Der Raum der Natur, der Raum der Kultur

Interview mit László Krasznahorkai

Eve-Marie Kallen: Herr Krasznahorkai, ich möchte mit Ihnen über Ihr Buch “Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Berge, im Osten ein Fluß” sprechen. Die Geschichte spielt in Japan. In diesem Land haben Sie viel Zeit verbracht. Der Raum der Natur und der Raum der Kultur in Japan, diese beiden Dimensionen stehen im Zentrum dieser Geschichte. Darum würde ich gern zunächst einiges darüber hören, was für eine Rolle der Raum überhaupt in Ihrem Denken spielt.

László Krasznahorkai: Der Raum der Natur ist irgendetwas, das existiert. Der Raum der Kultur ist eigentlich eine Reaktion, die nicht im Irdischen angesiedelt ist, sondern in der Vorstellungsvielfalt des Menschen.

EK: Welchen Einfluß haben diese Dimensionen auf Ihre Art, künstlerisch zu schreiben?

LK: Der Raum der Natur ist wirklich alles, was es gibt. Außer diesem Raum gibt es nichts. Genauer gesagt, was außer der Natur existiert, ist nichts. Dieses Nichts ist für uns, die Menschheit, natürlich sehr wichtig, denn unsere ganze Kultur, unsere Gedanken, Künste, alles, was wir für das Wesentliche halten, existiert in einem Raum ohne Raum, also in einem nicht existierenden Raum. In diesem raumlosen Raum, der nur in unserem Vorstellungsfeld existiert, liegt unsere ganze Hoffnung. Die Hoffnungen sind wirkliche exakte Reaktionen auf eine Impression der real existierenden Natur. Ich möchte damit sagen, daß nur die Natur existiert. Sie ist das einzige, das es gibt! Unser Wesen spielte und spielt und wird in diesem nicht existierenden Raum spielen.

Der Unterschied zwischen dem, was existiert, und dem, was nicht existiert, ist sehr wichtig. Denn die letzten paar Jahrtausende, in denen die menschlichen Gedanken in der Philosophie, der Kunst und den Gesellschaftstheorien entstanden sind, führten uns immer wieder in eine Richtung, in der wir langsam begannen zu glauben, daß diese nicht existierende Welt eine absolut klare Existenz habe. Das ist aber ein großer Irrtum. Allerdings wissen wir sehr wenig darüber, was exactement die Natur, also die real und objektiv existierende Welt, bedeutet. Wir sind von ihr extrem weit entfernt mit unseren Gedanken, mit unserem Bewußtsein, denn wir sind in dieser Welt. Zwischen der Welt und unseren Gedanken über sie liegen riesige Distanzen. Wir können diese Distanzen nicht aufheben. Wir können nie einen Weg finden zurück zur Realität, weil wir in der Realität sind.

EK: Das bedeutet, daß Sie eigentlich aussagen, der Mensch befinde sich sein Leben lang in einem Irrtum. Es ist ein sehr schöner Irrtum, ein selbst konstruierter Irrtum und vielleicht die einzige Art, wie er überhaupt überleben kann in diesen Gesteinsmengen. Aber er ist eben auf dem Holzweg. Wie hängt das jetzt mit Ihrer Arbeit als Literat, als Künstler zusammen?

LK: Als Irrtum würde ich das nicht gern bezeichnen. Denn dazu wäre die Voraussetzung, daß wir überhaupt etwas wüßten über die wirklich existierende Realität. Aber wir wissen darüber gar nichts. Sie ist sehr weit von uns entfernt, denn wir sind ein Teil der Realität. Wir befinden uns nicht im Irrtum. Das wäre schon etwas. Was wir eigentlich “wissen”, ist keineswegs die Wahrheit. Wir wissen das, und wir wußten es eigentlich immer. Nur in unserer Situation als einer existierenden Tatsache versucht die Menschheit immer, ihren Platz irgendwie zu interpretieren und zu finden. Das war eine Frage von Leben und Tod, und sie ist es auch heute noch, nur vergessen wir, daß wir zu der Welt gehören.

Wir haben aber Verwandte. Diese Verwandten auf der Welt, vor allem die nächsten Verwandten, die Steine, die Bäume, jeder Grashalm auf dem Feld, sie alle haben ebenso einen Platz in der Realität der Existenz wie wir. Wir alle versuchen, unsere Existenz irgendwie auszufüllen. Der Stein hat seine eigene Methode, auch das Gras findet seinen Platz. Ein Mensch findet ihn ein bißchen anders als alle anderen Wesen. Wir wissen jedoch relativ wenig darüber, wie ein Stein “denkt” oder ein Baum oder ein Reh. Wir denken über unsere Situation eben mit unserer Methode. Wir interpretieren unsere Situation mit unserer Methode. Nur bedeutet dies, daß unsere Worte und Gedanken über die Welt keine Irrtümer sind, sondern eben unsere Methode.

EK: In diesem neuen Buch schreiben Sie extensiv über Impressionen aus dem japanischen Raum. Kommt diese Welt Ihren Denkstrukturen besonders stark entgegen wegen der animistischen Haltung, die dort anzutreffen ist?

LK: In diesem Buch gibt es viele Dinge parallel, nebeneinander. Vor allem wollte ich etwas über das Wesen der Tradition schreiben. Tradition ist die Bewegung eines Noh-Masken-Machers oder eines Schreiners, der an einer Kirche arbeitet. Tradition liegt in der Art, wie er seine Werkzeuge hält. Seine Bewegungen, seine Arbeitsmethode sind die Tradition, auch ohne daß er darüber etwas wüßte.

Zum Beispiel jetzt, fünf Jahre nachdem ich diesen Roman geschrieben habe, war ich wieder für längere Zeit in Kyoto. Ich habe eine Genehmigung vom Verwaltungsbüro des Ise-Schreins (eines bedeutenden japanischen Nationalheiligtums) bekommen, die ganze Neubauarbeit in den nächsten acht Jahren verfolgen zu dürfen. Sie sagten, ich sei der erste Europäer, der diese Genehmigung erhalten hat. Das erste, das ich dort sah, war die Arbeitsweise von sechs oder sieben Holzfällern in zwei Gruppen. Ihre Aufgabe bestand darin, zwei große Hinoki-Zypressen zu fällen. Wie sie diese zwei Bäume gefällt haben, das war unglaublich interessant und wirklich archaisch. Nie habe ich von einer solchen Methode gehört. Nur an drei Punkten auf jedem zu fällenden Baum machten sie drei Löcher oder Kerben, und das war alles. Damit konnten sie ganz genau bestimmen, wohin der Baum fallen mußte, zentimetergenau. Einige weitere Zuschauer waren übrigens mit dabei. Sie gehören zu einer Gruppe von Japanern, die für dieses riesige Vorhaben, den Neubau des Ise-Schreins, Geld stiften.

An dieser Arbeitsmethode konnte ich sehen, was ich in meinem Buch über die Tradition ausdrücke. Die Tradition ist etwas sehr archaisches. Sie blieb nicht in unserem Bewußtsein, nicht im wissenschaftlichen Forschungsmaterial, sondern beispielsweise in der Realität der Bewegungen des Arms eines Arbeiters. Das ist Tradition. In Europa kann man in solcher Form die Tradition gar nicht sehen oder erfahren. Aber in Japan und in verschiedenen anderen Teilen der Erde können wir es.

Warum ist das so interessant für mich, warum spielt das eine so große Rolle in meinem Roman? Weil dieses Wissen von etwas Negativem viel mehr wiegt als unser Wissen von unserer Philosophie und Kultur, von unserer Edukation und unserer Zivilisation. Ich möchte diese Dinge trotzdem nicht so behandeln, als wären sie ohne Wert, nein, sie waren sehr wichtige Leistungen der Menschheit, und ich schätze sie sehr. Aber sie führten nicht zu einem Wissen über die Welt, sondern zu unserer menschlichen Wertung dieser Existenz. Wir brauchten Wissen darüber, wie wir überhaupt auf dieser Erde leben können, das ist wichtiges Wissen, so wie ein Stein etwas über die Existenz weiß. Aber wir brauchen zusätzlich ein Wissen, um eine Distanz herzustellen. Wir benötigen also zwei Arten von Wissen: ein absolut unbewußtes und ein absolut bewußtes. Die Distanz zwischen diesen beiden Wissensarten ist sehr dynamisch. Es gab Epochen, in denen die Menschen diese Werte, diese dynamische Distanz zwischen den zwei Formen des Wissens, sehr schätzten. Später kamen Epochen, wie beispielsweise die unsere, in denen diese Distanz zwischen den zwei Wissensformen nichts mehr bedeutete. In unserer heutigen “westlichen” Gesellschaft spielt dieser sogenannte Archaismus, dieses unbewußte Wissen, keine Rolle, und trotzdem zählt es.

EK: Denken Sie, daß dieses Wissen, wie Sie es im asiatischen Raum erlebt haben, ein Teil des zukünftigen Wissens für uns sein wird?

LK: Ich möchte nichts über die Zukunft sagen. Ich halte die ganze Konzeption, die mit diesem Begriff zusammenhängt, für problematisch. Ich bin nicht nur ein schlechter Wahrsager, sondern auch jemand, der absolut nicht glaubt, daß die Zukunft existiert, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß irgendwann alles Vorherige vorbei ist. Für mich gehören die Kategorien von Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart sehr eng zu der menschlichen Denkweise, nicht aber zur Welt. Wenn wir einmal drei, vier oder fünf Stunden lang allein in der Natur sind und ohne Bewegung dort sitzen, nur um zu beobachten, und wir betrachten dann nur ein Tal oder einen Baum oder einen Stein, dann lohnt sich das in hohem Maße, weil wir merken, wie machtlos in der Sache des Steins, des Baumes, des Tales wir sind. Die Menschen sagen, daß etwas “beginnt”, weil es hell wird, weil Licht kommt, das nennt man den “Morgen”, den Tagesanfang, und “Abend” nennt man das, was eintritt, wenn das Licht verschwindet. Danach kommt eine Zeit ohne Licht, genannt die “Nacht”, und anschließend wiederholt sich dieser ganze Vorgang. Wegen dieser eigentlich kosmischen Zirkulation, wegen der ständigen Wiederholung dieser Abläufe kamen die Menschen auf die Idee, das Phänomen zu verallgemeinern. Daraus entwickelten sie die Zeitvorstellungen, erst recht seitdem zusätzlich der Begriff von der Entwicklung der Geschichte der Menschheit aufgetaucht ist. Seither funktioniert der Zeitbegriff für uns wunderbar, weil er davon ausgeht, daß nur eine Richtung in der Welt existiert: immer nach vorne.

Natürlich gab es auf dem Weg neben uns immer auch Denker und Dichter, die dachten, daß eine Welt, die nur eine Richtung hat, keine Welt ist, daß die Realität viel größer ist als irgendein Begriff, mit dem wir etwas anfangen können. Es gab schon immer auf den Nebenstraßen solche obskuren Figuren, die dachten, daß mit dieser ganzen Einrichtung “immer nach vorne” etwas nicht stimmt. Dieses Gefühl, daß die Welt eine Richtung hätte, klingt heute problematisch, auch für mich. Denn wie könnte ein Stein auf dem Feld eine Richtung haben, wohin sollte er sich entwickeln? Sie könnten sagen, daß dieser Stein sich in Richtung auf seine eigene Zerstörung entwickelt. Denn dieser Stein lebt in einem Prozeß, in dem er (oder sie!) die eigene Form, das eigene Wesen nicht bewahren kann. Aber was passiert, wenn Sie denken, daß diese ganze Formveränderung ein absolut natürlicher Prozeß für den Stein ist? Die “Zerstörung” ist auch ein typisch menschlicher Begriff. Das ist in Ordnung, wenn wir nur an die menschliche Welt denken. Es existieren aber sehr viele Welten nebeneinander, wir alle wissen das, aber wir können es nicht artikulieren. “Das Gefühl sagt immer mehr!”, so drückte es ein sehr archaischer Dichter aus. Unsere Instinktkräfte konnten mit ihrer Sensitivität immer fühlen, daß ebenso viele Welten existieren, wie wir uns überhaupt vorstellen können. In diesem riesengroßen Universum ist unsere Welt ebenso wichtig wie jede andere, deren Grenze wir nur erreichen, aber nicht überschreiten können. Deswegen müssen wir nicht mit unserer Denkweise vorsichtiger sein, sondern mit den Generalisierungen und den Anthropomorphisierungen.

Die klassische griechische Philosophie wußte davon nichts, die klassische deutsche auch nicht. Die fernöstliche Philosophie wußte davon, etwa die politische Philosophie in China, in Japan viel später dann die Kunst. So etwas wie Philosophie gab es in Japan ohnehin nicht, da die Voraussetzungen zu einer Philosophie fehlten. Sie liegen in der Originalität des Denkens, in dem Mut, etwas ganz Neues zu entdecken. Dies war in der japanischen Kultur unmöglich, und zwar nicht wegen der fehlenden Denkfähigkeit – es gab durchaus kluge Köpfe und geniale Figuren in der japanischen Kultur – sondern aus den zivilisatorischen Verhältnissen folgten sehr strenge Regeln, die jede neue Sache verhinderten. Das Neue befand sich nicht auf der Traditionsebene und war daher nicht gestattet. Deswegen kann man in Japan so gut das Wirken der Tradition als solcher beobachten.

Nach Japan kamen die originellen Gedanken immer aus China. Als erstes kam im sechsten und siebten Jahrhundert der Buddhismus und zwar als Mahayana-Buddhismus. Das ist eine spezielle Variante, die während der frühen Tang-Zeit in China entstanden war. Bald kam auch der Konfuzianismus, der ebenfalls sofort grundlegend wichtig für die japanische Gesellschaft wurde, denn vorher, also vor dem frühen sechsten Jahrhundert, lebten die verschiedenen Stämme auf den japanischen Inseln in sehr barbarischen, fast animalischen Verhältnissen. Der Shintoismus war dann einfach eine Reaktion auf den Buddhismus. Er entstand, weil der Buddhismus von einer politischen Clique eingeführt wurde und die politischen Gegner in Japan eine eigene Ideologie brauchten, die aber gab es nirgendwo. Es gab nur einen bestimmten animistischen Glauben. Aus den verschiedenen Systemen animistischer Vorstellungen konstruierte man daraufhin eine halbwegs komplexe Gegenrichtung zum Buddhismus und nannte sie Shintoismus. Nach etwa fünfzig Jahren verschwand dieses ganze politische Problem.

Schließlich kam aus China der Taoismus, der dort eine ganz wichtige Rolle spielte. Aber nach Japan kam das taoistische Gedankengut erst spät und zwar durch die chinesische Dichtung, nicht als eine Philosophie. Aus dem Zusammmentreffen des Taoismus von Laotse mit dem Mahayana-Buddhismus entstand in Japan im zwölften und dreizehnten Jahrhundert der Zen-Buddhismus. All das war konstitutiv für die japanische Zivilisation. Die Zen (chinesisch: Chang)-Gedanken übten wohl insgesamt den größten Einfluß aus. Im Zen macht die japanische Kultur viele wichtige Aussagen über die nicht-menschliche Existenz. Vor allem auf dem Gebiet des Theaters und des Rituellen überhaupt wirkte der Zen-Buddhismus prägend in Japan. Auf unterschiedlichen Gebieten haben Zen-Künstler sich geäußert, vor allem in der Theaterkunst des Noh, in der Architektur, in der Gartenkunst, der Teezeremonie, im Ikebana.

Die Musik allerdings funktionierte als unabhängige Kunst nur in der Unterhaltungswelt der Geishas zur Edo-Zeit. Ansonsten existierte die Musik in Japan nur in Verbindung mit dem Theater, und jede Theaterform hatte ihre eigene Musikart. Zum Bugaku, einer wichtigen rituellen shintoistischen Tanzkunst, gehörte der sogenannte Gagaku. Zum Noh-Theater gehörte die Noh-Musik, und zum späteren Bunraku, dem klassischen Puppentheater, gehörte wieder eine ganz eigene Musik. Die Musik als Musik existierte in der japanischen Gesellschaft nicht. Doch es gab Feste in der Heian-Zeit, bei denen, parallel zu der Kalligraphie und verschiedenen chinesischen Tanzarten, die Aristokraten selbst musizierten.

Auch die Philosophie im westlichen Sinne gab es, wie erwähnt, in Japan nicht; so etwas entsprach nicht dem japanischen Denken. Auf diese Weise wird verständlich, daß sogar die erste eigene japanische philosophische Richtung, die erst im zwanzigsten Jahrhundert entstand, auf Ideen aus Europa basierte, nämlich auf denen Heideggers. Es gab den Heidegger-Schüler Nishida Kitano in Kyoto, und um ihn herum entstand die sogenannte Kyoto-Schule. Heidegger hatte durch Nishidas Aktivität und durch diese Schule einen unglaublich großen Einfluß in Japan. Die Philosophieschule von Kyoto existiert heute noch.

Über die außerhalb der menschlichen Existenz liegende Realität konnte die japanische Kunst insgesamt immer sehr viel mehr zeigen als sagen. Nehmen wir zum Beispiel Hasegawa Tohaku, einen genialen Maler aus dem sechzehnten Jahrhundert. Diese Zeit war der erste Höhepunkt in der japanischen Malerei, vor allem durch die sogenannte Kano-Schule. Hasegawa Tohaku, der zur Kano-Schule gehörte, aber allein arbeitete, malte einmal ein sehr eigenartiges, wunderbares Bild von Nadelbäumen im Nebel. Was man darauf sehen kann, sind zweimal sechs gleiche Teile. Auf dem Papier gibt es fast nichts. Was Hasegawa zeigt, ist die Tusche. Zunächst sieht man nur wenige Flecken, sehr fein, eher grau als schwarz. Das sieht man aus fünf Meter Entfernung. Wenn man aber weiter zurückgeht, weg vom Gemälde, sieht man, daß es sich um achtzehn oder zwanzig Kiefern in verschiedenen Gruppen handelt, Kiefern im Nebel. Dieser Nebel ist das Hauptthema. Der Nebel ist nicht abgebildet, sondern er wird ausgedrückt durch die Leere des Papiers. Wie machte der Maler das? Nun, er malte Teile der Kiefern in einer Methode des Weglassens, in einer Art Negativmethode. Er malte das Nichts!

Was ich hier tue, mit Ihnen über das Nichts und dessen Realität in Begriffen zu sprechen, das ist im Grunde unmöglich, denn die Begriffe können nur die Dinge unserer menschlichen Welt ausdrücken. Aber worüber ich jetzt sprechen möchte, das kann man nicht mit Worten ausdrücken. Klar ist, daß außer unserer menschlichen Welt auch andere Welten existieren. Dies können wir aber nur durch eine mit Gegensätzen arbeitende Methode ausdrücken.

Denken Sie etwa an Zenon und Aristoteles und an den großen Streit zwischen der zenonischen und der aristotelischen Denkweise. Aristoteles gehört zu einem rationalistischen, logischen Teil der Menschheit. Zenon ist unser chinesisch-japanischer Philosoph auf der Nebenstraße. Die Aporien des Zenon dagegen können sehr interessant beleuchten, wo das jeweilige Problem liegt. Natürlich können wir jetzt diese zenonischen Aporien leicht lösen, und auch für Aristoteles war es kein Problem, sie zu lösen. Dennoch: die zenonischen Aporien geben uns in unserer Zivilisation eine Ahnung davon, daß die gesamte Welt einerseits und die menschliche Welt andererseits absolut gleich und andererseits absolut verschieden sind. Auch darüber schrieb ich in diesem Buch. Ich wollte verschiedene Dinge berühren, nur berühren.

Ich wollte seit langer Zeit ein Buch schreiben, in dem absolut keine Menschen vorkommen. Zunächst dachte ich, ich sollte ein Buch schreiben, das sich nur mit der Natur beschäftigt. Aber da befand ich mich vor der riesigen Schwierigkeit, daß die menschliche Sprache sich immer bewegt. Eine Sprache kann absolut nicht stehenbleiben, sie bewegt sich immer. Doch wenn ich mir ein Tal vorstelle mit verschiedenen Schönheiten, mit Bäumen, mit Tieren, die gehen und kommen, dann ist das, was ich vor Augen habe, ein stehendes Bild. Die Dinge stehen, außerhalb der Zeit oder in der Zeit. Als ich dieses stehende Bild zu beschreiben begann, suchte ich etwas, das sich auch in ihm bewegte. Aber ich konnte nur einen Teil davon beschreiben, nicht das Ganze.

Später, nach meinem dritten Japanaufenthalt, wachte ich eines Morgens ganz früh auf und spürte, wie eine Hand sehr fein meine Schulter berührte. Von dieser Berührung bin ich aufgewacht. Plötzlich begann ich, dieses Buch zu schreiben, vier Tage lang, genau neunundneunzig Stunden dauerte das. Ich befand mich gerade in einem christlichen Kloster in der Schweiz. Jeder der Sätze und der ganze Text insgesamt, alles war bereits fertig in mir. Damit möchte ich sagen, daß dieses Buch nicht von mir geschrieben wurde.

Der erste Satz war der Titel. Auf ungarisch klingt er anders als auf deutsch. Statt: “Im Norden ein Berg” und so weiter, klingt das auf ungarisch so: “Északról hegy, Délröl tó, Nyugattól utak, Keletröl folyó”. Das ist eine geographische Angabe und zugleich ein Gedicht. Von da an wußte ich, wie man einen solchen Roman schreiben kann, in dem kein Mensch eine Rolle spielt. In diesem Buch gibt es wirklich keine Menschen. Prinz Genji, die Hauptfigur, ist eigentlich ein gespenstisches Etwas, ein tausendjähriger Junge. Er ist ein Symbol der Heian-Zeit, einer Periode, in der das höfische Alltagsleben so hochkultiviert war, wie eigentlich sonst nie in der Geschichte der Weltkultur. Eine Hochkultur braucht immer absolut spezielle Umstände. In der Heian-Zeit lebten in Kyoto am kaiserlichen Hofe und in seinem Umkreis etwa dreihundert Aristokraten. Eine überaus künstliche Welt war das, in der diese Hochkultur als Alltagskultur existierte, eine wirklich unglaublich elegante, hochrangige, ausgefeilte Welt. Dort lebten diese Aristokraten ein paradiesisches, sehr verfeinertes Leben, in dem jeder einzelne die ganze klassische chinesische Kultur kennen mußte. Wenn beispielsweise Sie und ich jetzt in der Heian-Zeit lebten und ich wollte Sie darum bitten, daß Sie sich mit mir heute Nacht treffen mögen, dann müßte ich, um das auszudrücken, die ganze chinesische Kultur und Dichtung kennen, und Sie müßten das auch. Für mich wäre es absolut unmöglich, direkt zu Ihnen zu gehen und zu sagen: “Bitte, schließen Sie die Tür um Mitternacht auf, denn ich möchte zu Ihnen kommen!”, sondern ich müßte aus der klassischen chinesischen Dichtung eine, zwei, drei oder vier Zeilen auswählen und sie in der schönsten Schrift aufschreiben auf einen wunderbaren Briefbogen, bei dem die Farbe, das Material auch etwas aussagten: über die Jahreszeit, über meine Seele, darüber, was ich eigentlich möchte, darüber, was ich über Ihre wunderbare Existenz denke, Ihre Form, Gestalt und so weiter. Aber Sie müßten auch die ganze chinesische Dichtung kennen, auch Kanji, also die chinesischen Schriftzeichen, was in der Heian-Zeit eigentlich für Frauen verboten war. Sie müßten antworten. Zum Beispiel: “Nein, ich hasse dich, geh weg, ich möchte dich nie sehen!” Aber wie? Sie könnten das gar nicht direkt sagen oder in einer message schicken, das wäre unmöglich. Sie müßten auch ein sehr feines Papier finden, bei dem die Farben und das Material dieses Nein ausdrücken könnten. Sie müßten andere eine, zwei, drei oder vier Zeilen finden aus einem Gedicht der klassischen chinesischen Dichtung, um in einer ganz feinen Weise zu sagen: “Nein, geh weg, laß mich in Ruhe!” Stellen Sie sich vor, in einem solchen Leben zu leben. Ich erinnere mich nicht an ein solches Alltagsleben in einer der verschiedenen Weltkulturen, obwohl wir doch einige große Epochen kennen, etwa die europäische Renaissance oder die altgriechische Zeit.

Das war nur eine Seite der Heian-Zeit, und es gab viele, viele andere. Was für mich aus der Heian-Zeit so wichtig war, ist die Tatsache, daß eine hochrangige menschliche Artikulation im Alltagsleben existierte, wo die Traditionen ihren eigenen Sinn hatten, wo alle Bewegungen absolut eng zusammengebunden waren. Es gab kein weiteres Leben hinter den Kulissen. Der ganze Raum des Lebens gehörte insgesamt zu dieser Hochkultur. Das ist etwas Großartiges, Einmaliges.

EK: Das hat Sie so fasziniert, daß Sie ausgerechnet aus diesem Ambiente eine fiktionale Kernfigur genommen und auf die Reise geschickt haben, nicht wahr?

LK: Ja, und zwar weil diese Figur besonders gut den Geist der Heian-Zeit ausdrücken kann. Diese ganze Geschichte, die hier wie ein Krimi, wie ein Suchroman oder Entdeckungsroman läuft, ist interessant und spannend, weil darin am Anfang ein Held ist, der sich einsam auf seinen Weg im heutigen Kyoto macht, um etwas sehr Geheimnisvolles zu suchen, nämlich den schönsten Garten der Welt. Die ganze Vorgeschichte ist ebenfalls spannend, die beschreibt, wie er, der Fürst, der Enkel des Prinzen Genji, sich aufmacht, diesen Garten zu finden. Die letzte Information ist, daß der Garten wirklich existiert, und zwar in einem anderen Garten. Da gibt es ein großes Inventar an Informationen über die Gartenkunst, über die Architektur, die Malerei und die Dichtung, über die Klöster, die Existenzen über den Wäldern und unter den Wäldern. Ich versuchte, diesen Garten zu beschreiben, den der Prinz in diesem Buch nicht finden konnte.

EK: Das ist die Pointe! Wieso läuft er daran vorbei? Warum bewirken Sie, daß Ihr Held diesen lange gesuchten und ersehnten Garten dann doch um ein Haar verfehlt?

LK: Das ist noch wesentlicher, als daß er ihn eigentlich nicht finden konnte.

Er geht an dem Garten vorbei, ohne ihn zu bemerken. Er ist ganz in seiner Nähe, aber das ist ein so genial entdeckter Garten, daß der Prinz daran gar nicht denken konnte. Daß er eben dort ist, hinter diesem Nichts, als das, was er die letzten paar Jahrhunderte lang so leidenschaftlich gesucht hatte! Es ist viel wichtiger, wie er das Gesuchte nicht finden kann, als daß er es nicht finden kann. Das ist überhaupt das Wichtigste: wie wir etwas nicht wissen, und nicht so sehr, daß wir etwas nicht wissen.

EK: Danke, Herr Krasznahorkai!

Szentendre, 5.12.2005

Published 23 June 2006
Original in German

© Eve-Marie Kallen, László Krasznahorkai Eurozine

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