditionellen Methoden zurückkehren. Dazu ist
es jedoch nie gekommen, weil sich die lokalen Konflikte bereits zu stark
mit überregionalen Auseinandersetzungen verwoben hatten, die ihrerseits
in soziokulturellen Widersprüchen wurzelten.
1916 hatten britische Truppen die Armee des regionalen Herrschers Sultan
Ali Dinar geschlagen und sein “Land der Fur” – Darfur – erobert. Ali
Dinar war ein Nachkomme von Suleiman Solong, der im 16. Jahrhundert das
Sultanat Fur gegründet hatte und dessen lange vernachlässigtes Grabmal in
den Bergen liegt, eine Tagesreise von Aamo entfernt. Suleiman Solong
hatte einen arabischen Vater und eine Mutter aus dem Volk der Fur, er war
also gemischtethnischer Abstammung, wie viele politischen Führer in
Darfur. Obwohl immerzu von den “Arabern” und “Afrikanern” Darfurs die
Rede ist, lässt sich an der Hautfarbe nur selten erkennen, ob ein Mensch
zu der einen oder zu der anderen Gruppe gehört. Alle sind hier seit
Jahrhunderten ansässig, und alle sind Muslime.
Als der Sudan 1956 unabhängig geworden war, bemühten sich die
Regierungen in Khartum immer wieder darum, eine lokale Administration
aufzubauen, also Schulen, Krankenhäuser und eine Polizei. Dabei schaffte
die Zentralgewalt auch die Position des Scheichs formell ab und ersetzte
sie durch “Volksräte”. Doch ein politisches und gesellschaftliches Vakuum
entstand, denn die nötigen finanziellen Mittel aus Khartum blieben aus.
Zu Beginn der 1980er-Jahre war die örtliche Verwaltung bankrott. Wollte
der Polizeichef zum Beispiel Banditen verfolgen, musste er die dafür
nötigen Fahrzeuge samt Benzin von den Mitarbeitern eines
Entwicklungsprojekts ausleihen.
Dann, nach der Dürre und der Hungersnot in den Jahren 1984 und 1985,
brachen in Darfur die ersten gewaltsamen Konflikte aus. Weil die Behörden
in keiner Phase wirksam eingreifen konnten, begannen die Menschen, sich
Waffen zuzulegen. Die Besitzer der Herden kauften automatische Gewehre
für ihre Kamelhirten, denn eine Herde von tausend Tieren stellt ein
Vermögen von mehr als einer Million Dollar dar. Auch die Dorfbewohner
rüsteten sich mit Feuerwaffen aus.
Die Gleichgültigkeit von Khartum
1989 und auch im Jahr darauf kam es dann zu Friedenskonferenzen, auf
denen der Weg zu einer Lösung beschlossen wurde, aber es fehlten die
finanziellen Mittel und der politische Wille, die Beschlüsse auch
umzusetzen. Stattdessen versuchte die regionale Regierung in Darfur, ihre
mangelnden Erfolge bei der Lösung der verharmlosend als “Kriminalität”
bezeichneten Konflikte dadurch zu kompensieren, dass sie die wenigen
Gefassten grausam bestrafte. Bewaffnete “Räuber” wurden hingerichtet,
ihre Leichen öffentlich zur Schau gestellt, Dieben wurden die Hände
amputiert. Aber das “Banditenwesen” griff weiter um sich, weil weder die
Landrechte geregelt wurden noch die Effizienz der lokalen Behörden
verbessert wurde.
Die Zentralregierung ist für die elende Lage in den westlichen Provinzen
mitverantwortlich – durch ihre Untätigkeit und auch politische
Machenschaften. Darfur wurde von Khartum stets vernachlässigt: Seine
Bevölkerung erhielt im Vergleich zu den anderen Regionen des Sudan die
geringsten Mittel für das Erziehungswesen, für die Gesundheitsversorgung
und für Entwicklungsprojekte; innerhalb der Zentralregierung wurde die
Region am schlechtesten vertreten. In Darfur selbst wurde die Bevölkerung
– ob Araber oder nicht – gleichermaßen marginalisiert. Die Tragödie der
Provinz liegt vor allem darin, dass die Führer dieser Gruppen sich gegen
die Vernachlässigung durch Khartum nicht gemeinsam gewehrt haben.
Die Etiketten “Araber” und “Afrikaner” sind in Darfur erst in jüngster
Zeit entstanden. Die Beduinen begannen sich erst vor zwanzig Jahren mit
der arabischen Welt zu identifizieren. Ausgelöst wurde diese Entwicklung
unter anderem durch den libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi, der von
einem “arabischen Gürtel” quer durch die Sahelzone träumte. Entscheidend
für dieses Projekt war die Kontrolle über den Tschad, weswegen Libyen den
Norden des Tschad, den so genannten Auouzo-Streifen, annektierte.
Ghaddafi startete eine Reihe militärischer Abenteuer im Tschad, wobei
Darfur in den Jahren 1987 bis 1989 als Nachschubbasis für die von Libyen
unterstützten Fraktionen diente. Hier versorgten sich die Rebellen aus
dem Tschad mit Getreide und Vieh, wobei sie in mindestens einem Fall von
einer tschadisch-französischen Truppe bis auf das Territorium von Darfur
verfolgt wurden. Viele der Schusswaffen, die man heute in der Region
findet, stammen von den rivalisierenden Fraktionen im Tschad.
Ghaddafi sammelte damals die Unzufriedenen aus Darfur, Araber aus der
Sahelzone und Tuareg unter seiner Fahne und fasste sie zu einer
bewaffneten “Islamischen Legion” zusammen. Doch nachdem die Libyer 1987
bei Ouadi Doum eine vernichtende Niederlage durch tschadische
Regierungstruppen erlitten hatten, gab Gaddafi seine irredentistischen
Träume auf. Die Kämpfer der Legion allerdings, die gut ausgebildet, gut
bewaffnet und vor allem von einem lebhaften arabischen
Überlegenheitsanspruch erfüllt waren, lösten sich nicht einfach in Luft
auf. Sie betrieben ihre Mission weiter – und zwar im Nordosten des Sudan.
Auf diese Entwicklung reagierten die nichtarabischen Bewohner von
Darfur, indem sie sich das Etikett “Afrikaner” zulegten. Ein gutes
Beispiel dafür ist Daud Bolad, ein junger, führender Repräsentant der
Fur. Nach Beendigung seines Studiums an der Universität Khartum kehrte
Bolad dem politischen Islam den Rücken und wechselte die Fronten. Er
schloss sich der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee (SPLA) von John
Garang an, der die politische Vorherrschaft im Sudan für die “Afrikaner”
proklamiert, weil er davon ausgeht, dass die christlich-animistische
Bevölkerung des Südsudan im Verein mit den marginalisierten Gruppen des
islamischen Nordens eine numerische Mehrheit gegen die Zentralprovinzen
bildet.
Garang versucht seit langem, Vertreter aller sudanesischen Volksgruppen
für die SPLA zu rekrutieren. Dabei hatte er auch Darfur im Auge. 1991
entsandte er Bolad zurück in seine heimatliche Provinz, damit er dort
einen Aufstand anzettelte. Doch die Mission endete mit einem Desaster,
die Truppe wurde abgefangen und vernichtet. Bolad geriet in
Gefangenschaft und ist seitdem verschwunden, sein klandestines Netzwerk
wurde zerschlagen. Für Darfur bedeutete das den Ausfall einer ganzen
Generation radikaler Führer. Daraufhin suchten viele Bewohner Darfurs,
ihre Rechte auf anderem Weg abzusichern – nicht über das weltliche
Konzept Garangs, sondern über den politischen Islam, genauer: über eine
Annäherung an die Regierung in Khartum. Denn in den 1990er-Jahren
versuchte Hassan at-Turabi, der geistige Führer der sudanesischen
Islamisten, seinen Einfluss auf nichtarabische Muslime im Westteil des
Landes auszudehnen. Alle Menschen in Darfur sind Muslime und für ihre
Frömmigkeit bekannt. Dass ihr Glaube einen Anspruch auf mehr Rechte und
politische Teilhabe begründe, war ihnen eine attraktive und glaubwürdige
Vorstellung, weshalb sich viele der Bewegung von Hassan at-Turabi
anschlossen.
Doch das Versprechen der Islamisten war ein fauler Zauber. Im
praktischen Alltag änderte sich kaum etwas. Nur ganz wenige Leute aus
Darfur erreichten in Partei und Regierung einflussreiche Positionen. Und
mit den tieferen Ursachen für die Armut der Provinz und für den
Darfur-Konflikt hat sich niemand beschäftigt.
Nach dem Putsch von 1989 herrschte in Khartum zehn Jahre lang eine
Regierung, die ein labiles Bündnis zwischen zwei Figuren darstellte: dem
alerten und charismatischen Turabi, der als Oberhaupt der sudanesischen
Islamisten die Revolution in ganz Afrika und im Nahen Osten voranbringen
wollte, und Präsident Omar al-Baschir, dem ehrgeizigen und brutalen
General, der immer noch der traditionellen Auffassung anhing, das ganze
Land sei Privatbesitz einer arabisierten Elite des Ostens, also der
Region entlang dem Nil. Den Machtkampf zwischen den beiden Rivalen gewann
am Ende al-Baschir. Der entzog Turabi 1999 das Amt des Präsidenten der
Nationalversammlung und ließ ihn anschließend verhaften.
Die meisten Mitglieder der Bürokratie und die Spitze des
Sicherheitsapparats, die das Militär und die verschiedenen Geheimdienste
kontrollierte, schlugen sich auf die Seite von al-Baschir. Die Studenten
und die regionale Parteiorganisationen dagegen hielten großenteils zu
Turabi und gründeten eine oppositionelle Partei, den “Volkskongress”. Für
Baschir ergab sich durch den Bruch mit Turabi die willkommene Chance,
sich gegenüber den USA zu öffnen und die Friedensgespräche mit der SPLA
ernsthafter zu betreiben. Dieser Prozess mündete im Juni 2004 schließlich
in die Unterzeichnung eines Friedensabkommens in Kenia.
Die Spaltung der Regierung in Khartum wirkte sich auch auf die
politische Szene in Darfur aus. Ihre islamistischen Führer gingen in die
Opposition. Im Jahr 2000 legten sie ein “Schwarzbuch” vor, das die
systematische Unterrepräsentanz der Vertreter Darfurs auf der Ebene der
nationalen Regierung dokumentierte. Daud Bolad wird darin zum “Märtyrer”
ernannt, eine symbolische Versöhnung zwischen den Islamisten und der
säkularistischen Bewegung von Darfur.
Seitdem besteht dort eine merkwürdige Allianz. Der eine Verbündete ist
die islamistisch gefärbte Justice and Equality Movement (JEM) aus
Westdarfur, die nach dem Verbot von Turabis Kongresspartei sehr
einflussreich geworden und auf den Zentralsudan orientiert ist. Der
andere Bündnispartner der Allianz ist die “afrikanisch” orientierte Sudan
Liberation Army (SLA), die ebenfalls in Darfur verwurzelt ist; so waren
die Versuche, den Konflikt militärisch zu lösen, längst überfällig und
hätten eigentlich niemanden überraschen sollen. Aber fast alle Beobachter
hatten sich so sehr daran gewöhnt, dass es in Darfur trotz aller
Konflikte ruhig blieb, dass sie es für blinden Alarm hielten, als die
militanten Kräfte einen größeren Aufstand ankündigten. Ebenso überrascht
war offenbar die sudanesische Regierung, denn in den Monaten davor waren
ihre Friedensofferten ebenso halbherzig ausgefallen wie ihre
militärischen Vorbereitungen. Im April 2003 griffen die Rebellen den
Flugplatz von al-Fascher an, zerstörten ein halbes Dutzend
Militärflugzeuge und entführten einen Luftwaffengeneral. Ähnliches hatte
die SPLA während des 20-jährigen Krieges im Süden des Sudan nie
geschafft. Aber die Rebellen in Darfur hatten der SPLA einiges voraus,
vor allem ihre Mobilität, ihre präzisen Informationen und den Rückhalt in
der Bevölkerung.
Für Präsident al-Baschir war entscheidend, dass er sich nach wie vor auf
die Hauptstütze des sudanesischen Staates verlassen konnte: die Spitze
des Sicherheitsapparats, die seit 1983 den Krieg im Süden betrieben
hatte. Angesichts eines Aufstands, der die Kräfte ihrer erschöpften und
an zu vielen Fronten engagierten Armee überforderte, wusste diese kleine
Clique von Männern genau, was sie zu tun hatte. Bei ihrem Krieg im Süden
hatten sie mehrfach auf kostengünstige Methoden der Aufstandsbekämpfung
zurückgegriffen, etwa indem sie eine Strategie der verbrannten Erde
betrieben und Hungersnöte erzeugten. In solchen Fällen setzten sie auf
lokale Milizen, die sie mit Waffen und Nachschub versorgten, und machten
den neuen Kriegsschauplatz zu einer rechts- und moralfreien Zone. Im Fall
Darfur boten sich in dieser Rolle die nomadischen Kamelzüchter des
Nordens an, zu denen auch die verbitterten früheren Kämpfer der
islamischen Milizen gehörten, die so etwas wie die Kosaken der Sahara
sind.
Diese Hilfstruppen übernahmen von früheren Beduinenmilizen den Namen
Dschandschawid. Er soll eine Zusammensetzung sein aus der arabischen
Bezeichnung für das G3, das Gewehr des schwäbischen Waffenproduzenten
Heckler & Koch, und dem Wort dschawad, Pferd, das im westsudanesischen
Dialekt aber auch “Pöbel” bedeutet. Inzwischen sind diese Dschandschawid
als militärische Brigaden unter dem Kommando der sudanesischen Armee
organisiert.
Diese Milizen begehen ihre Gräueltaten an Angehörigen der Fur, der
Tunjur, der Masalit und der Zaghawa, und sehr wahrscheinlich an weiteren
ethnischen Gruppen. Ihre Aktionen sind langfristig und systematisch
angelegt und beschränken sich durchaus nicht nur auf das Ziel, eine
militärische Bedrohung zu ersticken. Die scheußlichen
Massenvergewaltigungen zeugen von der bewussten Absicht, eine ethnische
Gemeinschaft zu vernichten. Das Abhacken von fruchttragenden Bäumen oder
die Zerstörung von Bewässerungsgräben, wie es in Darfur geschieht,
bewirkt darüber hinaus, dass die Bauern die Ansprüche auf ihr früheres
Land einbüßen, es ist eine Angriff auf die existenziellen
Lebensgrundlagen. Diese routinemäßigen Gräueltaten gehen auf das Konto
einer Clique von Staatsschützern, denen in den langen Jahren ihrer
Machtausübung jede Spur von Menschlichkeit abhanden gekommen ist. Für die
Planer dieses gewohnheitsmäßig vollzogenen Genozid darf es in einem
künftigen Sudan keinen Platz mehr geben.
Aus heutiger Sicht scheint es unmöglich, die gesellschaftlichen
Strukturen in Darfur wiederherzustellen. Die Welt des alten Scheich
Hilal, des Vaters des Dschandschawid-Anführers Musa Hilal, dieser stabile
Kosmos mit seinen selbstverständlichen wechselseitigen Beziehungen
zwischen Bauern und Nomaden, ist endgültig untergegangen. Mit
Unterstützung des Staatsapparats und unter dem Einfluss der
unerbittlichen Armut und eines importierten Rassismus sind grausamste
Gewaltverhältnisse entstanden. Die Forderung nach Bestrafung von Musa
Hilal, der samt seinen Hintermännern auf der Liste der Kriegsverbrecher
steht, ist ein bequemes Ventil für unsere Wut und unser Entsetzen und
dennoch unentbehrlich als Abschreckung für künftige ähnliche Verbrechen.
Aber ein solcher Bannfluch ist auch keine Lösung. Diese erfordert
vielmehr enorme Geduld, besonnenes Nachdenken und finanzielle Mittel. Es
wird extrem schwierig sein, die Gemeinschaften wieder aufzubauen, die
durch irrwitzige Gewalt zerschlagen, traumatisiert und auseinander
gesprengt wurden. Die Entwaffnung wird lange dauern und schwierig sein.
Und die mörderischen Aktionen der Dschandschawid dürfen die Tatsache
nicht verdecken, dass die indigenen arabischen Nomaden von Darfur in der
Vergangenheit selbst zu Opfer wurden – dass man sich an den Sündern
selbst versündigt hat. Der erste Schritt, die gewaltigen Aufgaben zu
bewältigen, muss allerdings darin bestehen, sich Rechenschaft zu geben
über das, was man verloren hat.
Siehe auch: Jean-Louis Péninou, "Als die Reiter Gewehre bekamen", Le
Monde diplomatique, Mai 2004.
Published 14 September 2004
Original in English
Translated by
Niels Kadritzke
Contributed by Le monde diplomatique © Le monde diplomatique Eurozine
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