Die Entstehung eines transnationalen Volkes

Diskussionsbeitrag zur Debatte um die politischen Unruhen in Göteborg und Genua

Die Diskussion rund um die Demonstrationen und Krawalle in Göteborg und Genua ist stärker von moralischer Empörung und Enttäuschung geprägt als von analytischer Schärfe. Kaum jemand hat sich die Frage gestellt, warum hunderttausende Menschen auf der ganzen Welt plötzlich auf die Straße gehen, um für eine Politik zu demonstrieren, die nicht in erster Linie auf Eigeninteressen gründet, sondern vielmehr auf der Forderung nach globaler Gerechtigkeit und Solidarität. Kaum jemand hat sich die Frage gestellt, warum ausgerechnet diese Art Demonstrationen häufig in Gewalt und Zerstörung ausartet. Die Gewalttätigen als Rowdies und Hooligans zu bezeichnen, ist alles andere als hilfreich. Solche Etikettierungen signalisieren einerseits, dass man das Geschehene nicht gutheißt, und andererseits, dass die Gewalttätigen erst gar nicht ernst genommen werden sollten. Eine bessere Strategie wäre es, sich zu fragen, weshalb diese Art politischer Gewalt gerade hier und jetzt auftritt. Diese Gewalt passiert in einem ganz spezifischen Zusammenhang und hat deshalb auch ganz spezifische Ursachen. Davon auszugehen, es handele sich lediglich um Dummheit oder jugendliche Unreife, die sich mit polizeistrategischer List oder ausreichender Erfahrung in gewaltfreien Methoden beseitigen ließen, hieße, es sich allzu leicht zu machen. Die Gewalt ist vielmehr ein Zeichen für eine strukturelle Problematik, welche die heutige globalisierte Gesellschaft immer stärker prägt.
Drei besondere Umstände müssen in Betracht gezogen werden, um eine Analyse der Geschehnisse auf die richtige Spur zu bringen. Erstens geschieht die Gewalt, von der wir sprechen, in einem politischen Kontext. Auch wenn einzelne Individuen vor allem der existenziellen Kicks wegen teilnehmen mögen, so schlägt eine umfassende Analyse doch fehl, sobald wir den politischen Kontext außer Acht lassen. Zweitens richtet sich diese politische Gewalt gegen Politiker, welche in nationalen und demokratischen Wahlen ernannt worden sind. Drittens handelt es sich nicht um einen beliebigen politischen Kontext, sondern um einen globalen.
Was den ersten Umstand betrifft, so müssen wir nur feststellen, dass man individuelle Handlungen in einem sozialen und politischen Kontext nicht verstehen kann, indem man sie auf die Psychologie einzelner Individuen reduziert. Vielmehr müssen diese Handlungen in einem strukturellen Zusammenhang gesehen werden. In Bezug auf den zweiten Umstand ist es überraschend, dass die Diskussion um die neue politische Gewalt so selten mit der laufenden Debatte über die Krise der Demokratie in Verbindung gesetzt wird. Es ist häufig darauf hingewiesen worden, dass zwar immer mehr Länder der Welt eine formale Demokratisierung durchlaufen, gleichzeitig jedoch die demokratischen Entscheidungsprozesse zunehmend an politischer Bedeutung und Wirkung einbüßen. Es ist hinlänglich bekannt, dass Staatsbürger immer weniger an den traditionellen Formen der Demokratie, wie etwa der Parteimitgliedschaft und allgemeinen Wahlen, teilhaben. Vieles deutet darauf hin, dass dieses geminderte Engagement nicht gleichbedeutend ist mit einer Zunahme des politischen Desinteresses. Es sollte eher mit den verringerten Möglichkeiten der Einflussnahme auf das politische System mittels dieser traditionellen Formen der Demokratie in Verbindung gebracht werden. Wenn es stimmt, dass die demokratischen Institutionen immer undurchdringlicher geworden sind und außerdem an Stärke und Effektivität verlieren, ist es wenig überraschend, dass die Menschen nach neuen Mitteln suchen um etwas zu bewegen. Angesichts einer solchen Situation sollte die neue politische Gewalt nicht einfach als Hooliganismus aufgefasst werden, sondern als Protest des frustrierten Staatsbürgers gegen eine ausgehöhlte Demokratie. Je schlechter die Demokratie funktioniert, desto mehr Gewalt haben wir zu erwarten. Der Schwachpunkt in der Diskussion um die neue politische Gewalt ist die Annahme, die Demokratie funktioniere im Großen und Ganzen so, wie sie es sollte.
Mit Hilfe des dritten Umstandes kann man diese Analyse spezifizieren. Die moderne Form der Demokratie ist untrennbar verbunden mit dem Nationalstaat. Die demokratischen Institutionen sind auf den nationalen Raum beschränkt. Dies bedeutet, dass die inneren Angelegenheiten der Staaten mehr oder weniger demokratisch behandelt wurden, während im Umgang der Nationalstaaten miteinander in der jüngeren Geschichte durchwegs das Recht des Stärkeren galt. Die demokratisch gewählten Repräsentanten der Nationalstaaten hatten im Umgang miteinander die Aufgabe, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln nach bestem Vermögen den nationalen Eigeninteressen Rechnung zu tragen. Freiheit, Gleichheit und Solidarität waren bestenfalls ein Ziel nationaler, nicht aber internationaler Politik. Zwar war es in der Nachkriegszeit möglich, eine Institution wie die UNO zu etablieren, doch wegen der nicht-demokratischen Organisationsform des Sicherheitsrates wurde die UNO mittels nationaler Machtpolitik neutralisiert.
Eben diese nationale Machtpolitik scheint nun nach und nach ihre Legitimität zu verlieren. Die neue politische Gewalt kann als Zeichen der Legitimitätskrise der internationalen Politik verstanden werden. Dass Solidarität, Freiheit und Gleichheit an Landesgrenzen gebunden sein sollten, stößt auf immer weniger moralische Akzeptanz. Für immer mehr Menschen wird es zunehmend schwieriger zu akzeptieren, dass die Politiker der mächtigsten Nationalstaaten, die von einer privilegierten Minderheit der Weltbevölkerung gewählt worden sind, den entscheidenden Einfluss auf die gesamte Weltbevölkerung betreffende politische Fragen üben sollen. Während internationale Politik immer wichtiger für das Leben von mehr und mehr Menschen wird, ist diese politische Ebene vom demokratischen Prinzip “ein Mensch, eine Stimme” nicht erfasst. Entscheidend für das Ausmaß des demokratisches Einflusses auf internationale Politik ist nicht die Staatsbürgerschaft an sich, sondern von welchem Nationalstaat man zufälligerweise die Staatsbürgerschaft besitzt. Damit verstößt die globalisierte Politik gegen ein weiteres Grundprinzip der Demokratie, dem der Mehrheitsregierung. In der internationalen Politik sind es nicht demokratische Prinzipien, sondern vor allem Macht und Reichtum, welche regieren. Mit anderen Worten befinden sich sowohl Politik als auch politisches Bewusstsein im Prozess der Globalisierung, während gleichzeitig die Demokratie an nationale Institutionen gebunden ist. Dies ist der strukturelle Widerspruch, mit dem sich die neue politische Gewalt erklären lässt. Der zunehmenden Zahl an zu lösenden Problemen in der internationalen Politik und der wachsenden transnationalen politischen Bewegung wird nicht durch transnationale Repräsentanten und Institutionen entsprochen. Um transnationale Probleme auf demokratische Weise lösen zu können, sind ein transnationales Volk, transnationale demokratische Institutionen und transnationale politische Repräsentanten nötig. Die Demonstrationen von Seattle bis Genua zeigen, dass ein transnationales Volk am Entstehen ist. Dieses politische Volk trifft indessen auf politische Repräsentanten nationaler Eigeninteressen, welche ihre Macht nicht nur auf nationale demokratische Wahlen gründen, sondern auch auf internationale wirtschaftliche und militärische Macht. Zu sagen, diese neue politische Gewalt greife die Demokratie an, wäre zu einfach, da die demokratischen Spielregeln auf der transnationalen politischen Ebene, um die es hier geht, nur in sehr begrenztem Ausmaß gelten. Die neue transnationale Bewegung befindet sich auf einem anderen politischen Niveau, mit anderen politischen Problemen und Interessen als die national gebundenen Demokratien. Dieses schwerwiegende demokratische Strukturproblem resultiert in einer politischen Legitimitätskrise. Mit fortschreitender Globalisierung kann solch eine Legitimitätskrise zunehmend weniger durch Verbesserungen der nationalen Demokratien gelöst werden.
Diese neue politische Problematik stellt freilich eine enorme Herausforderung an die real existierende Demokratie dar. Wir scheinen, in der Terminologie des amerikanischen Politologen Robert Dahl gesprochen, vor einer dritten demokratischen Revolution zu stehen. Nach der griechischen demokratischen Revolution während der Antike und den seit Ende des 18. Jahrhunderts bis heute andauernden nationalen demokratischen Revolutionen müssen wir nun eine Form von transnationalen demokratischen Institutionen entwickeln. Offenbar stehen wir heute am Beginn eines politischen Prozesses, der ebenso unübersichtlich und unberechenbar erscheint wie jene zu Beginn der ersten und zweiten demokratischen Revolution erschienen sein mussten. Während solcher Zeiten umwälzender historischer Veränderung sind Gewalt, ernste Fehlurteile und Fehltritte von allen Beteiligten weder überraschend noch schwer zu erklären. Um die Gefahr der Fortsetzung und Eskalation zu verringern, können wir uns nicht damit begnügen, Abstand zu nehmen und Urteile zu fällen oder alte Lösungen auf neue Probleme anzuwenden. Ein erster Schritt muss stattdessen mit einer gründlichen Analyse der Ursachen der Gewalt getan werden. Erst dann besteht die Chance, weitere Fehlurteile und Fehltritte zu vermeiden. Solch ein schwerwiegender Fehler wäre es, wenn sich die Politiker in nationaldemokratischer Selbstgefälligkeit der neuen transnationalen politischen Bewegung noch unzugänglicher machen würden. Je mehr sich die Politiker dieser neuen politischen Macht verschließen, desto mehr wird die Gewalt aufgeschaukelt werden.

Published 13 August 2001
Original in Swedish
Translated by Cornelia Nalepka

© eurozine

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