Die Geschichte hinter der Geschichte oder: Meine liebsten Feinde - die Amerikaner

Jan Koneffkes persönliche Auseinandersetzung mit dem “Traumland” Amerika, stets sein meistgeliebter Feind doch zusehends enttäuschte Liebe. Koneffke geht den historischen und freundschaftlichen Bindungen mit den USA nach und weiß diese Gedanken mit Jim Winchester, seinem früheren Studienkollegen, zu verbinden.

Mailand, September 2000. Eine Redakteurin des italienischen Rundfunks und ich haben einen Interviewtermin mit Giorgio Bocca, dem großen alten Mann des italienischen Journalismus, der seit Jahrzehnten mit seinen so galligen wie scharfsinnigen Kommentaren die römische Politik begleitet und nicht aus Zufall im Nachrichtenmagazin L’Espresso eine Rubrik bestreitet, die sich “Der Anti-Italiener” nennt. Der Achtzigjährige, in seiner Jugend ein glühender Mussoliniverehrer, der später zu den Partisanen ging und der antifaschistischen, linksliberalen “Aktionspartei” angehörte, ist auch persönlich so gallig wie in seinen journalistischen Texten. Das höfliche Geplauder, mit dem wir den Aufbau unserer technischen Ausrüstung zu überspielen versuchen, erträgt er stumm und sichtbar ungeduldig. Und auch das Interview will anfangs nicht recht vom Fleck kommen, aber dann sprechen wir über die Folgen der Globalisierung, und Bocca, der gerade an einem Buch über den globalen Markt schreibt, kommt in Fahrt. “Der Turbo-Kapitalismus, der auch in Europa nicht recht weiß, was er letztendlich erreichen will, hat die großen globalen Probleme nicht gelöst”, knurrt Bocca und klopft so erregt mit seinen Fingern auf den Tisch, dass die Mikrofonanzeiger bedrohlich ausschlagen. “Es ist letztlich das amerikanische System, bei dem es sich meines Erachtens um einen schrecklichen, bloß maskierten Imperialismus handelt, der versucht, dieses System allen anderen Ländern aufzuzwingen, auch wenn es der Tradition des jeweiligen Landes widerspricht. Man muss schon sagen, dass sich Europa dagegen wenig und schlecht verteidigt. Zum Beispiel McDonald’s”, fährt Bocca fort, “das mag ein etwas demagogisches Beispiel sein, aber tatsächlich verkaufen sie miserables Fleisch. Da ist der Herr Simonini, der Besitzer großer Rinderherden, der den italienischen McDonald’s mit schlechtestem Fleisch beliefert. Ich weiß nicht, warum die amerikanische Industrie hierher kommen und die Ernährung versauen muss. Und was machen wir, um uns zu verteidigen? Nichts.” Immer noch hüpfen die Mikroanzeiger vor unseren Augen wild auf und ab, und wir wissen schon, dass dieser Interviewteil kaum zu verwenden sein wird. “Im Übrigen hat die amerikanische Kultur diese Attraktivität, weil sie das Geld repräsentiert. So wie die römische Kultur attraktiv war, als die Römer Herren der Welt waren. Sie haben ein Heer, sie sind die einzige Nation, die noch Streitkräfte großen Umfangs besitzt, die ihrerseits eine Zulieferindustrie mit sich bringen, schließlich das große Kapital, das nach Amerika kommt, weil man dort verdienen kann, es ist eine Kettenreaktion. Nein, mir scheint, dass Amerika an politischer Strategie kaum etwas zu bieten hat, hingegen besitzt es große Möglichkeiten und diese ungeheure Arroganz.”

Ich bin nie in den Vereinigten Staaten gewesen. Als ich vor 13 Jahren eine Einladung nach New York erhielt und zur selben Zeit eine nach Venezuela, entschied ich mich, ohne lange darüber nachzudenken, für einen längeren Aufenthalt in dem südamerikanischen Land. In seinem Brief hatte mir der Freund seine – trotz einer Philosophieprofessur – bescheidenen Lebensverhältnisse beschrieben, aber auch seine Lektürevormittage am Schreibtisch mit Blick auf einen kleinen Urwald hinter dem Haus, in dem die Faultiere an den Bäumen hingen. Das Bild seines Aristotelesstudiums angesichts der in den Zweigen schaukelnden Faultiere begeisterte mich, ja es schien mir der Inbegriff des antiken Gedankens einer glücklichen Existenz zu sein: der philosophischen Kontemplation ohne Zweck und Nutzen. Das wirkliche Land war natürlich ein anderes als das imaginierte – obwohl ich aus der Ferne mit den Faultieren durchaus Bekanntschaft schloss. Im Taxi, einem ramponierten amerikanischen Straßenkreuzer, das uns vom Flughafen in die Stadt brachte, entdeckte ich unter dem Fahrersitz eine Maschinenpistole. Und bei ihm zu Hause angekommen, empfahl mir mein Freund, mit anderen als meinen Adidasschuhen auszugehen, denn die seien in Mode und in Caracas würden Menschen schon für weniger begehrte Artikel ermordet. Vor allem aber musste ich feststellen, von den Venezolanern immer wieder für einen Nordamerikaner gehalten zu werden, und die spöttischen Bemerkungen in meinem Rücken, die dem vermeintlichen Gringo galten, verstummten sofort und verwandelten sich in freundlich-verlegene Entschuldigungen, wenn ich mich als Deutscher zu erkennen gab. “Oh ja, die Deutschen gelten bei uns als das fortschrittlichste Volk der Welt”, klärte mich Fabio auf, “Spanier, Franzosen und Engländer haben sich durch ihre Kolonialgeschichte in Misskredit gebracht, und die Amerikaner durch ihren neokolonialistischen Einfluss der vergangenen Jahrzehnte. Die Deutschen hingegen sind unbelastet.” Ohne etwas dafür getan zu haben, nur weil die süddeutschen Kaufmannsfamilien schon fünfzig Jahre nach der Entdeckung Amerikas bei der Ausbeutung des neuen Kontinents bankrott gegangen waren, während die Spanier dafür dreihundert Jahre brauchten, schlug mir Bewunderung entgegen. Und doch wachte ich in einer Nacht durch die Angstschreie meines Freundes im benachbarten Zimmer auf, der offenbar von einem Alptraum verfolgt wurde. “Jim”, keuchte Fabio, “Jim!” Nicht von mir, dem Deutschen, versprach sich sein Unbewusstes Hilfe, sondern von Jim, dem nordamerikanischen Kommilitonen, mit dem wir einige Jahre zuvor an der Berliner Uni studiert hatten.

Wer von uns beiden Jim Winchester – der Name ist keine Erfindung – zuerst kennen lernte, das weiß ich nicht mehr. Jim war ein Intellektueller, der sich neugierig und vorurteilslos den verschiedenen philosophischen Richtungen widmete, sprachanalytische Seminare ebenso begeistert besuchte wie hermeneutische, während die deutschen Studenten sich nach dem ersten Semester in dogmatische Anhänger Hegels oder Rortys, Adornos oder Wittgensteins teilten; der durchaus seine Überzeugungen besaß – die Wiederwahl Reagans deprimierte ihn tief -, immer aber jedes Gegenargument gelten ließ, sich in allen Sprachen irgendwie zurechtfand und in allen Sprachen ein unermüdlicher Frauenverehrer war. “Hast du diese Fraun gesehen?”, fragte er mich nach jeder zweiten Studentin, die an unserem Mensatisch vorbeilief, und rollte vor Bewunderung die Augen, “sie ist scheen.” Jims Toleranz und Freundlichkeit waren bestechend, aber in meinen Augen bestätigten sie nur, was ich mir von einem Amerikaner erwartete: Oberflächlichkeit. Während sich die Kolumbianer und Spanier an unserem Tisch bei politischen Fragen erbittert streiten konnten, zupfte Jim an seinem roten Bart und lächelte. Als er sich, ich glaube, nach zwei Semestern Schopenhauer, einmal über den ewigen Pessimismus der Deutschen lustig machte, fauchte ich ihn an, der Pessimismus sei ein Ausdruck von Erfahrung, der ewige Optimismus hingegen nichts als ein Ausdruck der Dummheit. Jim zupfte an seinem roten Bart und lächelte. Und ich nahm ihn in Zukunft nicht mehr ernst.

Immer wieder schienen die Begegnungen mit Amerikanern meine fixen Vorstellungen zu bestätigen. Da waren die beiden Schwestern, von denen die eine bei der Soros-Foundation arbeitete und weit gereist war, während die andere zum ersten Mal ihren amerikanischen Heimatstaat verlassen hatte und sich mit beinahe erschütternder Naivität durch Rom bewegte. Vor der Spanischen Treppe rief sie aus: “Hier ist es ja ganz wie zu Hause”, weil sie die Spanische Treppe schon aus dem heimischen Supermarkt kannte, wo man sie maßstabsgetreu nachgebaut hatte. Oder sie strahlte vor Glück, als sie jemand nach Hamburg einlud, bis sich herausstellen sollte, dass sie sich zu einem Hamburger eingeladen glaubte, denn von der deutschen Stadt an der Elbe hatte sie niemals gehört. Aber immer war sie bereit, aufs Freundlichste mitzulachen, wenn man sie auslachte. Dann gab es da den seit langem in Deutschland lebenden Journalisten, der sich auf einer Geburtstagsfeier höflich erkundigte, warum die Deutschen, fast sechzig Jahre nach dem Krieg, noch immer nicht bereit wären, ein normales Verhältnis zu ihrer Nation zu entwickeln und nicht stolz auf ihr Land sein könnten. Erregt erwiderte ich, die viel beschworene Scham der Deutschen sei doch ein Märchen, es habe sie nie gegeben, man habe bloß vor den Siegern gekuscht. Und wer habe denn beim Bundestagswahlkampf verkündet, die Deutschen könnten stolz auf ihr Land sein, wenn nicht Willy Brandt – der viel geschmähte Emigrant durfte seine Landsleute exkulpieren! -, und zwar nicht vor ein paar Jahren, sondern schon 1972. Beim Abschied bedankte sich der Mann für die besonders spannende Diskussion, die er gerne bald fortsetzen wolle. Und ich musste an meine Gespräche mit Jim Winchester denken und konnte es nicht mehr leugnen: Über Jahrzehnte waren die Amerikaner mit ihrem Patriotismus und Optimismus, mit ihrer Naivität, ihrem Idealismus und ihrer Toleranz meine liebsten Feinde gewesen.

Ja, aufgewachsen in den Sechzigerjahren, in einer mit der Studentenrevolte sympathisierenden Familie, waren Amerika und die Gräuel des Vietnamkriegs zu Synonymen geworden. Der moralische Anspruch, die Freiheit in der Welt zu verteidigen, vertrug sich schlecht mit der Unterstützung von Diktatoren und Massakern an der Zivilbevölkerung im fernen Asien. Was man bei uns zu Hause las, das waren die Russen, die unheimliche Geschichten erzählten wie Dostojewski, aber immerhin Tiefe zeigten – Faulkner war mir nicht bekannt. Ja, mehr noch, in den aufgeklärten linken Diskursen ließ sich die alte Verachtung vor der geschichtslosen Neuen Welt nur schwer verbergen. Selbst vom Englischen riet man mir ab, die Kultursprache war das Französische. Und die populäre Musik, die über den Ozean kam, war ohnehin ein Produkt der Kulturindustrie, die schon ein gewisser Adorno seziert hatte. Zwar konnte sich meine Mutter noch gut daran erinnern, wie sie von freundlichen amerikanischen Soldaten nach zwei Tagen Hunger im Kinderlandverschickungslager mit Weißbrot versorgt worden war, aber tiefer hatten sich dem Kind die Bombenangriffe der Alliierten auf das Ruhrgebiet eingebrannt. Sie waren zwar Befreier gewesen, die Amerikaner, aber der Luftkrieg hatte auch die kindliche Psyche zerrüttet. Der Terror des Bombenkriegs belastete die Sieger – und Befreier – mit einer Schuld, die auch zur Entlastung des eigenen Schuldgefühls beitrug. Und die vermeintliche oder tatsächliche Naivität der kaugummikauenden GIs ließ vortrefflich die quälende Einsicht vergessen, wie sich das Abendland der Kultur nicht vor Adolf Hitler und seiner Mörderbande zu schützen gewusst hatte und in Barbarei versunken war.

1998, bei meinem ersten längeren Aufenthalt in Bukarest erzählte mir meine spätere Frau, in den Jahren der Zwangskollektivierung sei ihr Großvater täglich auf den Hof hinausgegangen und habe den Himmel betrachtet, in der verzweifelten Hoffnung, die Flugzeuge der Amerikaner zu erblicken. Mit Amerika hatte man keine schlechten Erfahrungen gemacht wie mit den europäischen Großmächten, die die Länder auf dem so genannten Balkan als Manövriermasse beim Kampf um die Vormachtstellung missbraucht hatten, Amerika war weit genug entfernt, gleichzeitig bewundernswert stark und eignete sich bestens für das mythische Gegenbild zu den sowjetischen Besatzern und ihrer brutalen Repression. Zwar blieb der Himmel über der Walachei und Transsilvanien leer, aber aus dem Radio kamen die Stimmen von Radio Free Europe und man musste sich nicht ganz allein und von der Welt vergessen fühlen. Auch in Italien lernte ich das Traumland Amerika kennen, das Generationen von Auswanderern eine bessere Zukunft verheißen hatte, und mochten sie anfangs Opfer von kruder Ausbeutung und rassistischem Wahn geworden sein: Erstens gestand man seine Niederlagen denen zu Hause ungern ein, und zweitens war das harte Leben in der Fremde der entwürdigenden Armut in der Heimat vorzuziehen. Und vor kurzem sollte mir ein Artikel des bereits erwähnten Giorgio Bocca in die Hände fallen, der den viel sagenden Titel trug: “Das Amerika, das ich geliebt habe”.

“Ich war mit den Partisanen von Gerechtigkeit und Freiheit im Tal Varaita”, las ich, “und eines Tages stiegen zwanzig amerikanische Soldaten vom Hügel dell’Agnello zu uns herab. Sie wurden von einem Italoamerikaner kommandiert, und uns schien es fast natürlich, dass einer, der unsere Sprache kannte, ja, aus unserem Land stammte, die Soldaten des mythischen Amerika befehligte. Das mythische Amerika schien uns, die wir vom realen Amerika nichts wussten, das Land der Freiheit und der Solidarität. In der Nachkriegszeit steigerte sich unsere Achtung vor Amerika noch, denn während die Franzosen und Engländer auf Entschädigung bestanden, ließen uns die Amerikaner frei über unsere Zukunft entscheiden, sie ernährten uns, sie halfen uns, unsere Industrie wiederaufzubauen. Wir waren Philoamerikaner. Und jetzt, da sich dieses Gefühl verloren hat, wirft man uns Verrat und mangelnde Dankbarkeit vor. Aber haben sich nicht viele Dinge geändert? Vielleicht ist Amerika nicht mehr die große Helferin, sondern die Herrin, nicht mehr brüderlich, sondern imperial, nicht mehr weltoffen, sondern die eifersüchtige Hüterin ihrer Privilegien … Die Nationen werden von Menschen gemacht und die Menschen ändern sich”, folgerte Bocca zum Schluss, “und das Amerika von heute macht den Antiamerikanismus zum Teil durchaus verständlich.”
Es gibt eine Geschichte hinter der Geschichte der Freundschaft mit Amerika, die zu oft in Sonntagsreden beschworen wurde, um nicht verdächtig zu sein. Diese Geschichte vermengt sich in den Köpfen mit der Geschichte der berechtigten Kritik an einem Land, das die Büchse der Pandora erst mit der Unterstützung Bin Ladens gegen die Russen und Saddam Husseins gegen Khomenis Iran weit geöffnet hat und heute gewaltsam schließen möchte, aber riskiert, vor lauter Kraftanwendung den Deckel zu beschädigen, bis er überhaupt nicht mehr hält. Diese Geschichte hinter der Geschichte, die in dem ein oder anderen Fall sogar klammheimliche Freude über das Massaker des 11. September ausgelöst haben mag, ist eine Geschichte der Projektionen und der verborgenen Ranküne, der nichteingestandenen Kränkung und – wie es Giorgio Boccas Bemerkungen offen aussprechen – nicht zuletzt der enttäuschten Liebe. Da hilft es wenig, gebetsmühlenhaft auf die Differenz zwischen einem Land und seiner Regierung hinzuweisen, denn erstens ist jede Administration auch der objektive Ausdruck der Bevölkerung, die sie regiert – und wenn Bush zu Beginn seiner Amtszeit die Vereinigten Staaten nicht repräsentierte, so legitimierte ihn in den Augen der Menschen der 11. September -, und schließlich verschleift auch die Sprache den Unterschied. Die Amerikaner sind unsere liebsten Feinde geworden, so sie es nicht schon waren, und auch diese Geschichte hinter der Geschichte sollte erzählt werden. Ich jedenfalls kann die Nacht im fernen Caracas nicht vergessen, als mein Freund Fabio in seinem Alptraum nach der Hilfe Jim Winchesters schrie.

Published 30 June 2003
Original in German

Contributed by Wespennest © Wespennest Eurozine

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