Die Grenzen der Solidarität
Die globale Vertreibungskrise des letzten Jahres hat die politisch-ethischen Koordinaten Deutschlands von Grund auf erschüttert und das Land als Ganzes verändert – seine Identität, seine Rolle innerhalb Europas und nicht zuletzt seinen politischen Diskurs. Im Zentrum der gegenwärtigen Debatten steht eine Frage: Worin besteht unser Verständnis von Solidarität?
Wir alle erinnern uns: Vor über einem Jahr trafen tausende Flüchtlinge an den Grenzen Europas ein. Sie stammten meist aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, Eritrea, Nigeria, Somalia und aus den Maghreb-Staaten.
Europa war nicht darauf vorbereitet, so viele Menschen zu versorgen. Die meisten europäischen Regierungen waren zudem auch nicht dazu gewillt. Wochenlang harrten tausende Flüchtlinge unter chaotischen und entwürdigenden Bedingungen in Staaten an der Südostgrenze der Europäischen Union aus. Als die Situation dramatisch eskalierte – besonders in Ungarn –, entschied sich die deutsche Regierung schließlich dazu, ihre Grenzen für die Flüchtlinge zu öffnen (primär als Reaktion auf den Druck von Ungarns Premierminister Victor Orbán). Als Bestärkung jener, die diese Maßnahme begrüßten, äußerte Angela Merkel dann die mittlerweile berühmten Worte „Wir schaffen das!“.
Die Entscheidung zur Öffnung der Grenzen markierte den Beginn eines „Sommers der Migration“. Über tausend Flüchtlinge kamen jeden Tag in Deutschland an. Am Ende des Jahres betrug ihre Gesamtzahl etwa eine Million.
Zu Beginn wurden die Flüchtlinge noch von jubelnden Menschengruppen an Bahnhöfen und Grenzübergängen in Empfang genommen. Man gab ihnen Wasser, Kekse und Spielzeug. Tausende Helfer spendeten Geld, verteilten Mahlzeiten, gaben Deutschunterricht oder nahmen Flüchtlinge in ihrem Zuhause auf. Diese „Willkommenskultur“ entsprang einer von Herzen kommenden Sympathie für jene, die so viel durchlitten haben und so weit gereist sind. Die Atmosphäre wurde mit dem bunten, friedlichen Patriotismus verglichen, der während der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland geherrscht hatte.
Als allerdings der Zustrom an Menschen immer weiterging und die Dinge immer mehr aus dem Ruder liefen, wurden die Kritiker lauter und deutlicher. Die Entscheidung zur Grenzöffnung wurde sogar für illegal erklärt. Die Agitation gegen Merkels Politik ging Hand in Hand mit brutaler Gewalt: 2015 wurden mehr als 1000 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte registriert. Aus Furcht vor einer weiteren Radikalisierung auf der Rechten entschieden sich die europäischen Staaten im Spätsommer 2015 dazu, die Grenzkontrollen wiedereinzuführen und Einreisebeschränkungen zu erlassen.
Dem Sommer der Migration folgte ein langer Winter der Grenzkontrollen. Bis zum November hatten sich die deutsche und die türkische Regierung auf einen Plan zur drastischen Verringerung des Zustroms von Flüchtlingen nach Europa über die Türkei geeinigt. Die Vereinbarung ermöglichte es der deutschen Regierung, die Kontrolle über die Einreise von Flüchtlingen zurückzugewinnen.
Das Flüchtlingsproblem war damit selbstverständlich nicht gelöst, sondern nur hinter die Tore Europas verschoben worden. Der Pakt mit der türkischen Regierung konnte es zudem nicht verhindern, dass die rechtsgerichtete Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) weiteren Zulauf in Deutschland hatte. Deren Popularität nahm nach den sexuellen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht – die meist von jungen Männern aus nordafrikanischen und arabischen Staaten begangen wurden – und den Terroranschlägen in ganz Europa während des Sommers noch weiter zu.
Bei den kürzlich abgehaltenen Kommunalwahlen in Deutschland erhielt die AfD bis zu 24 Prozent der Stimmen; in landesweiten Umfragen rangiert sie bei ungefähr 15 Prozent. Wenn die Dinge so weitergehen, dann wird die Partei nach den Bundestagswahlen im kommenden Jahr in das nationale Parlament einziehen.
Wessen Solidarität?
Diese Wendung von einer Willkommenskultur hin zu einer Kultur des Hasses und der Abschottung vollzog sich innerhalb eines Zeitraums von nur wenigen Monaten. Wie konnte es dazu kommen?
Die Entwicklung wird sehr anschaulich von der Art und Weise illustriert, auf die Merkels Worte „Wir schaffen das!“ interpretiert worden sind. Zunächst erinnern sie an andere politische Appelle in der deutschen Geschichte – so zum Beispiel an Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ von 1969 oder Helmut Kohls „Wir werden es schaffen“ von 1990, was sich auf die Herausforderungen der Wiedervereinigung bezog. In Merkels Mantra findet sogar Barack Obamas „Yes we can“ einen gewissen Widerhall.
Ihnen allen ist eines gemeinsam: die Betonung gemeinsamer Grundlagen und ein Aufruf zur Solidarität. Doch die Frage bleibt: Zu welcher Art von Solidarität hat Merkel aufgerufen?
Wir können drei Arten von Solidarität unterscheiden. Erstens eine Solidarität, die sich in einer bestimmten Gruppe nach innen richtet; zweitens eine, die nach außen, also auf Fremde abzielt, und drittens eine Solidarität, die dadurch erzeugt wird, dass sie sich gegen etwas oder jemanden richtet.
Merkels Mantra kann als pragmatische Ermutigung verstanden werden: Es stehen große Herausforderungen an und zusammen werden wir sie meistern. Damit hat Merkel vor allem diejenigen Bürger angesprochen, die über die Einwanderung und einen daraus resultierenden Kontrollverlust besorgt waren. Primär hat sie damit eine nach innen gerichtete Solidarität innerhalb der deutschen Gesellschaft zum Ausdruck gebracht.
Da Kanzlerin Merkel allerdings nie im Einzelnen erklärt hat, was sie meinte, können wir das nicht zweifelsfrei wissen. Wir wissen jedoch genau, dass ihr Worte nicht an die in Deutschland ankommenden Flüchtlinge gerichtet waren; diese sind nie in irgendeinem Aufruf zur Solidarität mitgemeint gewesen.
Aufgrund der Vagheit von Merkels Mantra sind wichtige Fragen nicht abschließend beantwortet worden: Welche moralischen Pflichten erlegt die Flüchtlingskrise der deutschen Gesellschaft auf? Was erwarten die in Deutschland Lebenden von den Neuankömmlingen? Welche Veränderungen sind die Bürger zu akzeptieren bereit? Und was benötigen die Flüchtlinge am dringendsten von jenen, die sie gerade hereingelassen haben?
Merkel war nicht daran gelegen, eine solche Debatte anzustoßen. Eher war sie daran interessiert, etwas zu tun, was sie auch schon am Höhepunkt der Finanzkrise einige Jahre zuvor getan hat: die Öffentlichkeit zu beruhigen und Zeit zu gewinnen, um einen Pakt mit der Türkei auszuhandeln, der sicherstellen sollte, dass Europa von den Flüchtlingen an seinen Grenzen abgeschirmt werden würde.
Unglücklicherweise hat Merkel eine Sache dramatisch unterschätzt. Da sie die Bedeutung ihres „Wir schaffen das“ nie erklärt hat, waren rechte Populisten in der Lage, die Vagheit dieser Wendung für ihr Spiel mit der Angst und dem Misstrauen auszuschlachten.
Belastungsgrenzen
Wie konnten die Populisten von rechts so erfolgreich werden? Ein Hauptgrund dafür ist die wohlfahrtsstaatliche Politik der letzten Jahrzehnte.
2003 leitete die rot-grüne Regierungskoalition die größte Arbeitsmarkt- und Sozialreform in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein. Ihr Ziel war es, „den kranken Mann Europas“ zu kurieren und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft durch Lohnzurückhaltung, eine Lockerung der Arbeitsgesetze und drastischen Einschnitte bei den Sozialausgaben zu erhöhen.
Die Koalition nahm damit die sozialdemokratische Idee der Solidarität zurück: die Unterstützung der Schwachen in der Gesellschaft durch die Starken. Die neue Politik verlangte dagegen, dass sich die Leistungsempfänger mit den Leistungsträgern solidarisch zeigen sollten; die, die bedürftig waren, sollten denen, die zum Geben befähigt waren, nicht zu viel abverlangen dürfen. Solidarität wurde fortan an Bedingungen geknüpft: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“, verlangte der sozialdemokratische Arbeitsminister Franz Müntefering.
Ein ähnliches Prinzip ist in der gegenwärtigen Austeritätspolitik am Werk. Seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 wird von den Kreditnehmerstaaten erwartet, dass sie sich mit den Kreditgebern solidarisch zeigen. Die Regel lautet, dass nur die, die ihre Ausgaben senken, einen Anspruch auf Kredite haben. Die sozialen Folgen dieses nichtsolidarischen Ansatzes kann man in Griechenland und anderen südeuropäischen Ländern beobachten.
Was durch die Agenda 2010 verloren ging, war das Versprechen auf Wohlstand. Die Folge war eine Umwandlung der Solidarität in einen Schutzmechanismus zur Bewahrung des sozialen Status, den die Mittelklasse mit allen Mitteln für sich zu verteidigen sucht. Für echte Solidarität mit den Abgehängten oder denen, die vor Verfolgung fliehen, bleibt kein Raum. Die Angst vor dem gesellschaftlichen Abstieg und dem Erreichen der eigenen Belastungsgrenze überragt alle anderen Interessen.
Die Rückkehr zur Solidarität
In anderen europäischen Staaten ist die Situation vergleichbar. Wir werden Zeugen eines wachsenden Rassismus und des Aufstiegs extrem rechter antiislamischer und antieuropäischer Parteien. Wie können wir diesem Teufelskreis aus Abschottung, Feindseligkeit und Gewalt entgehen?
Als erstes müssen wir erneut über Solidarität nachdenken. Solidarität darf nicht gegen andere geschaffen werden. Stattdessen müssen wir Solidarität mit jenen zeigen, die von Krieg und diversen globalen Krisen bedroht werden (welche zu einem großen Teil vom globalen Norden verursacht worden sind). Solidarität mit anderen muss auf einer anderen Wirtschafts- und Sozialpolitik in der EU basieren, die die Solidarität innerhalb der Union stärkt, statt sie zu unterminieren.
Zweitens fußt gegenseitige Solidarität auf der Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft, sich von denen, die einwandern, verändern zu lassen. Dabei haben auch die Migranten eine Menge zu lernen: eine neue Sprache, Schulbildung, Berufsausbildung und Arbeit sowie in einer säkularen, pluralistischen, demokratischen und kapitalistischen Gesellschaft zu leben. Diese Aufgabe erfordert Neugier, Geduld, Toleranz, Nachsicht und Gelassenheit auf beiden Seiten.
Im Moment sind wir von dieser Art der Solidarität weit entfernt – sowohl in Deutschland als auch überall anderswo. Merkel spricht ihr Mantra des „Wir schaffen das“ nicht mehr aus; in ihrer letzten Aussage beharrte sie vielmehr darauf, dass „Deutschland Deutschland bleiben wird, mit allem, was uns lieb und teuer ist“. Und: „Wir haben niemandem, der hier lebt, etwas weggenommen.“ Da ist das neue „Wir schaffen das“. Und es ist das unumwundene Eingeständnis, dass die deutsche Flüchtlingspolitik schon vor langer Zeit eine Wende vollzogen hat.
Es ist die Verneinung eines politisch-moralischen Standpunkts, der nach einer gerechten Flüchtlingspolitik verlangt. Es ist die Abkehr von einer inklusiven Solidarität.
Published 7 August 2017
Original in English
Translated by
Frank Lachmann
First published by Eurozine (English version) / Transit online (German version)
© Daniel Leisegang / Eurozine
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