Armut und Reichtum auf Mazedonisch. Nikola Mazdirov über “den armen Balkanmenschen”, der sich als eingezwängt zwischen zwei Stäben erlebt: den multiplizierten Bedürfnissen des Westens auf der einen Seite und auf der anderen, einer Reduktion der Wünsche, eine Existenz “zwischen Bettel- und Marschallstab”.
Vor dem Armen flieht sogar der Bettler
Mazedonisches Sprichwort
Es gibt etwas, was die Armut und ihre Präsenz in der Architektur der sozialen, ethnischen, ja auch kulturellen Identität plausibel macht. Das ist ihre historische Kontinuität, sowohl in der “Erinnerung ans Allgemeine” als auch in der durch das Rauschen des gesellschaftlichen Unterbewusstseins sukzessiv vernebelten “Vision des Einzelnen”. Armut ist tief verwurzelt als immanentes positivistisches Faktum und zuweilen auch als genetischer Code, der für das Vorhandensein eines kollektiven, Tradition und Kultur erschaffenden Bewusstseins wesentlich ist. Ihre Fatalität ist nur vorherbestimmt, wenn sie die physische Präsenz des Einzelnen bedroht, aber auch hier finden die großen Meister der Metaphysik einen Ausweg in der Kombinatorik aus Seelenwanderung und Wiederverkörperung. Im Zentrum der Ästhetik der Armut steht die Heterogenität, die rohe Architektonik des Willkürlichen, gegenüber der Symmetrie des Luxus. Man vergleiche nur die Buntheit der durcheinander gewürfelten Armenviertel mit der Harmonie jener Wohngegenden, wo der Quadratmeter weit teurer ist als der Sauerstoff, der ihn erfüllt. Die Ästhetik des Todes ist unterschiedlich – die Gräber der Armen sind gleich.
Mazedonien am Übergang von einem System ins andere befindet sich zwischen multiplizierten Bedürfnissen, die vom Westen heranbranden, und einer Reduktion des Wünschens, einer Reduktion, die fälschlich an eine fernöstliche Zen-Errungenschaft erinnert, aber aus dem existenziellen Instinkt kommt und sich nicht vom Imperativ des “Satori” ableitet. Der arme Balkanmensch sieht sich plötzlich eingezwängt zwischen zwei Stäbe – zwischen Bettelstab und Marschallstab.
Money, get away.
Get a good job with more pay and you’re okay.
Money, it’s a gas.
Grab that cash with both hands and make a stash.
New car, caviar, four star daydream,
Think I’ll buy me a football team.
Roger Waters
Der vermögende Bürger entwickelt ein Zentrum für Auslese und raffinierten Eklektizismus, für ein sanftes Nuancieren bereits affirmierter Werte, die immer als “non plus ultra” angeboten werden. Gerade das Gefühl für Selektion und Akkumulation, Empathie und “komfortable Solidarität” als Schuld gegenüber künftigen Generationen veranlasst die Mehrzahl der Mazedonier, sich an das zwanzigste Jahrhundert als Stalker eines “better life” außerhalb des Heimatlandes zu erinnern. Im Gegenzug errichten sie im eigenen Land fünfstöckige Häuser in der Hoffnung, eines Tages doch nach Hause zurückzukehren, so wie jedermann hofft, die in einem Buch unterstrichenen Zeilen eines Tages wieder zu lesen. Diese Bauten sind zu heiligen Mausoleen ihrer Erbauer geworden, zum sanften Gipfel eines Narayama-Berges.
Auf den Selbsterhaltungstrieb wirkt der Reichtum wie ein Implantat – ausgiebig fördert er die körperliche Homöostase, und doch will ihn der “Geist” als einen “Fremdkörper” abstoßen. In der essayistischen Erzählung The Domain of Arnheim von Edgar Allan Poe verwendet Ellison den ererbten Reichtum von vierhundertfünfzig Millionen Dollar für die Errichtung eines ganzen ästhetischen Systems, das auf der Einhaltung von vier Prinzipien beruht, zu denen auch die Verachtung des Ehrgeizes zählt. Der materielle Reichtum fungiert lediglich als Bedingung für die “Bereicherung der Natur”, für eine sichtbare, auf die Veredelung der uranfänglichen natürlichen Schönheit gerichtete Intervention durch den Menschen. Dem mazedonischen Regisseur Milco Mancevski wird oft vorgehalten, er stelle in seinem Film Vor dem Regen1 Mazedonien vor der Welt als armes Land hin, indem er den Kontrast “europäische Metropole – mazedonisches Dorf” hyperbolisiere, aber es scheint, dass die Welt diese Armut eher als Folklore sieht denn als soziale Deviation, eher als Ansichtskarte und als Rückfall in eine völlig pantheistische Artikulation.
So wie bei einigen Indianerstämmen die erste Jagdbeute mit dem Moment der Initiation zusammenfällt, so stellt auch bei den Balkanvölkern der erste selbständige Verdienst (das Ende der Initiationsperiode, der Verlust der Jungfräulichkeit) eine Befrachtung des Einzelnen mit allen Rechten und Pflichten der Gemeinschaft dar. Das Profil eines reifen zivilisierten Menschen scheint gerade durch die Flucht aus der Armut definiert zu werden, auch wenn die Rückkehr in den Zustand des Nichthabens – des Kindseins (die Mutter bekommt das Kind und nicht das Kind die Mutter) zumeist auf ältere und erfahrene Leute zutrifft, die sich in die idyllischen Randgebiete des wilden Balkans zurückziehen.
Der homo balcanicus ist mit seiner Nabelschnur an das Anhäufen und Verheimlichen von Reichtum gebunden. Dieser bedingte Reflex platzt auf wie eine vernarbte Wunde, herrührend vom ewigen Lamento der Zweitrangigkeit, vom tausendjährigen Verbergen des Besitzes, um eine kleinere Abgabe an die Eroberer zu zahlen, vom tausendjährigen Umgang mit dem Bewusstsein des Nichthabens, auch wenn man hat. Doch die neuen Generationen wachsen heran als Antipoden dieser masochistischen Schichtung, dieses kontra-nomadischen Paradigmas. Sie wollen konsumieren, den Besitz zeigen, auch wenn sie keinen haben, voller Wetteifer um den höheren Status in der materiellen Vertikale ihres Milieus. “New car, caviar, four star daydream, think I¹ll buy me a football team.” Da braucht es überhaupt nicht zu verwundern, dass die Menschen aus dem Osten mittlerweile auch Fußballteams aus dem Westen kaufen.
Nicht nur Kaffee, Krankheit, Schlaflosigkeit oder Todesbesessenheit halten den Geist im Wachzustand; der Not gelingt das in gleichem, wenn nicht sogar in höherem Maße: Das Grauen vor dem morgigen Tag, wie auch vor der Ewigkeit, der Mangel an Geld, wie auch metaphysische Beunruhigungen schließen Erholung und Gleichmütigkeit aus.
Emile M. Cioran
Die Armut hat den utilitären Wert der Dinge modifiziert, indem sie sie in eine merkwürdige, aus der leeren Tasche und dem vollen Verstand des Einzelnen resultierende Situation versetzt hat. Da die aufgezwungene empirische Imagination der Lebenstrivialität nicht gewollt wurde, mutierten aus den Zwängen des damaligen kommunistischen Systems autochthone Innovatoren. Die Entdeckung der polysemantischen Pragmatik war eine kaum weniger bedeutende Erfindung als die Ästhetik des “geheimen Lebens der Dinge” durch De Chirico. Der Mangel an Geld zwang die Menschen, leere Käseschachteln ohne Recycling als Gefäße zum Zitronenanbau zu verwenden; leere Blechdosen verwandelten sich in Futterale zum Aufbewahren von Federhaltern und Bleistiften; Rechnungsformulare und andere bürokratische Papiere wurden von den Straßenverkäufern zu Trichtern für Samenkörner und Erdnüsse gerollt; mit den Ein- und Zweidinarmünzen wurden Einmachgläser und mit dem Türschloss Bierflaschen geöffnet; die Kronenkorken von Bier- und Colaflaschen waren hervorragende Untersetzer für wackelnde Tische und Stühle; Schuhschachteln verwandelten sich in Aufbewahrungsbehälter für Bücher und Kassetten. Es klingt paradox, aber gerade der Sozrealismus scheint die surrealistischen Bilder eines René Magritte pragmatisch reproduziert zu haben – Ceci n’est pas une pipe. Heute reanimieren die Menschen diese Bilder und projizieren sie in das Bewusstsein ihrer Nachkommenschaft als fragmentarischen Reflex eines zerbrochenen Kindheitsspiegels, um sich in der von Feuchtigkeit zerfressenen Ikone erschrocken wiederzuerkennen. Die Exotik der kommunistischen Märchen ist eingepflanzt in die romantische Begeisterung der Erzähler, vielleicht nicht, weil es früher um so vieles besser war, sondern weil sie – die Erzähler – damals jünger waren. Und aktiver. Die heutige Resignation, die aus dem Alles-Haben oder Nichts-Haben kommt, teilt die Armen in Bettler und in neureiche, auf den Militärschild gehobene Akrophobe. Der Balkan hat zum zweiten Mal die Trauer zum Postament des neuen, erträumten Europa erhoben, ähnlich jenem, das Stefan Zweig empfunden, aber nicht gelebt hat.
Ich habe meinen neugeborenen Kleinstaat (Kroatien) verlassen, um den Kriegsprofiteuren zu entkommen, den wahren Siegern des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien: Typen mit fettigem Haar, goldenem Kettchen um den Hals und einer Rolex-Uhr am Handgelenk, jene mit den neuerworbenen Spielzeugen (Waffen, Fabriken, Jachten und Hotels).
Dubravka Ugresic
Ein neuer Diskurs nahe den “Spielen des Signifikanten” von Jacques Derrida enthüllt die semantische Dichotomie des slawischen Lexems “beda” einerseits in seiner Vollbedeutung als “Armut, Un-Wohlstand” und andererseits als Bestandteil des Wortes “po-beda”, das den “Erfolg, das positive Resultat” bezeichnet. Die Absurdität etymologischer Logik lässt sich auch anhand englischer Entsprechungen zeigen, an den Wörtern “poverty” mit der Bedeutung Armut und “power”, wo das Gewicht auf “Macht, Supremat” liegt. Die Füllung der Leere in dem Vers “in der Ohnmacht sind wir stark, im Mangel sind wir reich” war lange Zeit und ist vielleicht noch immer die Quintessenz der geistigen Befindlichkeit und intellektuellen Entwicklung im Osten. Das Transitionsmoment der Bezeichnungsnotwendigkeit neuer behavioristischer und kulturologischer Werte konfrontiert den östlichen Menschen mit dem wahren Pragma. Er befindet sich unversehens in einem Informationsdschungel und bekommt, des physiologischen Optimums beraubt, die lebendige Entropie des Systems mit aller Macht zu spüren. Im Interesse der evolutionären Entwicklung seiner Nachkommenschaft hat er seinen Standpunkt revolutionär ändern müssen. Gleichzeitig sieht er sich mit einem existenziellen Minimum und Maximum konfrontiert. Der Krieg war nur ein Kondensat des von den Profiteuren ans Schlafwagenfenster gehauchten Atems. Er wurde auf den Fundamenten einer progressiven Armut konstruiert, sorgfältig verkleidet hinter extremen geopolitischen und nationalistischen Appetiten. Wir treten ein in eine Ära von Menschen mit Goldzähnen und korrodiertem Verstand, eine Ära von Leuten, die ihre verbotenen Luxusstädte aus Abrissbrettern und -ziegeln erbauen. Jene anderen aber, die die Gefahr des allgemeinen Wahnsinns antizipieren, irren einsam umher und erzählen der Welt vom Grauen und Terror in dem Land mit den sechs Republiken, siamesische Zwillinge mit gemeinsamem Blutkreislauf, die einander nicht sehen können (nicht wollen). Die sechs Flammenzungen, die sich aus dem gemeinsamen Feuer auf dem Wappen Jugoslawiens lösen, verschlingen sich selbst. Das Mitbringsel des Prometheus war als Fötus der Zivilisiertheit nur die Folge eines aktivierten Pulverfasses, ein Ornament zur Dante’schen Vision des “Infernos”. Die Angst vor der Not erzeugt noch größere Not, so wie die Angst vor HIV bei mir mitunter auch tatsächlich AIDS zu erzeugen scheint.
Gewinner des "Goldenen Löwen" in Venedig 1994 und Oscarnominierung.
Published 22 March 2004
Original in Macedonian
Translated by
Klaus Detlef Olof
Contributed by Wespennest © Nikola Madzirov Wespennest Eurozine
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