Die Gewalt der Partizipation

Räumliche Praktiken jenseits von Konsensmodellen

Das Verschwinden von Klassenidentitäten und das Ende des bipolaren Systems der Konfrontation haben konventionelle Politik überflüssig gemacht. Nun regiert im Hinblick auf die grundlegenden Institutionen der Gesellschaft Konsens, und das Fehlen jeglicher legitimer Alternativen bedeutet, dass dieser Konsens nicht in Frage gestellt wird.1
(Chantal Mouffe)

Im Gegensatz zur Kooperation wird Kollaboration von komplexen Realitäten angetrieben und nicht von romantischen Vorstellungen einer gemeinsamen Grundlage oder Gemeinsamkeit. Es ist ein ambivalenter Prozess, der sich durch eine Gruppe paradoxer Beziehungen zwischen KoproduzentInnen konstituiert, die sich gegenseitig beeinflussen.2
(Florian Schneider)

Wenn sich Menschen versammeln, ergeben sich räumliche Konflikte. Raumplanung wird oft als Management räumlicher Konflikte betrachtet. Um mit Konflikten umzugehen, muss sich eine kritische Entscheidungsfindung entwickeln. Die Stadt – und auch die progressive Institution – existiert als eine Reihe von sozialen und räumlichen Konfliktzonen, die ihre Grenzen durch ständige Umwandlung neu aushandeln.

Heute wird es immer wichtiger, über einen Bruch mit der Konsensmaschine nachzudenken. Ich möchte diese Idee als möglichen Ausgangspunkt nehmen und die Bedeutung kritischer Auseinandersetzung in fremden Wissensgebieten hervorheben – auf der Grundlage von räumlichen Bedingungen als einem Mittel der kulturellen Untersuchung. Ich möchte versuchen, sowohl die Rolle von ArchitektInnen als auch die Rolle der zeitgenössischen Institution zu befragen.

Dieser Text präsentiert und analysiert die heutige Notwendigkeit, außerhalb existierender Netzwerke zu operieren, dabei Kreise konventionellen Fachwissens hinter sich zu lassen und sich mit anderen postdisziplinären Wissensgebieten kurzzuschließen. Dies erfordert ein alternatives Modell von Partizipation innerhalb der räumlichen Praxis, eines, das über Konsensmodelle hinausgeht. Statt Synchronisation anzustreben, sollte ein solches Modell auf kritischer Distanz und der bewussten Implementierung von Konfliktzonen begründet werden. Durch zyklische Spezialisierung könnten zukünftige RaumpraktikerInnen als AußenseiterInnen verstanden werden, die – anstatt zu versuchen, gemeinsame Nenner zu erhalten bzw. zu erstellen – in existierende Situationen oder Projekte hineingehen, indem sie absichtlich Konflikte als eine mikropolitische Form der kritischen Auseinandersetzung mit der Umgebung initiieren, in der man agiert. Indem sie sich die Fachfähigkeit von ArchitektInnen, Konfliktfelder abzubilden, zunutze macht, stellt diese Forschung eine Reihe von Fragen zur Diskussion, die die Relevanz von räumlichem und architektonischem Fachwissen verdeutlicht. Auch soll damit aufgezeigt werden, wie dies im Aufgabenbereich von Institutionen eine alternative Wissensproduktion unterstützt bzw. möglich macht. Es scheint, dass wir heute dringend eine Neubewertung der Raumproduktion über traditionelle Definitionen hinaus benötigen, um somit die Möglichkeit einer “Architektur des Wissens” anzuerkennen, die durch eine aktive Partizipation am Raum aufgebaut wird. Dieses Verstehen, Produzieren und Verändern von räumlichen Bedingungen erfordert es, zuerst die weiter gefasste Reichweite der politischen Realität zu identifizieren.

Partizipation und Konflikt

Partizipation ist Krieg. Jede Form der Partizipation ist bereits eine Form von Konflikt. Im Krieg halten der Feind und sein Gegner normalerweise ein Territorium, das sie gewinnen oder verlieren können, während jede Seite einen Sprecher oder eine Obrigkeit hat, die regieren, sich unterwerfen oder zusammenbrechen kann. Um an einer Umgebung oder Situation zu partizipieren, muss man die gegnerischen Kräfte verstehen, die auf diese Umgebung einwirken. In der Physik ist ein räumlicher Vektor ein Konzept, das durch Größe und Richtung beschrieben wird: In einem Kräftefeld sind es die einzelnen Vektoren, die an seiner Entstehung partizipieren. Wenn man allerdings an irgendeinem existierenden Kräftefeld partizipieren will, ist es ausschlaggebend, zunächst die im Konflikt befindlichen Kräfte zu identifizieren.

Partizipation wird oft als ein Mittel betrachtet, um durch pro-aktive Beiträge und das Einnehmen einer bestimmten Rolle Teil von etwas zu werden. Allerdings wird diese Rolle nur selten als eine kritische Plattform der Auseinandersetzung gesehen, sondern vielmehr auf romantische Begriffe von Harmonie und Solidarität gegründet. In diesem Kontext möchte ich einen Begriff von konflikthafter Partizipation propagieren, die wie eine unerwünschte Irritation wirkt, ein erzwungenes Eindringen in Wissensfelder, die aus räumlichem Denken Nutzen zu ziehen versuchen.

Die Unschuld der Partizipation zerstören

Von Anfang an wird Charlotte York in “Sex and the City” als die unschuldigste der vier Protagonistinnen dargestellt. In der Serie ist sie die Einzige, die sich an “Rendezvous-Spielregeln” hält und den ernsthaften Wunsch äußert, zu heiraten und Kinder zu bekommen. In Episode 55 beschließt Charlotte, ihren Job als Kuratorin in einer New Yorker Galerie aufzugeben. Als sie dies ihren davon nicht begeisterten Freundinnen berichtet, erklärt sie, warum sie zu Hause bleiben will. Um kein schlechtes Gewissen aufgrund ihrer wahren Motive (schwanger sein und die Wohnung renovieren wollen) haben zu müssen, rechtfertigt sie ihre Entscheidung damit, sie wolle “ehrenamtlich für das Trey-Krankenhaus arbeiten und für die Kinderklinik Geld sammeln”. In Charlottes Fall wird die ehrenamtliche Arbeit für einen wichtigen sozialen Zweck als freiwillige Partizipation an einer guten Sache dargestellt – was verhindert, dass sie wegen der Kündigung ihrer Arbeitsstelle abgeurteilt wird.

Ist diese Art von Praxis nicht genau der Modus operandi, den wir heutzutage bei so vielen “sozial relevanten” Praktiken finden können? Es gibt eine interessante Ähnlichkeit zwischen dieser Art der Argumentation und der Art und Weise, wie bestimmte Praktiken den Begriff der Partizipation als ein positives, nicht hinterfragbares Mittel des Engagements “gekidnappt” haben (was im Übrigen ihre Ökonomie ausmacht). Aber die Frage ist: Wie ist es möglich, an einer bestimmten Umgebung oder Situation zu partizipieren, ohne die eigene Rolle als ein/e aktiv Handelnde/r zu kompromittieren, der/die sich nicht dafür interessiert, “Gutes zu tun”, sondern Fragen stellt und dabei versucht, die Praxis in einer bestimmten Richtung zu prägen. Ein Vektor im Kräftefeld der Konflikte zu werden, wirft die Frage auf, wie man partizipiert, ohne bereits bestehende Bedürfnisse oder Aufgaben zu bedienen, oder – aus der Perspektive traditioneller ArchitektInnen – wie ist es möglich, zum Beispiel an städtischer Mikropolitik zu partizipieren, indem man Reibungspunkte benennt und Fragen stellt, statt vor Ort wohltätige Arbeit durch Vereinbarungen mit den Planungsbehörden nach “Section 106”3 zu leisten?

In der Architektur gibt es viele Beispiele, wo eine kritische Auseinandersetzung in Konflikt mit den Realitäten der Geschäftsinteressen gerät. 2006 wurde der Londoner Architekt Richard Rogers von einer Gruppe von Klienten nach New York bestellt, die gelesen hatten, dass er sein Büro einer Gruppe von ArchitektInnen zur Verfügung gestellt hatte, die Verbindungen zu der Organisation “Architects and Planners for Justice in Palestine” hatten. Lord Rogers wurde in die Büros der Empire State Development Corporation zitiert (die den 1,7 Milliarden Dollar teuren, von Rogers geplanten Umbau des Jacob K. Javits Convention Centre überwachen), um seine Verbindungen zu dieser Gruppe zu erklären, die am 2. Februar 2006 eine Sitzung in seinem Büro abgehalten hatte. Danach rieten verschiedene Repräsentanten der Stadt New York dringend dazu, Rogers das von der öffentlichen Hand finanzierte Projekt zu entziehen. Interessanterweise zeigt dieser Fall, wie ArchitektInnen oft als Teil von Machtstrukturen eingesetzt werden, aber aus der Perspektive der Machtstruktur selbst ist der Architekt nicht als partizipierender Vektor oder “Ermöglicher” in diesem Kräftefeld willkommen, sondern wird als Dienstleister angesehen, der ein Produkt liefert. Wie Rem Koolhaas kürzlich meinte: “Ich würde sagen, dass besonders in Amerika die politische Blindheit der ArchitektInnen als Teil ihrer Rolle angesehen wird.”4 Genau diese Kluft versuche ich anzugehen.

Kollaboration als postkonsensuale Praxis

Konflikt bezieht sich auf einen Zustand der Gegnerschaft oder der Opposition zwischen zwei oder mehreren Gruppen von Menschen. Er kann auch als Zusammenprall von Interessen, Absichten oder Zielen beschrieben werden. Wenn wir den Konflikt im Gegensatz zu unschuldigen Formen der Partizipation betrachten, ist er nicht als eine Form des Protests oder eine konträre Provokation zu verstehen, sondern vielmehr als eine mikropolitische Praxis, durch die die Partizipierenden zu aktiv Handelnden werden, die darauf bestehen, in dem Kräftefeld, mit dem sie sich konfrontiert sehen, zu AkteurInnen zu werden. So wird Partizipation eine Form der kritischen Auseinandersetzung. Wenn Partizipation zum Konflikt wird, verräumlicht sich der Konflikt. Reibung und Unterschiede auf der Ebene sowohl der Institution als auch der Stadt geltend zu machen, hat das Potenzial mikropolitischer Kräfte, die den Konflikt zur Praxis machen. In diesem Kontext wird Partizipation eine Form von nicht-körperlicher, produktiver Gewalt. Mikropolitische Aktivität kann mitunter ebenso effektiv sein wie traditionelle staatspolitische Aktivitäten.

Im Juli 2006 interviewten Rem Koolhaas und Hans Ulrich Obrist innerhalb von 24 Stunden über fünfzig Menschen. Ihr sogenannter “Interviewmarathon” in der Serpentine Gallery in London war als ein Modell angelegt, um einen Querschnitt von PraktikerInnen zu bieten, der auf die eine oder andere Art definiert, was London heute ist. Obwohl die Veranstaltung in vielerlei Hinsicht interessant und erfolgreich war, konnte man bei den eher kritisch eingestellten Teilen des Publikums durchaus eine gewisse Frustration spüren. Man würde denken, wenn man irgendeine Art von Querschnitt darstellen will, würde man eine möglichst große Vielzahl unterschiedlicher Stimmen zu Wort kommen lassen. Damit dies nicht falsch verstanden wird, sollte ich erwähnen, dass ich keine Lanze für ein “inklusiveres” Modell brechen will, oder ein politisch korrektes. Im Gegenteil: Was fehlte, war genau der Konflikt, der die Stadt in Wirklichkeit ist. Der Marathon war als eine “anregende Serie von Diskussionen” angelegt. Aber alle TeilnehmerInnen gehörten entweder zu einem existierenden Netzwerk von KulturpraktikerInnen, DenkerInnen oder KommentatorInnen, oder stammten zumindest aus eben diesem kulturellen Milieu.

Ich würde nun argumentieren, dass man, um die Komplexität der Stadt zu erfassen, auch die im Konflikt befindlichen Kräfte dieser Stadt einbeziehen muss. Konsens kann nur durch die Relationalität der Kräfte erreicht werden. Man könnte argumentieren, dass, wenn eine solche Relationalität gebrochen wird, eine andere Art von Wissen produziert wird; ein Wissen, das uns hilft, die zusammengesetzten Realitäten der zeitgenössischen Stadt und die darin wirkenden Kräfte zu verstehen. In diesem Kontext könnte es hilfreich sein, ein Konzept von Konflikt als Ermöglichung, als Herstellung einer produktiven Umgebung zu entwickeln, anstatt Konflikt als direkte körperliche Gewalt zu verstehen. Eine vielfältigere Gruppe von widerstreitenden Stimmen kann potenziell Risiken beinhalten. Aber dies würde mehrere Handlungsweisen ermöglichen und einen Diskurs, der durch die Rekalibrierung von vektoriellen Kräften mittels gesellschaftlicher Verhandlung ein alternatives und unerwartetes Wissen produzieren könnte.

Damit irgendeine Art von Partizipation eine politische Dimension erreicht, muss die Auseinandersetzung auf einer distanzierten kritischen Stimme basieren. Durch diese Art von “konfliktreicher Partizipation” beginnt der Austausch von Wissen in einem postdisziplinären Kräftefeld neue Wissensformen zu generieren. Als Ausgangspunkt für solch ein Modell der konfliktreichen Partizipation könnte man das Konzept von Kollaboration im Gegensatz zur Kooperation einsetzen, wie Florian Schneider es in “The Dark Side of the Multitude”5 definiert: “Als ein pejorativer Begriff steht Kollaboration für die freiwillige Unterstützung eines Feindes des eigenen Landes, besonders einer Besatzungsmacht oder einer böswilligen Macht. Es bedeutet, mit einem Organ oder einer Instrumentalität zusammenzuarbeiten, der man nicht direkt verbunden ist”66.

Da ein solcher Begriff der Kollaboration auch auf einer Idee von Innen und Außen basiert (wenn man innen ist, ist man Teil eines bestehenden Diskurses, dem man zustimmen und fördern soll), wird es immer eher der Außenseiter sein, dem es gelingen wird, den vorher etablierten Machtbeziehungen des Expertenwissens kritisch etwas hinzuzufügen. Obwohl der Außenseiter als jemand gesehen wird, der das interne System nicht bedroht, da ihm das Wissen um seine Struktur fehlt, ist es genau dieser Zustand, der es einem ermöglicht, auf eine dilettantische Weise vollkommen in seine Tiefe einzutauchen. Was wir heute brauchen, sind mehr DilettantInnen, die sich weder darum sorgen, etwas Falsches zu machen noch, wenn nötig, Reibungen zwischen bestimmten Handelnden in einem bestehenden Kräftefeld zu verursachen, als Mittel, wie Claire Doherty es ausdrückt, um “die Vorhersehbarkeit zu umschiffen”7.

Man könnte daher argumentieren, dass wir, statt die nächste Generation von ModeratorInnen und MediatorInnen heranzuziehen, lieber “unvoreingenommene AußenseiterInnen” fördern sollten, diejenigen, denen die Voraussetzungen und bestehenden Vorgehensweisen unbekannt sind, die die Arena mit nichts anderem als ihrem kreativen Intellekt betreten. Sie rennen den Korridor hinunter, ohne Angst, Reibung zu erzeugen oder bestehende Machtverhältnisse zu destabilisieren, sie schaffen Raum für Veränderung, was nicht zuletzt eine “politische Politik” ermöglicht.

Angesichts der wachsenden Fragmentierung von Identitäten und den Komplexitäten der zeitgenössischen Stadt sind wir heute mit einer Situation konfrontiert, wo es entscheidend ist, über eine Form des Zusammenlebens nachzudenken, die den Konflikt als eine Art von produktiver Auseinandersetzung ermöglicht: ein Modell der unkonventionellen Partizipation im Sinne eines Zugangs für AußenseiterInnen, die bestehende Debatten und Diskurse beurteilen, ohne Angst zu haben, auf Ablehnung zu stoßen.

Chantal Mouffe, "Introduction", in: dies. (Hrsg.), The Challenge of Carl Schmitt, London 1999, S. 3.

Florian Schneider, "The Dark Site of the Multitude", in: theory kit, kit.kein.org/node/1.

Section 106 des Town and Country Planning Act von 1990 erlaubt es einer Baubehörde, eine rechtlich verbindliche Planungsverpflichtung einzugehen. Diese Verpflichtung wird manchmal "Section 106-Vereinbarung" genannt und fungiert als ein Hauptinstrument dafür, Bauunternehmern Beschränkungen aufzuerlegen und sie dazu zu verpflichten, die negativen Auswirkungen eines Bauvorhabens auf die örtliche Gemeinde zu minimieren und Maßnahmen zu ergreifen, die die Lebensqualität im Viertel verbessern.

Rem Koolhaas im Gespräch mit Markus Miessen, in: Bidoun 8, Herbst 2006.

Florian Schneider, "The Dark Site of the Multitude", wie Anm. 2.

Ebd.

Claire Doherty, "The New Situationists", in: dies., Contemporary Art -- From Studio to Situation, London 2004, S. 11.

Published 1 August 2007
Original in English
Translated by Wilhelm Werthern
First published by Springerin 1/2007

Contributed by Springerin © Markus Miessen/Springerin Eurozine

PDF/PRINT

Read in: EN / DE

Published in

Share article

Newsletter

Subscribe to know what’s worth thinking about.

Discussion