Der Wodka sollte unsere Schilddrüsen reinigen
Igor' Kostin über seine Tschernobyl-Fotos
Igor’ Kostin machte die vermutlich einzig erhaltene Aufnahme des Unglücksreaktors in Tschernobyl aus der Nacht des Unfalls. Seitdem kehrt Kostin immer wieder nach Tschernobyl zurück, um das Geschehen und den Stillstand zu dokumentieren. Er war in den ersten Tagen nach der Havarie mit den Katastrophenhelfern auf dem Dach des Nachbarreaktors, er hat die Evakuierung der Menschen aus der 30-Kilometer-Zone dokumentiert und die sichtbaren und unsichtbaren Folgen der Kontaminierung eingefangen.
Christine Daum: Herr Kostin, Sie haben das erste Foto gemacht, daß von der Katastrophe in Tschernobyl entstanden ist. Wie ist es dazu gekommen?
Igor’ Kostin: Ein Freund, der Hubschrauberpilot ist, hat mich mitten in der Nacht angerufen und gesagt: Komm schnell, in Tschernobyl ist etwas los! Da ist etwas passiert! Von Kiew nach Tschernobyl sind es etwa 45 Flugminuten. Der Hubschrauber machte einen unheimlichen Lärm, daher hatten wir Ohrenschützer auf und redeten nichts auf dem Weg. Als wir uns Tschernobyl näherten, sah ich plötzlich das Ausmaß der Katastrophe, den brennenden, offenen Reaktor: eine unheimliche, magische Szene. Dazu war es ganz still, wie auf einem Friedhof – ich hörte ja nichts wegen der Ohrschützer.
Ich nahm sofort meine Kamera. Ich wußte nicht, was ich tat. Ich öffnete einfach die Hubschraubertür und begann zu fotografieren. Wir waren in diesem Moment vielleicht 50 Meter über dem offenen Reaktor. Ich nahm eine Kamera, eine mit einem Motor, ich drückte auf den automatischen Auslöser und nahm zwanzig, dreißig Bilder auf. Plötzlich versagte die Kamera. Ich nahm eine andere. Auch diese Kamera blieb nach fünf Bildern stehen. Eine Kamera nach der anderen ging kaputt. Ich sagte: Tut mir leid, die Kameras sind nicht in Ordnung. Ich kann nicht arbeiten. Wir flogen eine Runde um den Reaktor und dann zurück nach Kiew.
Auf dem Rückflug hatte ich plötzlich einen Kloß im Hals. Mir wurde schlecht. Ich bekam Husten und mußte mich übergeben. Das hatte nichts mit dem Fliegen im Hubschrauber zu tun, damit hatte ich nie Probleme. Als ich im Labor dann die Filme entwickelt hatte, sah ich, daß nur die ersten sechs oder sieben Aufnahmen auf dem Film waren. Der Rest war schwarz. Das kam von der Strahlung. Sie hat die Motoren der Kameras zerstört und die Filme. Alle Kameras waren am Ende defekt.
CD: Das einzige Foto, das von den wenigen vom Tag der Explosion übriggeblieben ist, haben Sie dann an Ihre Agentur weitergegeben. Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS hat das Foto aber gar nicht veröffentlicht. Wie war das für Sie? Sie haben Ihr Leben riskiert, als Sie dieses Bild machten – und dann wird es nicht veröffentlicht!
IK: Es war ein wenig anders. Ich arbeitete für die Nachrichtenagentur Novosti, die damals größte Agentur. Eine Erlaubnis, in Tschernobyl zu fotografieren, hatte ich jedoch erst ab dem 5. Mai. Daß ich vorher nach Tschernobyl gefahren bin, das war illegal und verboten. Die ersten Aufnahmen, die ich machte, wurden natürlich nicht veröffentlicht und auch den ausländischen Agenturen nicht zur Verfügung gestellt. Das ärgerte mich natürlich maßlos, aber was sollte ich tun?
Das Regime versuchte damals mit allen Mitteln, die Wahrheit über Tschernobyl zu verheimlichen, über den Unfall selbst, über das Ausmaß der Tragödie und darüber, wie viele Menschen durch den Unfall zu Schaden gekommen sind. Das wurde alles verschleiert und ist deshalb bis heute schwer festzustellen.
© Corbis/Verlag Antje Kunstmann
CD: Warum sind Sie in den ersten Tagen nach dem Unglück, als Sie bereits von der Gefahr wußten, immer wieder zu dem offenen Reaktor zurückgekehrt?
IK: Die Nachricht über den Unfall in Tschernobyl verbreitete sich in der ganzen Welt wie ein Lauffeuer. Die Katastrophe von Tschernobyl betraf ja tatsächlich ganz Europa: Frankreich, Deutschland, Norwegen, die Schweiz, alle waren betroffen. Aber niemand wußte genau, was da passiert war, wir hatten nur sehr wenige Informationen.
Als Reporter verstand ich sofort, daß man etwas tun muß. Man mußte etwas über die Katastrophe herausfinden, über die die ganze Welt sprach. Sollte ich in Kiew sitzen, eine Satire schreiben, Kaffee trinken und nichts tun? Wie hätte ich das tun können? Es war meine Arbeit, dorthin zu fahren, und ich habe meine Arbeit gemacht. Ich mußte dorthin. Es war meine Pflicht, von dort zu berichten.
CD: Welches ist für Sie das wichtigste Bild, das Sie in all den Jahren von Tschernobyl gemacht haben?
IK: Als der vierte Reaktor explodiert ist, fielen die Trümmerteile und das verseuchte Graphit auf das Dach des dritten Reaktors. Und dieser Müll mußte dort weggeräumt werden. Die Strahlung war unheimlich hoch dort. Die Dosis, die für den Menschen tödlich ist, sind 500 Röntgen, dort aber betrug die Strahlung 15 000 Röntgen. Das ist unvorstellbar hoch. Das hatte die Zivilisation vorher noch nicht erlebt! Zuerst hat man versucht, dort oben mit Robotern zu arbeiteten, mit deutschen und einem japanischen. Aber die fielen sofort aus, weil Computer bei der Strahlung nicht funktionieren.
Ich habe gesehen, wie die Roboter da oben herumgeeiert sind und sich nicht orientieren konnten, als sie den verseuchten Schutt wegräumten. Einer ist direkt in das Loch gefahren, wo er den Müll abwerfen sollte, und abgestürzt.
Danach hat man Leute da rauf geschickt, einfache Soldaten haben da oben gearbeitet. Ich war dort mit ihnen, und sie werde ich mein Leben lang verehren. Diese Fotos sind für mich die wichtigsten, die ich gemacht habe. Denn diese einfachen Soldaten haben die Drecksarbeit gemacht. Sie sind meine Helden. Ihnen, von denen keiner spricht, will ich mit meinen Bildern ein Denkmal setzen.
© Corbis/Verlag Antje Kunstmann
Es gab dort oben eine Sirene, die ging alle 40 Sekunden. Dann mußten die Soldaten wieder runter. Sie warfen eine Schaufel Schutt in den Reaktor und kamen wieder zurück. Sie bekamen 100 Rubel Prämie und wurden weggeschickt. Und diese Streifen, die Sie hier unten auf den Bildern sehen, das ist von der Radioaktivität.
Und als alles beendet war, erhielten sie ein paar Dankesworte, und sie wurden Roboter Petja und Wasja genannt, aber es waren Arbeiter! Vor ihnen werde ich mein Leben lang auf den Knien liegen für ihre Heldentaten. Ich war lange mit ihnen zusammen. Ich war fünfmal oben auf dem Dach des Reaktors. Es ist schwer darüber zu reden. Aber das sind meine Helden.
CD: Wie lange waren Sie selbst dort oben auf dem Dach des dritten Reaktors?
IK: Hier diese Jungs, die Sie hier sehen. Sie erhielten eine Urkunde, eine Armeeurkunde. Die Urkunde und 100 Rubel und sie wurden weggeschickt. Sie waren nur einmal auf dem Dach. Ich war fünf Mal dort oben. Ich habe fünf Urkunden!
CD: Wie lange haben Sie während der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl gearbeitet und fotografiert?
IK: Ich war nach der Katastrophe praktisch ein Jahr dort, nicht die ganze Zeit über, aber immer wieder. Ich fotografierte in Tschernobyl und fuhr dann für drei, vier Tage nach Kiew in die Redaktion, um die Bilder zu entwickeln. Wenn ich nach Kiew kam, war mir immer schlecht. Uns wurde gesagt, wir sollten Wodka trinken. Denn die Radioaktivität sollte sich zuerst in den Schilddrüsen sammeln. Und der Wodka sollte sie reinigen. Das wurde uns dort regelrecht als Rezept gegeben: ein halbes Glas Wodka auf zwei Stunden in Tschernobyl. Ich glaube nicht, daß das wirklich viel Sinn hatte, aber ich habe das jedes Mal gemacht, wenn ich nach Kiew zurückkam. Ich hab eine Flasche Wodka getrunken und dazu Wasser. Und danach schien mir der Organismus gereinigt.
Ende 1986 wurde ich ins Krankenhaus geschickt. Ich bat darum, daß ich erst nach dem Neujahrsfest in die Klinik muß. Am zweiten Januar kam ich dann in die Moskauer Klinik Nr. 6, die auf Strahlenkrankheiten spezialisiert ist. Daran möchte ich heute nicht mehr erinnert werden.
© Corbis/Verlag Antje Kunstmann
CD: Warum ist Tschernobyl zu Ihrem Lebensthema geworden?
IK: Das ist keine einfache Frage. Eine ganze Zeit war es tatsächlich so, daß ich ohne Tschernobyl nicht leben konnte. Schon nach zwei, drei Tagen mußte ich wieder hin. Das war wie ein Magnet. Und das nicht nur ein Jahr lang, sondern viele Jahre.
Siebzehn Jahre lang habe ich die Katastrophe und ihre Folgen dokumentiert, in Rußland, der Ukraine und Belarus. Ich war an allen Orten und habe alle Aspekte der Katastrophe fotografiert, die man aufnehmen kann. Ich war im Epizentrum der Katastrophe. Ich habe in den Reaktor gesehen, er war fünfzig Meter unter mir. Ich habe die Farben und ein unglaubliches Licht gesehen. So etwas hatte ich noch nie vorher gesehen – niemand in der Welt hatte das zuvor gesehen.
Aber ich verstand Tschernobyl auch anders. Das, was ich dort gemacht habe, das ist Geschichte, Geschichte, die mit dem Objektiv geschrieben ist. Das war der wichtigste Grund für mich, immer wieder dorthin zurückzukehren. Ich spürte, da spielt sich Geschichte ab, und damit mußte sich jemand ernsthaft beschäftigen. Meine Bilder sind wie eine Gebrauchsanweisung für die nächsten Generationen, daß so etwas nicht wieder geschehen sollte.
Meine Position heute ist: man sollte über andere alternative Energiequellen nachdenken, die nicht so gefährlich sind. Sonst passiert die nächste Katastrophe. Und das sollten wir nicht zulassen. Die Präsidenten und die Kanzler können sich davor schützen, aber die einfachen Leute können das nicht.
CD: Es gibt Experten, die behaupten, man könne heute in den verseuchten Gebieten wieder leben. Was denken Sie darüber?
IK: Es ist ein Verbrechen, zu behaupten, daß man dort wieder leben könnte, wie das die IAEA tut. Ich kann diesen Experten eine Wohnung in der 30-km-Zone umsonst besorgen, wo sie dann mit ihren Familien leben können. Wenn sie dort eine Zeitlang sind, sollen sie entscheiden, ob sie dort leben wollen.
CD: Sie haben die Biotope fotografiert, die dort neu entstanden sind. Sie kennen die Zone der verseuchten Gebiete seit zwanzig Jahren. Wie schätzen Sie das ein, was sich da entwickelt hat? Gibt es da noch etwas jenseits des Todes?
IK: Es gibt keine Entwicklung und keinen Fortschritt. Ich war vor vier Monaten da, vor vier und vor zehn Jahren. Die Häuser sind verlassen, die Dörfer vergraben. Die Straßen wachsen zu. Einen Fortschritt wird es da nicht mehr geben, weder in zehn noch in zwanzig oder in 100 Jahren. Das ist einfach tot.
Vor fünf Jahren kam ein Mädchen kam zu mir, das damals 18 war. Sie wollte unbedingt Tschernobyl sehen. Sie war dreieinhalb, als das Unglück passierte, heute ist sie 23. Also nahm ich sie mit. Wir sind in ihre Wohnung in Pripjat gefahren, wo ihre Familie gelebt hat. Das war, als wenn man ein Grab besucht. Es war wie ein ausgetrockneter See, alles war mit Gras bedeckt und überwachsen. Es gibt dort keinen Fortschritt, keine Veränderung, nur Verfall.
Published 21 April 2006
Original in German
First published by Osteuropa 4/2006
Contributed by Osteuropa © Igor Kostin, Christine Daum/Osteuropa Eurozine
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