Die Europäische Union: Eine Gefahr für den Nationalstaat und nationale Identität?

Negative Ansichten über die Europäische Union in Litauen haben zu Vergleichen zwischen der EU und dem ehemaligen Sowjetsystem geführt. Sind diese Vergleiche gerechtfertigt? Andrius Bielskis wirft einen Blick auf die Motive hinter diesen Ansichten und erklärt, wie die Europäische Union einen offenen modernen Nationalismus mit den supra-nationalen Strukturen der Union vereinbaren kann.

Die Möglichkeit eines Verfalls des Nationalstaates und nationaler Identität innerhalb der Europäischen Union ist eine weitverbreitete Sorge im modernen Litauen. Obwohl die Mehrheit der litauischen Öffentlichkeit dem Beitritt ihres Landes in die EU zustimmt, wird dies dennoch oft als eine Gefahr für nationale Kultur, nationale Identität und Unabhängigkeit gesehen. Diese Skepsis ist teilweise damit verbunden, dass jegliche multinationale politische Union die Litauer nach wie vor an das repressive Regime der Sowjetunion erinnert.

Dieses Essay argumentiert erstens, dass die Europäische Union, im Gegensatz zu der ehemaligen Sowjetunion, mit dem modernen offenen Nationalismus vereinbar ist und auf ihm basiert, und dass es zweitens irreführend wäre, die Union als eine Bedrohung für die nationalen Identitäten und Kulturen ihrer Mitgliedstaaten zu sehen. Wir lesen im Vertrag über die Europäische Union, dass eines der Ziele “die Stärkung des Schutzes der Rechte und Interessen der Staatsbürger der Mitgliedstaaten durch die Einführung einer Unionsbürgerschaft” ist und dass die Europäische Union “die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten respektiert.”1 Dieses Konzept kann als eine beispielhafte europäische Auffassung des offenen Nationalismus gesehen werden.

Es gibt mindestens zwei verschiedene Traditionen der Interpretation von Nationalismus. Die erste hat ihre Wurzeln in der deutschen Romantik, und kann als ethnolinguistischer Nationalismus bezeichnet werden. Weitgehend haben die meisten ost-europäischen Länder wie Polen und Litauen den ethnolinguistischen Nationalismus ererbt. Um es direkt auszudrücken, er basiert auf dem Gedanken, dass eine Nation eine authentische Gemeinschaft ist, die dieselben ethnolinguistischen Ursprünge teilt. Seiner Nation anzugehören, ist nicht durch Staatsbürgerschaft und der aktiven Teilnahme im politischen Leben definiert, sondern durch ein vorrationales Dazugehören zu den ethnolinguistischen kulturellen Traditionen. Einer solchen Interpretation zufolge besteht die litauische Nation zum Beispiel nur aus Litauern. Ein gutes Beispiel für solch eine ethnolinguistische Auffassung von Nation ist die politische Rhetorik von Vyautas Lansbergis, dem ehemaligen Vorsitzenden des litauischen Parlamentes und dem prominentesten Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung in Litauen. Wenn er sich an die gesamte Gesellschaft wendet, benutzt er das Wort “Nation” in ausschließlich ethnolinguistischer Bedeutung und grenzt somit unbewusst ethnische Gruppen wie Russen und Polen aus.

Der zweite Typ Nationalismus könnte, wie einige Wissenschaftler nahelegen, mit der französischen und angelsächsischen politischen Kultur in Verbindung gebracht werden. 2 Hier wird der Schwerpunkt nicht so sehr auf die Nation als eine ethnolinguistische Einheit gelegt, sondern auf Staatsbürgerschaft. Im Zentrum steht die Idee, dass eine Nation aus all ihren Staatsbürgern besteht und dass folglich die Loyalität zur Nation nicht durch einen gemeinsamen ethnolinguistischen Ursprung realisiert wird, sondern durch die Loyalität zu der staatsbürgerlichen Gesellschaft und deren politischen Institutionen. “Nation” wird hier eng mit dem Staat verbunden und somit in erster Linie als eine politische Gemeinschaft definiert. Das beste Beispiel könnte Rousseaus Verständnis von Patriotismus in Der Gesellschaftsvertrag sein, wo er ihn als eine bürgerliche Religion definiert.

Die Vorstellung, dass die Europäische Union und die gemeinsame europäische Unionsbürgerschaft eine Bedrohung für die litauische nationale Identität sind, ist ein Resultat des traditionellen ethnolinguistischen Nationalismus, der in Litauen das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch vorgeherrscht hat. Wenn man die Europäische Union aus der Perspektive der Ära des europäischen ethnolinguistischen Nationalismus der Zwischenkriegszeit sehen würde, wäre es zweifellos unmöglich zu verstehen, wie eine gemeinsame europäische Unionsbürgerschaft dazu beitragen könnte beispielsweise die litauische kulturelle Tradition und nationale Identität zu stärken. Ein wichtiger Punkt ist jedoch, dass sowohl das Konzept der Europäischen Union, als auch die Struktur ihrer politischen Institutionen nicht auf einem Zwischenkriegszeit-Nationalismus basieren, der jegliche politische Union als eine potentielle Bedrohung der “wahren Unabhängigkeit” von Nationen betrachtet, sondern auf den offenen modernen Nationalismus baut. Der alte Zwischenkriegszeit-Nationalismus ist mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zurückgegangen, als man verstand, dass, um seine eigene kulturelle Tradition und nationale Identität zu bewahren, es notwendig sein würde, den Anspruch auf absolute Autarkie durch eine Kooperation mit anderen Nationen zu begrenzen.

Dass europäische Kooperation und die Fähigkeit eine “immer engere Union” zu bilden mit einem offenen modernen Nationalismus vereinbar sind, wird nicht nur durch das Ziel der EU, nationale Rechte und Interessen zu stärken, offensichtlich. Der Gedanke einer gemeinsamen europäischen Unionsbürgerschaft, eingeführt im Vertrag von Maastricht, ist nur durch nationale Staatsbürgerschaft in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union definiert. In diesem Zusammenhang wäre es irreführend, über einen Widerspruch zwischen der nationalen Staatsbürgerschaft auf der einen Seite und der gemeinsamen europäischen Unionsbürgerschaft auf der anderen Seite zu reden. Folglich ergänzen sich eine lokale nationale Staatsbürgerschaft und eine gemeinsame europäische Unionsbürgerschaft gegenseitig: um eine europäische Unionsbürgerschaft zu haben, muss man zuerst die Nationalität eines Mitgliedstaates besitzen.

Wir können noch stärkeres Beweismaterial dafür finden, dass der Nationalstaat und starke nationale Identitäten essenziell für die Europäische Union sind, wenn wir die institutionelle Grundstruktur der Europäischen Union berücksichtigen. In der Europäischen Union gibt es zwei Arten von Institutionen: Die zur ersten Gruppe gehörenden, könnten supranationale Institutionen genannt werden, welche unabhängig von den Regierungen der Mitgliedstaaten gebildet werden, funktionieren und Macht über die nationalen Regierungen besitzen. Das Europaparlament und die Europäische Kommission sind die naheliegendsten Beispiele für solche supra-nationalen Institutionen. Sie repräsentieren die Union im Ganzen und ihre Funktion ist es, die EU-erhaltenden Institutionen zu vereinheitlichen und zu integrieren. Die zweite Art von Institutionen ist zwischenstaatlich: Sie repräsentieren die nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten. Der Europarat, der aus den Oberhäuptern der nationalen Regierungen, dem Präsidenten der Kommission und den Außenministern der Mitgliedstaaten besteht, ist solch eine zwischenstaatliche Institution. Genau diese zwischenstaatlichen Institutionen – im Besonderen der Europarat – lassen es nicht zu, die Europäische Union als einen vereinheitlichen Superstaat zu sehen. Der zwischenstaatliche Aspekt der institutionellen Struktur der Union veranschaulicht, dass der Nationalstaat absolut wesentlich für die Verfassung der Europäischen Union ist. Dies wird offensichtlich durch die Bedeutung des Europarates und seinem politischen Gewicht in der Entscheidungsfindung. Der Europarat hat entscheidenden Einfluss darauf, ob ein Vorschlag, nachdem er die Zustimmung des Europaparlamentes gewonnen hat, verabschiedet und angenommen wird. Außerdem hat jeder Mitgliedstaat das Recht gegen Entscheidungen, die grundlegend seinen nationalen Interessen widersprechen, sein Veto einzulegen. (Beispielsweise Griechenlands Drohung, gegen jegliche Erweiterung sein Veto einzulegen, wenn nicht Zypern bis 2004 Mitglied der EU würde.)

Deswegen wird solange eine institutionelle Struktur wie die Europäische Union existiert, die politische Bedeutung des Nationalstaates wesentlich sein. Daher ist die Angst der Litauer, ihre nationale Identität in der Europäischen Union zu verlieren, unbegründet.

Siehe Maastricht Treaty on European Union, Luxemburg: Office for Official Publications of the European Community, 1992 (Common Provisions, Articles 2 and 6) Eigene Übersetzung. [Anm. der Übersetzerin.]

Siehe Donskis, Leonidas 2002. Identity and Freedom: Mapping Nationalism and Social Criticism in Twentieth-Century Lithuania, New York, London: Routledge

Published 22 July 2003
Original in Lithuanian
Translated by Swantje Wien

Contributed by Kulturos barai © Kulturos barai Eurozine

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Read in: EN / DE

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