Der neue Eurozine-Partner über die russische Mittelschicht.

Drei Artikel von Eurozines neuem Partner Neprikosnovennij Zapas behandeln das Thema der russischen Mittelschicht und werfen die Frage auf, nach welchen Kriterien man die “Mittelschicht” definieren kann.

Hat es eine Mittelschicht in der Sowjetunion gegeben? Existiert derzeit eine Mittelschicht im heutigen Russland? Eurozines neuer Partner Neprikosnovennij Zapas hat verschiedene Artikel zu dem Thema veröffentlicht, die sich mit diesen Fragen befassen. Jeder Text eröffnet verschiedene Sichtweisen zur Definition der Mittelschicht und wirft die Frage auf, wie sie kategorisiert werden soll: In einem politischen Kontext, als eine stabile Basis fuer einen demokratischen Staat? in Hinblick auf ihre wirtschaftliche Kaufkraft, oder aus einer kulturellen Perspektive betrachtet? Und schließlich: Ist die Mittelschicht ein Terminus der von Politikern und Soziologen benutzt wird, oder definiert sich die Mittelschicht selbst als solche?

Maya Turovskaya beschreibt in “The Sowiet Middle Class” den täglichen Handel von Waren, aber auch kulturellem Wissen und Informationen. Insofern als in der Sowjetunion keine Kaufkraft existierte, war die Mittelschicht nicht über ökonomische Daten zu erfassen. Sie definierte sich über ihr Interesse an Hochkultur. Der Zugang zu kulturellen Informationen war nur über bestimmte Kontakte und nachbarschaftliche Netzwerke erhältlich, da Kultur von den Eliten ebenso restriktiv gehandhabt wurde wie die Verteilung von Gebrauchsgütern, meint Turovskaya.

Der Artikel “Proposed Circumstances” von Revekka Frumkina widerspricht Turovskayas Argumenten. Zwar räumt Frumkina ein, dass Kultur durchaus notwendig war, um seine “eigene Persönlichkeit zu erhalten”. Sie glaubt jedoch nicht, dass Kultur solch ein zentrales Handelsgut darstellte. Auch Leute ohne Zugang zu Hochkultur konnten mit den richtigen Kontakten und Transaktionen ihren Platz in der Mittelschicht behaupten, argumentiert sie.

Beide Artikel eröffnen nicht nur einen persönlichen Einblick in die verschlungenen und undurchsichtigen Wege der verschiedenen Handelsketten, sondern stellen dar, wie sich in einem System, das auf ständiger Knappheit basierte, eine Mittelschicht herausbilden konnte.

Im dritten Artikel, einem Interview mit Sergei Parkhomenko, wird die Mittelschicht des heutigen Russlandes ins Visier genommen. In den letzten Jahren sei definitiv ein neues “Milieu” entstanden, so Parkhomenko. Es gäbe verschiedene Kriterien, dies zu ermitteln. Wirtschaftliche Indikatoren seien ebenso wichtig wie andere, beispielsweise kulturelle Einflüsse: Ein Anstieg der Mobilität und Reisefreiheit, größere Auswahl für Konsumenten, einfacherer Zugang zu Massenmedien, sowie die beschleunigenden Prozesse der Modernisierung und Urbanisierung hätten insgesamt den Ausblick und das Selbstverständnis der entstehenden Mittelschicht geprägt.

Parkhomenko bestreitet jedoch das Konzept einer sowjtischen Mittelschicht: Das sowjtische System sei zu rigide und reguliert in seinen Strukturen gewesen, um eine Mittelschicht in der eigentlichen Bedeutung des Wortes zuzulassen. Parkhomenko sieht die Mittelschichtvon wirtschaftlicher Freizügigkeit und Wohlstand geprägt, ergänzt auch durch soziale und räumliche Mobilität ­ alles Faktoren, die in der Sowjetunion nicht existierten.

Eine solide und verlässliche Mittelschicht sei nicht nur die Basis für eine echte Demokratie, sie wäre sogar inkompatibel mit Diktaturen, argumentiert Parkhomenko. Daraus folge ebenfalls, dass keine wirkliche Mittelschicht unter der Sowjt-Diktatur bestehen konnte, wie von Maya Turovskaya und Revekka Frumkina vertreten wird.

Wer hat recht? Was sollen die Kriterien sein, die die Mittelschicht definieren? Ist es eine romantische und gleichzeitig redundante Vorstellung von Turovskaya, die Mittelschicht anhand ihres Interesses an Hochkultur zu definieren? Überträgt Parkhomenko die akzeptierten Definition der Mittelschicht aus den kapitalistischen westlichen Demokratien ein wenig zu leichtfertig auf Russland? Oder können beide Definitionen bestehen, wenn man bedenkt, wie drastisch wirtschaftliche und soziale Veränderungen seit dem Beginn der Neunziger Jahre das Land verändert haben?

Alle drei Artikel sind jetzt bei Eurozine zu lesen.

Eurozine ed.

Maya Turovskaya
The Soviet Middle Class (en)
Maya Turovskaya examines what constituted the “Soviet middle class’ survival kit”. In a society in which even basic commodities had to be secured through a series of complex and lengthy exchanges, not luxury goods but the enjoyment of culture was at the core of the middle class identity.

Revekka Frumkina
Proposed Circumstances (en)
Revekka Frumkina investigates the point made by Maya Turovskaya in her article “The Soviet Middle Class”. Frumkina argues that while culture was a central concern, cultural status could not necessarily be conversed into commodities and services.

Sergei Parkhomenko
The Middle Class: Expenditure Structure and Self-Understanding (en)
Sergei Parkhomenko argues that a new middle class is emerging in Russia but its definition depends on much more than just economic factors. A changing self-perception plays a vital part in reshaping the economic and social structures of the Soviet Union. How will this affect the democratisation of the Russian society?

Published 31 August 2002
Original in English

© eurozine

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