Die aktuellen Herausforderungen bieten Europa eine zweite Chance
Zwei Jahrzehnte nachdem die visionären Philosophen Jürgen Habermas und Jacques Derrida ihre Ideen für Europa vorgestellt haben, denken der ehemalige Europaabgeordnete Daniel Cohn-Bendit und der Politikwissenschaftler Claus Leggewie über unerfüllte Erwartungen nach. Angesichts von Pandemie, Klimawandel und Ukraine-Krieg betonen sie die Dringlichkeit einer gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik.
Herauszuarbeiten, wie daneben die beiden Titanen der europäischen Philosophie 2003 gelegen haben, ist müßig und wäre bigott: ihre Illusionen waren auch die unseren. Auch wir wollten eine Vertiefung und postnationale Verfassung der Europäischen Union, setzten auf die Herausbildung einer transnationalen Öffentlichkeit, hatten einen europäischen Bund als eigenständigen politischen Akteur in der Welt im Blick.
Die Unterschiede lagen in (allerdings nicht unwesentlichen) Details: die Frontstellung gegen die Vereinigten Staaten war uns zu einseitig, Putin war längst an der Macht und damit die Tradition der russischen Despotie und seine Revisionsabsichten erkennbar. Und beider Philosophen „Kleineuropa“ klammerte die osteuropäischen Nationen aus, die Europas Teilung doch beendet hatten und ein Jahr darauf endlich Teil der EU wurden. Außerdem lagen uns Themen der Migration und der Ökologie näher, die in dem Manifest von 2003 kaum eine Rolle spielen.
Seither ist in Sachen Europa große Ernüchterung eingetreten. Großbritannien hat die Union mit selbstmörderischer Sturheit für altimperiale Träume verlassen. In Ungarn und Polen haben sich dezidiert illiberale Regierungen festgesetzt, die statt Vertiefung eine nationalistisch-identitäre, homophobe, im Kern auch antisemitische Spaltung betreiben. Ungarns Premier Viktor Orbán verkündete 2017 im Rückblick auf den EU-Beitritt: „Damals dachten wir, Europa wäre unsere Zukunft, heute wissen wir, dass wir die Zukunft Europas sind.“
Diese düstere Prophezeiung könnte in Erfüllung gehen, wenn die Konservativen nach Italien und Dänemark auch in Frankreich, Spanien, Deutschland und Österreich einknicken und mit der Ultra-Rechten koalieren. Die Machtübernahme Donald Trumps hat unterstrichen, wie fragil auch vermeintlich gefestigte klassische Demokratien sind. Mit der Jahrtausendwende war die dominoartige Demokratisierung der Welt bereits in reaktionären Nationalismus und bedenkenlosen Autoritarismus umgekippt.
Trumps eventuelle Wiederkehr demonstriert, wie bedroht Europas Sicherheit ist, wenn er sein Zerstörungswerk mit der Auflösung der NATO fortsetzen würde. Der damalige deutsch-französische Vorstoß von Habermas und Derrida hat Erwartungen verstärkt, die auch wir in Richtung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hegten. Prädestiniert dazu war die deutsch-französische Achse, die einmal als Verteidigungsgemeinschaft gedacht war (und 1954 scheiterte), bevor sie in eine wirtschaftlich fundierte und kulturell untermauerte Erbfreundschaft einmündete.
Doch das Tandem ist erlahmt, die Achse hat eine starke Unwucht bekommen. Das liegt wesentlich an der allen deutschen KanzlerInnen von Gerhard Schröder über Angela Merkel bis Olaf Scholz anzulastenden Ignoranz gegenüber französischen Plänen eines letztlich auf eine gemeinsame Armee und Diplomatie zulaufenden „Europa, das uns schützt“ (Emmanuel Macron). Auch hätte sich das deutsch-französische Tandem zu einem „Weimarer Dreieck“ unter Einschluss Polens erweitern müssen, das die gewachsene Bedeutung des Landes spiegelt und offen ist für Erweiterungen ins Baltikum, die Visegrád-Staaten, auf den Balkan. Notwendig ist heute eine politische Gemeinschaft, die mehr als 27 EU-Mitliedstaaten umfasst und dem Imperialismus der „Russischen Welt“ widersteht.
Die an sich fatale Dreieinheit von (Covid-)Pandemie, Klimawandel und Ukraine-Krieg gibt der EU nun eine zweite Chance. Viren und CO2 machen nicht Halt an Grenzen, Gesundheits- und Energiepolitik müssen stärker als bisher vergemeinschaftet sein, was auf die bisher dominanten Themen Fiskal- und Sozialpolitik ausstrahlen wird. Putins Angriff auf die Ukraine hat eine ungeahnte Einigkeit bewirkt; auch die postfaschistische Premierministerin Giorgia Meloni stimmte den Waffenlieferungen an das terrorisierte Land zu, Geisterfahrer wie Viktor Orbán, die zur Kollaboration mit Putin bereit wären, müssen sich zurückhalten, selbst der serbische Beitrittskandidat mäßigt seine Russophilie.
Was transnational nicht erreicht wurde, nämlich den lockeren Staatenbund in einen Bundesstaat umzuwandeln, geschieht nun womöglich wie durch das Wirken eines Hegelschen Weltgeistes qua intergouvernementaler Koordination, die im Ergebnis mehr ist als ein disparater Staatenbund. Ernsthafte Exit-Gelüste sind in den 27 verbliebenen Staaten verstummt, der Euro hatte durch alle Finanzkrisen hindurch Bestand und wurde ein Erfolg; nicht zuletzt sanktionieren supranationale Institutionen wie der Europäische Gerichtshof die Demontage der Rechtstaatlichkeit in Ungarn und Polen und attackieren europäische Staatsanwälte das Grundübel der Korruption.
Allerdings werden Europäerinnen und Europäer zunehmend müde, die Risiken der multiplen Krise anzunehmen; Ängste breiten sich aus, die Zustimmung zur liberalen Demokratie als Herrschafts- und Lebensform sinkt, die national-identitäre Reaktion kassiert allerorts die Verunsicherungsrente. Der verbrecherische, an die Grenzen des Völkermords gehende Ukraine-Krieg unterstreicht die Notwendigkeit solidarischer Kooperation, aber die Opferbereitschaft dürfte speziell bei fortgesetzter Inflation abnehmen Und sollte der amerikanisch-chinesische Konflikt eskalieren, würden Europäer wohl nur widerwillig mitgehen. Eine klarere, einheitlichere Ansage europäischer Führungspersönlichkeiten – weniger Pathos und weniger Stückwerk – würde sicher helfen und wäre Thema für die „europäische Öffentlichkeit“.
Europa in der Welt
Wir sind nicht erst am 24. Januar 2022 „in einer anderen Welt aufgewacht“ (Annalena Baerbock). Drei zentrale, miteinander verkoppelte Themen lagen 2003 schon auf dem Tisch, fanden aber kaum gebührende Aufmerksamkeit: (1) die Geopolitik des Globalen Südens, die eigensinnige, durchweg antiwestliche Einstellung der „blockfreien“ Staaten unter Führung der BRICS-Länder, (2) Klimawandel und Artensterben kamen erst 2015 und 2022 mit den Konferenzen in Paris und Montreal im allgemeinen Bewusstsein an, (3) die durch menschengemachte „Naturkatastrophen“ verstärkte Massenmigration in die Metropolen. Geopolitik, planetare Grenzen und Migration kamen im Manifest von Habermas und Derrida nicht vor, sie zogen allgemeine, pazifistische Lehren aus vergangenen Weltkriegen und Völkermorden, hatten aber keinen Blick für die von diesen drei Entwicklungen charakterisierte Gegenwart und Zukunft. Schauen wir sie uns näher an.
Heute durchkreuzt der postkoloniale und antirassistische Diskurs den westlichen Blick. Die Missachtung, Ausplünderung und Unterdrückung, die weiße Europäer (und Nord-Amerikaner) dem globalen Süden angetan haben, sitzt so tief, dass eine politische Koalition des „globalen Westens“ gegen den akuten Imperialismus Russlands und Chinas nicht zustande kommt.
Auch keine gemeinsame Front gegen korrupte Staatsklassen des Südens, die ihre Geschäfte gar nicht ausüben könnten, wären nicht auch sie vom Westen protegiert worden. Die US-Interventionen nach 1945, der arrogante Neokolonialismus Frankreichs in Afrika, das Gebaren westlicher Firmen und Agenturen, die Vergeudung der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit beherrschen das Bild vom Westen und lassen seine Versprechen als große Lüge erscheinen.
Deswegen fruchteten die Versuche der G7-Staaten wenig, die anderen „BICS-Staaten“ davon zu überzeugen, dass die völkerrechtswidrige Aggression ihres Partners Russlands allen Prinzipien zuwiderläuft, die der eigenen Dekolonisation und Unabhängigkeit zugrunde lagen. Zwar haben viele Blockfreie Putins „Spezialaktion“ in der UN-Vollversammlung verurteilt, aber die Geschäfte und der diplomatische Verkehr mit Moskau gehen weiter (was ja schon für den NATO-Partner Türkei gilt und sogar für das EU-Land Österreich). Und wo immer man in der trikontinentalen Welt auf die VR China zu sprechen kommt, berichten unabhängige Beobachter von erpresserischen Geschäften und dreistem Neokolonialismus, doch ist die Abhängigkeit von chinesischen Investoren offenbar schon zu groß (was ja auch in Griechenland, Italien oder Deutschland zu spüren ist).
US-Präsident Joe Biden und seine europäischen Amtskolleginnen scheiterten bei den letzten G7- und G20-Gipfeln, diese Front aufzubrechen; nun eilen sie nach Indien, Brasilien und in afrikanische Mittelmächte und werben für wenigstens partielle Allianzen – und bekommen meist freundliches Desinteresse oder die kalte Schulter gezeigt. Die „Blockfreien“ sind keine Kriegskumpane Putins, aber sie wollen auch nicht indirekt Kriegs-Partei werden, indem sie Sanktionen oder Waffenlieferungen unterstützen. Sie wollen sich heraushalten und den Krieg möglichst rasch enden sehen, weil seine Fortsetzung ihren Interessen entgegenläuft – nach sicheren und bezahlbaren Lebensmitteln, nach Investitionen und Ausgleichszahlungen im Klimaschutz, auch in der Vertretung eigener regionaler Interessen und in der Festigung einheimischer Autokratien.
Das bedeutet: Eine werte- und regelbasierte Außenpolitik, die die 1945 begonnene und in den 1990er Jahren global erweiterte Demokratisierung zum Ziel hat und auf Kooperation setzt, ist wenig attraktiv; in Nordafrika, Südasien und Lateinamerika haben die durchweg autoritären Regierungen wenig Empathie für Demokratiebewegungen, deren Niederschlagung in Hongkong sie ohne Bedauern registrierten und gegen deren Revision in Kiew sie sich nicht engagieren wollen. Und gelinde gesagt können Brasilien, Südafrika und Indien selbst kaum als demokratische Vorbilder durchgehen. Aber was soll man wiederum einwenden, wenn von den 50 autoritären Staaten, die Freedom House derzeit verzeichnet, 35 US-Militärhilfe erhalten? Und wenn der Westen weiterhin Saudi-Arabien aufrüstet, das einen barbarischen Vernichtungsfeldzug im Jemen führt, der weit mehr Opfer gekostet hat als der Ukraine-Krieg?
Gleichwohl bieten sich geopolitische Gelegenheiten. Afrikanische Leader reklamieren eine radikale Reform der Vereinten Nationen, die ihre universalen Versprechen von Beginn an nicht eingelöst hat. Als besonderer Anachronismus gilt das Diktat der fünf atomaren Vetomächte im Sicherheitsrat, der die Mehrheit der Menschheit und des künftig bevölkerungsreichsten Kontinents Afrika überstimmen kann und sich im Fall des russischen Überfalls als völlig unfähig erwiesen hat, die genuine UN-Mission durchzusetzen. Die Afrikanische Union reklamiert deshalb nach Artikel 109 der UN-Charta eine „charter review conference“, die das UN-System komplett revidieren soll. Diesen Prozess soll eine „Koalition der Willigen“ anstoßen, die der Sicherheitsrat dann nicht überstimmen kann. Die große Frage ist natürlich, wie China zu solchen Plänen stünde, der vermutliche Gewinner des aktuellen globalen Machtkampfs, dessen Aufstieg zum Imperium weit mehr noch als die russische Aggression durch westliche Kooperationsbereitschaft gebahnt worden ist. Hier liegt eine europäische Chance: Zur Reform des UN-Sicherheitsrates gehörte nämlich auch, dass Europa dort mit einem festen Sitz vertreten ist und als Partner Afrikas auftreten kann.
Eine alternative Globalisierung
Hier eröffnen sich die Möglichkeiten für eine wirklich weltumspannende Klima- und Umweltpolitik, die vom Globalen Süden nicht nur Rohstoffe für eine Dekarbonisierung des Nordens und „Ökosystem-Dienstleistungen“ in Gestalt geschützter Regenwälder und Meereszonen erwartet wie bisher, sondern ein tragfähiges Projekt ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltiger Entwicklung aufsetzt. Das bedeutet nicht etwa den Ausstieg aus der Globalisierung, sondern ihren Neubeginn unter Vorzeichen sozialer und Klimagerechtigkeit. Ermöglichen würde das ein Sprung, den die Entwicklungspolitik leap-frogging nennt – der direkte Einstieg in alternative Energien, deren Potenziale Sonne, Wind und Wasser reichlich vorhanden sind, mit einer grünen Wirtschaft und blauen Meeresökonomie, die auch in Afrika längst kein Fremdwörter mehr sind.
Eng verkoppelt damit ist die Süd-Nord-Migration, die Europa aktuell um- und zunehmend auseinandertreibt, vor allem aber die Zukunft Afrikas bestimmen wird. Hier ist ein radikaler Kurswechsel überfällig. Sicher: Schon häufiger ist ein „afrikanisches Jahrhundert“ ausgerufen worden und dann ausgeblieben, zu oft haben Korruption und Bürgerkriege aufkeimende Hoffnungen zerstört, zu gering war der Effekt der Entwicklungsleistungen, ganz zu schweigen von der Vielzahl fehlgeschlagener europäischer Militärinterventionen, die nur noch von den Einsätzen russischer Söldnertruppen überboten wird. Demographen weisen nun auf das enorme Bevölkerungswachstum des Kontinents hin, auf dem 2050 2,5 Milliarden Menschen leben sollen, der allergrößte Teil im jugendlichen Alter – und auf der Suche nach sinnvoller und zukunftsfähiger Arbeit. Die Demografie ist Afrikas Schicksal, wenn es nicht gelingt, junge Menschen von der mörderischen Massenauswanderung über das Mittelmeer abzuhalten und ihnen vor Ort Beschäftigung zu bieten. Die europäische Migrationspolitik ist, genau wie die nordamerikanische, allein auf Abschreckung oder ökonomischen Eigennutz ausgerichtet. Alternativen liegen in einer besseren Bildungs- und Gesundheitspolitik, der Gleichstellung von Frauen und im Ende der endemischen Korruption. Nur so kann Europa endlich das Massensterben an seiner südöstlichen Peripherie beenden.
Fazit: Der Ukraine-Krieg hat ein neues Momentum erzeugt. Es besteht wenigstens eine Chance für eine politische Gemeinschaft, welche die derzeitigen EU-Mitglieder übersteigt und Solidarität gegen den russischen Imperialismus bekundet, wie jüngst für das bedrohte Moldawien. In dieser Gemeinschaft kann die Ukraine auch vor dem fälligen Beitritt zur NATO die notwendigen Sicherheitsgarantien nach der Beistandsklausel in Artikel 42 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union schon vor der vollen EU-Mitgliedschaft in Anspruch nehmen und die erforderlichen Mittel für den Wiederaufbau erhalten. Wir machen uns keine Illusionen mehr, und solche Pläne werden nur mit Unterstützung einer Jugend aufgehen, die sich nicht länger als „letzte (und verlorene) Generation“ verstehen muss.
This translation is contributed by Voxeurop.
Published 25 September 2023
Original in English
Translated by
Klaus Nellen
First published by Voxeurop / Eurozine
Contributed by Voxeurop © Daniel Cohn-Bendit / Claus Leggewie / Voxeurop / Eurozine
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