Der in der Nacht vom 23. auf dem 24. August 1939 in Moskau von Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop und dem sowjetischen Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten Wjatscheslaw Molotow in Anwesenheit Stalins unterzeichnete Nichtangriffsvertrag samt Geheimem Zusatzprotokoll gehört zu den historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts, die in politischer, ideologischer und erinnerungskultureller Hinsicht die wohl weitreichendsten Folgen zeitigten. Kein anderer bilateraler Vertrag beeinflusste das Schicksal von mehr Staaten, Nationen und Minderheitengruppen in Europa, vornehmlich in Ostmitteleuropa, als der Hitler-Stalin-Pakt.
In der Diplomatiegeschichte gilt der Pakt als notwendige, wenn auch nicht einzige oder hinreichende Voraussetzung für den Beginn des Zweiten Weltkriegs, denn erst das Bannen der Gefahr einer sowjetischen Front im Osten ermöglichte Hitlers “Drittem Reich” sowohl den schnellen Sieg über Polen 1939 als auch den über Frankreich und die Benelux-Staaten 1940. In ideologiegeschichtlicher Perspektive bedeutete das rund zweijährige de facto-Bündnis zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus die Vertiefung des Bruches innerhalb der europäischen Linken, die endgültige Spaltung der Arbeiterbewegung. Mit dem Pakt nimmt zudem die Totalitarismus-Theorie ihren Anfang, welche die ideologische Frontstellung des Kalten Kriegs markierte.
Ein derart einschneidendes politisches Ereignis, das zunächst große Teile Ostmitteleuropas in eine deutsche und sowjetische Einflusssphäre teilte, nach dem Krieg aber die Staaten von Estland bis Rumänien zu einem sicherheitspolitischen Glacis der Sowjetunion machte, blieb nicht ohne Folgen für die Erinnerungskulturen der Gesellschaften Ostmitteleuropas. Denn insbesondere in denjenigen Staaten der Region, die bereits in den Jahren 1939-1941 vom Hitler-Stalin-Pakt unmittelbar betroffen waren, und die sich zusammen mit anderen nach 1945 auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs wiederfanden, wurde der Vormarsch der Roten Armee nicht allein als Befreiung von Nazi-Deutschland gedeutet und erinnert. Vielmehr stellte sich die Etablierung kommunistischer Regime – mit dem Zwischenspiel der Volksrepublikregierungen – für die Gesellschaften der meisten Staaten Ostmitteleuropas als die Ablösung der braunen Diktatur durch die rote dar. Mit gutem Grund haben Erwin Oberländer und Rolf Ahmann ihrem Buch von 1989 zu den Folgen des Hitler-Stalin-Pakts für die Region zwischen Deutschland und der UdSSR – 50 Jahre nach der Unterzeichnung 1939 – die Titelfrage vorangestellt: “Das Ende Ostmitteleuropas?” Dieser Frageperspektive liegt die Annahme zugrunde, dass die Staaten und Gesellschaften dieser Geschichtsregion ein spezifisches Gepräge haben, das nach 1939 und nach 1945 drastischen Eingriffen unterworfen war. Neben dem bekannten vollständigen oder teilweisen Verlust der staatlichen Souveränität durch Besetzung und Annexion durch das “Dritte Reich” und die Sowjetunion sowie durch die Inkorporierung in den Warschauer Pakt gilt es aber auch die Dimension der Bevölkerung zu berücksichtigen. Im Zweiten Weltkrieg wurden durch den Holocaust diejenigen jüdischen Gemeinschaften vernichtet, die in vielfacher Weise die Textur Ostmitteleuropas geprägt hatten. Ebenso charakteristisch war der deutsche Bevölkerungsanteil, welcher der Region gegen Ende des Kriegs durch Flucht und in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch Vertreibung verlustig ging. Durch die Kriegsführung, die Praxis der Besatzungsregime sowie die territorialen Nachkriegsregelungen waren nicht zuletzt die baltischen, slawischen und finnougrisch- wie rumänischsprachigen Titularnationen der Geschichtsregion durch Massenmorde, Vertreibungen und Deportationen betroffen. Bereits in der politischen Emigration sowie in der Untergrundpresse insbesondere der polnischen und baltischen Dissidenten wurde der Hitler-Stalin-Pakt im Zusammenhang mit der verlorenen Souveränität diskutiert – eine Debatte, die seit der politischen Lockerung in Gorbatschows Perestroika größere und offen sichtbare Formen annahm. Nun wurde mit völkerrechtlichen und historischen Argumenten die Beseitigung der Folgen des Hitler-Stalin-Pakts mit dem Ziel der Wiederherstellung der Staatenwelt Ostmitteleuropas aus der Zwischenkriegszeit gefordert.
Historische Deutungen des Hitler-Stalin-Pakts
Die “Entfesselung des Krieges” ist in einer Reihe von Dokumentenbänden, Monographien und Aufsätzen bis in die kleinsten Details erfasst und behandelt worden. Bei der Analyse von Motiven, Kräfteverhältnissen und Verträgen bis zum 1. September 1939 spielt der Hitler-Stalin-Pakt eine herausragende Rolle als Knotenpunkt teils konvergierender, teils widerstrebender Interessen und Strategien des “Dritten Reichs” und der Sowjetunion. Die zentrale Forschungsfrage blieb über Jahrzehnte hinweg, wie es im August 1939 zu dem spektakulären Nichtangriffsvertrag zwischen zwei Staaten gekommen war, welche die Ideologie des Vertragspartners zuvor mit großem propagandistischen Aufwand als “die wütendste Offensive des Kapitals gegen die werktätigen Massen” respektive als “jüdisch-internationalen Bolschewismus” und “Inkarnation des menschlichen Zerstörungstriebs” verdammt hatte.
Mit Blick auf die Genese des Hitler-Stalin-Pakts dominierte in der Historiographie bis in die 1970er Jahre ein Erklärungsmuster, das allgemein der Totalitarismus-Theorie verpflichtet war und bezüglich der Außenpolitik aus reiner Diplomatiegeschichte bestand. Die Grundlage der Argumentation bildete der Verweis auf den Status Deutschlands und der Sowjetunion als revisionistische Mächte in der Zwischenkriegszeit. Das gemeinsame Interesse Berlins und Moskaus, die im Ersten Weltkrieg und den Friedensverträgen von Brest-Litovsk 1918 und Versailles 1919 verlorenen Gebiete ebenso wiederzuerlangen, wie ihren Großmachtstatus in politischer, wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht, habe zu einer strukturellen Affinität der beiden Staaten geführt. Die ideologischen Unvereinbarkeiten zwischen der demokratischen Weimarer Republik und dem nationalsozialistischen “Dritten Reich” einerseits sowie der kommunistischen Sowjetunion andererseits seien durch die Vorteile eines deutsch-sowjetischen Zusammengehens in den Hintergrund gerückt. Wichtige Elemente dieses Erklärungsmusters sind die Verträge von Rapallo 1922 und Berlin 1926, in denen die beiden Staaten sich gegenseitig anerkannten, diplomatische Beziehungen aufnahmen sowie eine weitreichende militärische und wirtschaftliche Zusammenarbeit vereinbarten. Diese “realistische” Analyse bilateraler Beziehungen, methodisch der traditionellen Diplomatiegeschichte verpflichtet, identifizierte dominante Akteure, klare Interessen und deren Konvergenzen, so dass der Hitler-Stalin-Pakt zu einem geradezu folgerichtig eintretenden Ereignis wird. Im Einklang mit dem seit den 1950er Jahren erkenntnisleitenden Ansatz der Totalitarismus-Theorie für die Analyse des sowjetischen Systems wurden auch in der Außenpolitik die Führerfiguren samt ihrer “weltanschaulichen Triebkräfte” privilegiert betrachtet. Frühe Äußerungen Hitlers, Lenins und Stalins wurden von diesen Autoren oft als alleinige Grundlagen der späteren nationalsozialistischen und sowjetischen Außenpolitik herangezogen.
In den 1980er Jahren erlebte dieses Erklärungsmuster deutsch-sowjetischer Beziehungen als Argument Ernst Noltes im deutschen Historikerstreit eine Revitalisierung. Danach war der nationalsozialistische Gedanke der Vernichtung von Großgruppen eine Imitation des bolschewistischen Klassenkampfes, ja die Antwort auf diese Bedrohung Deutschlands seitens der Sowjetunion. Diese These, ebenso wie die in den 1990er Jahren formulierte, der Krieg des “Dritten Reichs” gegen die Sowjetunion sei ein Präventivkrieg gewesen, kann ungeachtet gelegentlichen Wiederaufflackerns vor allem in Russland, Belarus und der Ukraine als widerlegt gelten.
Das zweite Erklärungsmuster für die Entstehungsgeschichte des Hitler-Stalin-Pakts zeichnet sich allgemein durch den Verzicht auf einfache Antworten aus. Ohne die Prämissen des ersten Ansatzes – insbesondere den Revisionismus Berlins und Moskaus – gänzlich zu verwerfen, verweisen viele Autoren auf Schwachstellen der Argumentation: Sie sei teleologisch, vom August 1939 rückwirkend erklärend aufgebaut, würde auf internationaler Ebene zu wenige Akteure berücksichtigen und methodisch in der traditionellen Diplomatiegeschichte verankert sein. Die Historiographie zum Hitler-Stalin-Pakt hat grundsätzlich das Problem zu bewältigen, dass die Quellenlage bezüglich der wichtigsten Akteure sehr ungleichgewichtig war und ist. Während die Akten der britischen, französischen und deutschen Seite, ergänzt um Tagebücher, Erinnerungen etc. der Zentralpersonen, in immer größerer Dichte ediert wurden, war dies für die sowjetische Seite bis vor kurzem nicht der Fall. Auch die sowjetische Historiographie beharrte bis in die Zeit der Perestroika hinein auf einer kanonisierten Darstellung des Hitler-Stalin-Pakts, wie sie bereits Ende der 1930er Jahre geschaffen und im Wesentlichen nur noch tradiert wurde. Der Kern dieser Argumentation war die Leugnung der Existenz eines Geheimen Zusatzprotokolls, so dass der Pakt als Nichtangriffsvertrag mit friedlichen Absichten seitens Moskaus dargestellt werden konnte, in den die Sowjetunion im Übrigen durch die schwachbrüstige Appeasement-Politik der Westmächte getrieben worden sei. Stalin habe so “Zeit erkaufen” müssen, um sich auf den bevorstehenden deutschen Angriff vorzubereiten zu können – mit Erfolg, wie der “Sieg im Großen Vaterländischen Krieg” belege.
Die Verbesserung der Quellenlage wurde von der westlichen Historiographie – selbst wenn sie, wie Reinhold H. Webers Studie zur Entstehungsgeschichte des Hitler-Stalin-Pakts, im Wesentlichen Diplomatiegeschichte blieb – für umfassende, multiperspektivische Synthesen genutzt. Neben Berlin und Moskau werden hier systematisch auch Paris und London, manche ihnen nahestehenden anti-revisionistischen Staaten Ostmitteleuropas, wie Polen und Rumänien sowie zuweilen das revisionistische Italien und Ungarn analysiert. Insbesondere im zeitlichen Umfeld des 50. Jahrestags der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts 1989 erschienen zahlreiche Sammelbände, in denen auf der Ereignisebene neben den Signatarstaaten und den Großmächten alle ostmitteleuropäischen Staaten analysiert wurden. Hervorzuheben ist in diesem Kontext der bereits im Titel nach dem Ende Ostmitteleuropas fragende Sammelband, dessen Konzeption auf Vorarbeiten Rolf Ahmanns über den Charakter des Hitler-Stalin-Pakts als Noch-Nichtangriffs- oder als Angriffspakt beruht. Die westliche Forschung zu außenpolitischen Aspekten des “Dritten Reichs” sowie der Sowjetunion profitierte weiterhin durch sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Impulse sowie Studien des nationalsozialistischen politischen Systems. In diesem Bereich hat sich Charakterisierung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems als Polyarchie durchgesetzt, in der verschiedene Akteursgruppen um die Durchsetzung ihrer Vorstellungen bei Adolf Hitler konkurrierten. Diese Ausweitung relevanter Akteure bei der Formulierung und Umsetzung außenpolitischer Programme ist systematisch als Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik in ihren diplomatischen, militärischen sowie außenwirtschaftlichen und auslandskulturellen Ebenen zu sehen. Deutlich profitiert von den genannten Erkenntnisfortschritten bezüglich NS-Deutschlands hat die Studie Bianka Pietrows zum “Dritten Reich” in der Konzeption der sowjetischen Außenpolitik zwischen 1933 und 1941. Implizit stellt Pietrow das sowjetische politische System der 1930er Jahren als Polyarchie dar, fragt weiterhin nach den innenpolitischen Determinanten außenpolitischen Handelns sowie nach dem sich wandelnden Sicherheitsbegriff vor dem Hintergrund der Faschismus- und Imperialismusdefinition in der Komintern und im Kreml.
Das zentrale Thema dieses zweiten Erklärungsmusters ist das System der kollektiven Sicherheit sowie dessen Niedergang in den 1930er Jahren. Schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung deutete sich an, dass sich die anti-revisionistischen Staaten Ostmitteleuropas auf ihre Bündnispartner England und Frankreich nicht unbegrenzt verlassen konnten, dass London und Paris einer begrenzten Revision der territorialen Nachkriegsordnung gegenüber nichts Substantielles entgegensetzen wollten oder konnten. Während Frankreich – hinter der Maginot-Linie verschanzt – seine anti-revisionistische Linie militärisch nicht untermauern konnte, setze Englands Außenpolitik auf eine general settlement genannte Verständigung der europäischen Großmächte unter Ausschluss der Sowjetunion. Die entscheidenden Daten dieser Appeasement-Politik gegenüber Deutschland waren die Remilitarisierung des Rheinlands (1936) sowie das Jahr 1938, in dem zunächst Österreich in das Deutsche Reich eingegliedert wurde, dann mit den sudetendeutschen Gebieten mit Zustimmung von London, Paris und Rom im Münchner Abkommen ebenso verfahren wurde, bevor die Tschechoslowakei entgegen der Versprechungen Hitlers endgültig zerschlagen wurde.
Für die unmittelbare Entstehungsgeschichte des Hitler-Stalin-Pakts des Jahres 1939 waren in der Historiographie Fragen forschungsleitend, wie diejenigen danach, von wem die Initiative ausging, welche Motivation die Verhandlungen begonnen, betrieben und zu Ende geführt wurden sowie welcher der Signatarstaaten kurz- und mittelfristig größeren Nutzen resp. Schaden aus dem Pakt hatte. Spätestens in der Publikationswelle um 1990 hat sich bezüglich dieser Fragen ein Konsens herausgebildet, der in späteren Publikationen nicht mehr grundlegend hinterfragt wurde. Dazu haben signifikant auch russische Historiker beigetragen, die seit der Perestroika-Zeit insbesondere die Genese des Pakts, die zwei Jahre des deutsch-sowjetischen Bündnisses 1939-1941 sowie Stalins Rolle für die verheerenden Niederlagen der sowjetischen Streitkräfte in den ersten Monaten des “Unternehmens Barbarossa” analysiert haben. Zahlreiche dieser Studien liegen im Deutschen vor. Unbestritten ist, dass die deutsche und sowjetische Seite gleichermaßen seit dem Frühjahr 1939 zahlreiche, tastend-vorsichtige diplomatische Gesprächskontakte suchten. Davon unbenommen blieben alternative Strategien wiederum auf beiden Seiten, etwa deutsche Verständigungsversuche mit England und Polen oder anglo-französisch-sowjetische Paktverhandlungen noch bis in den August 1939 hinein. Nicht durchsetzen konnte sich die These Ingeborg Fleischhauers, wonach traditionell russlandfreundliche und dem Widerstand nahestehende Kreise im Auswärtigen Amt in den Verhandlungen zum Hitler-Stalin-Pakt versucht hätten, das Schlimmste, namentlich einen Krieg des “Dritten Reichs” mit der Sowjetunion, zu verhindern. Ebenfalls unstrittig ist die Einschätzung der deutschen und sowjetischen Motive für den Pakt, die nicht mehr in langen Traditionen oder in der ideologischen Kompatibilität zweier totalitärer Regime gesucht werden. Vielmehr wird zum Einen die Ergebnisoffenheit der Annäherungsbewegungen in Richtung Pakt betont, und zum Anderen die innen- und sicherheitspolitischen Bedingungen der sowjetischen Seite nach den “Großen Säuberungen” 1938 nicht zuletzt in den Rängen der Roten Armee. Mit Verweis auf das geringe Offensivpotential der sowjetischen Streitkräfte nach diesen Säuberungen ist eine Variante der Präventivkriegsthese in der sog. Eisbrecher-Kontroverse überzeugend zurückgewiesen worden, wonach der deutsche Überfall auf die Sowjetunion einem 1941 unmittelbar bevorstehenden Angriff der Roten Armee lediglich zuvorgekommen sei. Ausgelöst wurde die vornehmlich in der englischsprachigen Forschung ausgetragene Kontroverse von Vladimir B. Rezun, einem 1978 in den Westen geflohenen sowjetischen Geheimdienstmitarbeiter, der unter dem Pseudonym “Victor Suvorov” seit 1985 diese These vertrat. Für die englischsprachige Historiographie zum Hitler-Stalin Pakt und den deutsch-sowjetischen Beziehungen ist auf die Werke Geoffrey Roberts’ und des israelischen Historikers Gabriel Gorodetsky zu verweisen.
Weiterhin ein weißer Fleck in der internationalen zeithistorischen Forschung ist die unmittelbare Kooperation deutscher und sowjetischer Stellen in der Besatzungspolitik im geteilten Polen. Leidlich bekannt ist, dass die Wehrmacht im Zuge der Übergabe der heute belarussischen Stadt Brest an die Rote Armee mit dieser am 22. September 1939 eine gemeinsame Parade abgehalten hat, welche die Panzertruppenkommandeure Heinz Guderian und Semën M. Krivosein abnahmen. Wesentlich weniger bekannt ist über die Besatzungsgrenzen überschreitende Zusammenarbeit der Gestapo mit ihrem sowjetischen Pendant, dem Inlandsgeheimdienst innerhalb des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD). Roger Moorhouse, Autor der aktuellen Darstellung The Devil’s Alliance. Hitler’s Pact with Stalin, 1939-1941, hat diesbezüglich auf das gemeinsame Ziel der Ausrottung der politischen, militärischen und administrativen Eliten Polens sowie auf die zeitliche Parallelität der deutschen “AB-Aktion” (“Außerordentliche Befriedung”), im Zuge derer zwischen 6.000 und 8.000 Polen ermordet wurden, und des sowjetischen Massakers an ca. 25.000 polnischen Offizieren in Katyn’ und anderen Orten in der Sowjetunion verwiesen. Fotographisch gut belegt ist überdies der Besuch des vormaligen sowjetischen Volkskommissars für Auswärtige Angelegenheiten Maksim M. Litvinov und des stellvertretenden NKWD-Chefs General Ivan I. Maslennikov im Dezember 1939 im so genannten Generalgouvernement, wo sie sich auf dem Wawel in Krakau mit Generalgouverneur Hans Frank und SS-Gruppenführer Arthur Seyss-Inquart sowie im Kurort Zakopane in der Tatra mit dem Gouverneur des Distrikts Krakau, Otto Wächter, und hochrangigen Gestapo- und SS-Kommandeuren zu Koordinierungsgesprächen trafen. Weitere Treffen auf ähnlichem Niveau fanden auch 1940 in Krakau und Zakopane statt, zuvor überdies in Brest und Przemysl, wohingegen ein Treffen zwischen dem Reichsführer SS Heinrich Himmler und NKWD-Chef Lavrentij P. Berija im Februar 1940 in Ostpreußen zur Koordinierung des Vorgehens gegen die polnische Heimatarmee zwar durch einen Zeitzeugenbericht, aber nicht durch Akten belegt werden kann. Überdies gab es eine eingeschliffene Routine bei der Überstellung deutscher und österreichischer Kommunisten durch die sowjetische Seite an die deutsche entlang der quer durch Polen laufenden Demarkationslinie der Besatzungsgebiete.
Die im Hitler-Stalin-Pakt sowie im Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag Ende September 1939 vereinbarten Demarkationslinien sind bis zum heutigen Tag völkerrechtlich relevant: Sie sind die Grenzen zwischen Polen und der Ukraine sowie Belarus, was die Erinnerungskulturen der entsprechenden Länder stark prägt.
Europäische Erinnerungskulturen und aktuelle Kontroversen
Die erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Dimensionen des Hitler-Stalin-Pakts spiegeln sich bereits in seiner Bezeichnung wieder, die seit der Unterzeichnung sowohl in zeitlicher, als auch in geschichtsregionaler Hinsicht in aufschlussreicher Varianz verwendet wurde. Es lassen sich drei Typen der Bezeichnung des Pakts identifizieren.
Die erste besteht aus der Bezeichnung des Pakts wie er von den Signatarstaaten selbst vorgenommen wurde: Deutsch-sowjetischer Nichtangriffsvertrag. Die Verwendung dieser Titulatur ist im Bereich der Diplomatie in allen Ländern im Kontext des Zweiten Weltkriegs (1939-1947) zu finden, mit den signifikanten Ausnahmen der USA, Großbritanniens und Frankreichs, wo Teile der Presse in kritischer Absicht bereits die Begriffe “Deutsch-sowjetischer Pakt” oder “Hitler-Stalin-Pakt” verwandten. Im Kalten Krieg (1947-1989) wurde die diplomatische Titulatur des Pakts nur noch in der Sowjetunion sowie in den ostmitteleuropäischen Staaten des Warschauer Pakts verwendet. Sowjetischerseits implizierte dies zum Einen die Deutung des Pakts als friedlicher, defensiver Nichtangriffsvertrag und zum Anderen die Leugnung der Existenz des Geheimen Zusatzprotokolls.
Der zweite Typus der Paktbezeichnung – Molotow-Ribbentrop-Pakt – ist die in Ostmitteleuropa gegenwärtig am häufigsten anzutreffende. Sie nimmt ihren Anfang in Kreisen der politischen ostmitteleuropäischen Emigration seit 1939 und verstärkt nach 1945/47. Diese Bezeichnung entwickelte sich in Kreisen der ostmitteleuropäischen und russischen Dissidenz während des Kalten Kriegs geradezu zu einem Kampfbegriff gegen das kommunistische System und die Sowjetunion. Der Begriff “Pakt” war dabei der sprachliche Ausdruck für die Forderung der Dissidenten an die Regierung und die Sowjetunion, die Motive des Pakts offen zu diskutieren, die Existenz des Geheimen Zusatzprotokolls zuzugeben und es zu veröffentlichen. Mit der Nennung der unterzeichnenden Außenminister der beiden Signatarstaaten stellt dieser Typus die mittlere Kategorie auf einem Kontinuum von diplomatisch korrekter und ideologisch aufgeladener Bezeichnung dar, denn es werden weder die Diktatoren, noch die Systeme direkt benannt. An der Bezeichnung “Deutsch-sowjetischer Nichtangriffsvertrag” halten heute nur Kreise in der Russländischen Föderation, in der Ukraine und Belarus fest, für die das Andenken an den “Großen Vaterländischen Krieg 1941-1945” identitätsstiftend ist. Mit dieser Periodisierung werden der Pakt mit dem ideologischen Todfeind, die koordinierte militärische Aggression gegen Polen, dessen einvernehmliche Teilung sowie die beträchtliche Wirtschaftshilfe der UdSSR an NS-Deutschland der Jahre 1939-1941 bewusst hinausdefiniert.
Der dritte Typus der Paktbezeichnung – Hitler-Stalin-Pakt und Nazi-Soviet Pact – ist ein Produkt des Kalten Kriegs in der westdeutschen und angelsächsischen Historiographie und Publizistik. Im Koselleckschen Sinne sind diese Bezeichnungen “asymmetrische Gegenbegriffe” zum Terminus “Nichtangriffsvertrag” sowie zum Regimetypus Demokratie einzuschätzen. Die Begriffe stellen den diktatorischen, totalitären Charakter der Signatarstaaten “Drittes Reich” und Sowjetunion in den Mittelpunkt, und die deutsche Bezeichnung “Hitler-Stalin-Pakt” betont dies zusätzlich durch die Personifizierung auf die beiden Diktatoren. Mit Verweis auf die territorialen Absprachen zu Lasten mehrerer ostmitteleuropäischer Staaten im Geheimen Zusatzprotokoll wird der Bedeutungsgehalt von “Nichtangriffsvertrag” angezweifelt.
Einen Sonderfall stellt die in der polnischen Opposition gegen das kommunistische System verbreitete Bezeichnung des Pakts als “Vierte Teilung Polens” dar – nach den russländisch-preußisch(-habsburgischen) Teilungen von 1772, 1793 und 1795. Sie durchbricht das hier vorgeschlagene System zur Ordnung der Begriffsanwendungsgeschichte des Pakts, da mit den Teilungen Polens auf die Jahrhunderte lange russisch-polnische sowie preußisch/deutsch-polnische Konfliktgeschichte rekurriert wird. In dieser Lesart wäre der Hitler-Stalin-Pakt nur deren letzte Ausprägung, während die besondere ideologische und politische Konstellation in den Hintergrund tritt.
Gewicht und Inhalt des europäischen Erinnerungsortes “Hitler-Stalin-Pakt” werden also in den verschiedenen Teilen Europas ganz unterschiedlich bemessen und interpretiert. Im westlichen Europa sowie der USA ist der 23. August 1939 als Datum der Aufteilung des östlichen Europa in eine nationalsozialistische und eine sowjetische Hälfte in staatlicher Geschichtspolitik wie öffentlich-zivilgesellschaftlicher Erinnerungskultur so gut wie nicht präsent. Vielmehr ist er überlagert von der Erinnerung an das Kriegsbündnis der “Großen Drei”, vom Gedenken an den gemeinsamen Kampf der Mächte der Anti-Hitler-Koalition gegen das “Dritte Reich”, an den D-Day 1944 und den VE-Day 1945, desgleichen vom Holocaust. Im wiedervereinigten Deutschland sind der Hitler-Stalin-Pakt und die gemeinsame deutsch-sowjetische Unterjochung Ostmitteleuropas von 1939 bis 1941 lediglich eine blasse Erinnerung, die weitgehend überlagert wird vom Geschehen der Jahre 1941 bis 1945, d.h. vom “Vernichtungskrieg im Osten”, von “Auschwitz”, “Bombenkrieg”, “Flucht und Vertreibung”, schließlich vom “8. Mai” als Symbol für Niederlage, “Zusammenbruch”, “Besatzung” und “Teilung”, später auch für “Befreiung” von einem tyrannischen Regime und im Westen Deutschlands für Demokratisierung und wirtschaftlichen Wiederaufschwung.
Gänzlich anders die Situation in Polen, den baltischen Staaten und anderen Teilen des östlichen Mitteleuropa: Hier ist der Hitler-Stalin-Pakt in der staatlichen, parteipolitischen, medialen, kirchlichen, zivilgesellschaftlichen, familiären und individuellen Erinnerungskultur ein zentraler Orientierungspunkt, der Anfang vom Ende einer kurzen, da erst 1918 einsetzenden “goldenen Zeit” nationaler Unabhängigkeit, politischer Selbstbestimmung und kultureller Entfaltung. In polnischer Perspektive etwa nehmen sich der deutsche Angriff vom 1. September und der sowjetische Einmarsch von 17. September 1939 als zwei Seiten ein und derselben Medaille aus und stehen für den Beginn eines “doppelten” fremden und grausamen Besatzungsregimes. Ja, mit zunehmendem zeitlichem Abstand nimmt aus polnischer Sicht der Einmarsch der Roten Armee gegenüber dem Überfall durch die Wehrmacht an Bedeutung zu. So merkte der polnische Zeithistoriker Jerzy Kochanowski 2009 in einem Aufsatz über den Kriegsbeginn in der polnischen Erinnerungskultur der unmittelbaren Nach-“Wende”-Zeit an: “Der ‘deutsche’ Teil der polnischen Geschichte des Zweiten Weltkriegs wurde in einem solchen Maße in den Hintergrund geschoben, dass man den Eindruck gewinnen konnte, der Krieg habe nicht am 1. September 1939 begonnen, sondern siebzehn Tage später.”
Dass sich der 1939 beginnende Besatzungsterror im Verlaufe des Jahres 1941 von einem deutsch-sowjetischen in einen rein deutsches wandelte, fällt in dieser Perspektive wenig ins Gewicht. Ein anderer polnischer Zeithistoriker, Marek Kornat, hat diese Sichtweise wie folgt beschrieben: “Die Ereigniskette Hitler-Stalin-Pakt – deutscher Überfall und sowjetische Aggression – Massendeportationen polnischer Staatsbürger aus den Ostgebieten in die UdSSR – Ermordung polnischer Offiziere in Katyn und andernorts erschien als eine einzige tragische Abfolge historischer Ereignisse, die sich tief in das kollektive Gedächtnis der Polen einprägte.” Aber auch die militärische Wendung des Blattes von 1944, als die Rote Armee das nationalsozialistische Terror- und Besatzungsregime verdrängte, wird in Polen nur bedingt als Zäsur wahrgenommen wird. Als eigentlicher Einschnitt werden die Beschlüsse der Konferenz der Großen Drei in Jalta im Februar 1945 aufgefasst, als Polen dem sowjetischen Hegemonialbereich zugeschlagen und im Anschluss eine polnisch-stalinistische Diktatur errichtet wurde. Kornat hat dies in folgende Formel gefasst: “Der Hitler-Stalin-Pakt, Katyn und Jalta sind drei der für Polen wichtigsten Erinnerungsorte des Zweiten Weltkriegs – natürlich neben dem September 1939 und dem Warschauer Aufstand von 1944. Der deutsch-sowjetische Vertrag liegt allem zugrunde, was später kam. In der polnischen Erinnerung bleibt der Hitler-Stalin-Pakt das Ereignis, mit dem der Zweite Weltkrieg begann […]” und das in der 45jährigen Vorherrschaft der UdSSR über Polen resultierte, die als “zweites Okkupationsregime” nach dem nationalsozialistischen gedeutet wurde.
Fast noch negativer ist die Erinnerung an den 23. August 1939 in den drei baltischen Staaten, gilt doch hier dieses Datum nicht nur als Auftakt zur Zwangssowjetisierung, sondern zugleich zum Verlust der Eigenstaatlichkeit auf lange Jahrzehnte hinaus. Ein baltischer Erinnerungsort an sich ist bereits die Erinnerung an die noch zu Zeiten sowjetischer Repression erfolgten Proteste am jeweiligen Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts während der Perestroika 1987 und 1988 sowie vor allem zum 50. Jahrestag 1989, als über eine Mio. Esten, Letten und Litauer eine 600 Kilometer lange Menschenkette von Tallinn über Riga nach Vilnius bildeten.
In der Russländischen Föderation und anderen GUS-Staaten wird das sowjetisch-deutsche Teilungsbündnis entweder verdrängt oder rabulistisch relativiert. In der Sowjetunion wurde die Existenz des Geheimen Zusatzprotokolls zum Nichtangriffspakt mit seiner “Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa” bis zum August 1988 geleugnet, ehe der estnische Zeithistoriker Heino Arumäe den Protokolltext erstmals vollständig veröffentlichte. Im Juli des Folgejahres rückte der damalige Parteichef Michail Gorbatschow von der sowjetischen Formel ab, die Echtheit des Protokolls sei nicht erwiesen, und am 24. Dezember 1989 rang sich der Kongress der Volksdeputierten zu einer Anerkennung von Existenz und Authentizität des Zusatzprotokolls sowie zu einer Verurteilung seines Inhalts durch. Zwar führte die Öffnung der sowjetischen Archive unter Präsident Boris Jelzin zu einer selbstkritischeren Sicht auf die bilateral koordinierte Okkupation Polens von 1939 bis 1941, gar zur Thematisierung sowjetischer Massenverbrechen wie dem an gefangenen polnischen Offizieren von Katyn im Frühjahr 1940. Allerdings fand dies in der weiterhin staatlich dominierten Erinnerungskultur der neuen Russländischen Föderation kaum Niederschlag. Die Teilrehabilitierung der sowjetischen Vergangenheit im Allgemeinen und Stalins im Besonderen unter Jelzins Nachfolger Wladimir Putin ist der Grund dafür, dass der Hitler-Stalin-Pakt – wie bereits vor 1989 – als bloßes taktisches Manöver sowjetischer Sicherheitspolitik und als ein Schritt gilt, welcher aufgrund der Appeasement-Politik der Westmächte im Herbst 1938 in München gleichsam alternativlos war. Ein besonders pikantes Beispiel dieser historiographischen Rolle rückwärts der russischen Historiographie seit Putin ist ein Text von Alexander Tschubarjan in einem 2014 erschienenen gemeinsamen Band des Instituts für Zeitgeschichte München/Berlin, dem Institut für Allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften sowie dem Bundesarchiv. Als Doyen der Diplomatiegeschichte der 1930er und 1940er Jahre und als Mitherausgeber des Bandes, der doch offensichtlich die Wiederannäherung zwischen Deutschland und Russland befördern soll, ist es Tschubarjans wichtigstes Anliegen jegliches Vergleichen zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion als vollkommen abwegig zu darzustellen. Man muss jedoch nicht die in der Tat wenig überzeugende Totalitarismustheorie bemühen, um auf die Idee einer politischen und militärischen Partnerschaft zwischen den Signatarstaaten des Hitler-Stalin-Pakts bis in den Juni 1941 zu kommen. Es gleicht schließlich einer Diskreditierung des gemeinsamen Bandes durch seinen Mitherausgeber wenn Tschubarjans letzter Satz wie folgt lautet: “Die Tendenz hin zum Vergleich des Nazismus in Deutschland mit dem politischen System der Sowjetunion ist auch in einigen Artikeln unseres Geschichtsbuches spürbar”.
Jüngste Äußerungen Putins zum Hitler-Stalin-Pakt in einem Gespräch mit jungen Historikern unter der Ägide der Akademie der Wissenschaften im November 2014 verdienen ganz besondere Aufmerksamkeit. Er treibt die Normalisierung des Paktes weiter voran, indem er darauf hinweist, solche Abkommen seien zu der Zeit gängige außenpolitische Praxis gewesen. Vor dem Hintergrund der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim sowie der Destabilisierung der östlichen Ukraine mittels verdeckter Operationen und hybrider Kriegsführung russischer Truppen sind die Befürchtungen in der Ukraine, aber auch in den baltischen Staaten kaum von der Hand zu weisen, dass Moskau gegenwärtig an die in den späten 1930er Jahre angeblich gängige diplomatische und völkerrechtliche Praxis anknüpft, Einflusssphären verdünnter staatlicher Souveränität zu definieren.
Die offiziösen Erinnerungskulturen von Belarus’ und der Ukraine – Sowjetrepubliken, die von der zwischen Berlin und Moskau seinerzeit vereinbarten und 1944 dann rekonstruierten Westerweiterung der UdSSR territorial erheblich profitierten, an den Hitler-Stalin-Pakt glichen bis Anfang 2014 derjenigen Russlands. Selbst die zynische sowjetische Formel vom “Goldenen September” ist hier noch mitunter zu finden – “golden” eben aufgrund der am 17. September 1939 mittels Einverleibung der Osthälfte Polens erfolgten Gebietsexpansion, welche als “Schutzmaßnahme für die in ihren Minderheitenrechten bedrohten Ukrainer und Weißrussen”, gar als “Wiedervereinigung” deklariert wurde. Im ukrainischen Fall ist der Bezug auf den Hitler-Stalin-Pakt zugleich Teil der Debatte darüber, ob in Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft und Schulbüchern die postsowjetisch modifizierte Vorstellung eines von 1941 bis 1945 vor allem auf dem Gebiet der heutigen Ukraine stattfindenden “Großen Vaterländischen Kriegs” – jetzt mit der Ukraine statt der UdSSR als Vaterland – proklamiert werden soll oder nicht eher diejenige eines 1939 beginnenden “Zweiten Weltkriegs”, gar die eines “Deutsch-sowjetischen Kriegs” auf dem Territorium der Ukraine, aber ohne aktive ukrainische Beteiligung. Eine abschließende Antwort auf die Frage, ob die Eingliederung von Lemberg und Czernowitz in die Ukrainische SSR 1939 als verbrecherischer Akt Stalins oder nicht doch eher als das Ende polnischer und rumänischer Okkupation westukrainischer Gebiete zu werten sei, steht seitens des offiziellen Kiew noch aus.
Ungeahnte Aktualität gewann die Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt auf gesamteuropäischer Ebene im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union um acht Staaten Ostmitteleuropas im Jahr 2004. Der Einzug von Abgeordneten aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Tschechischen Republik, der Slowakei, Ungarns und Sloweniens in das Europäische Parlament löste eine mehrjährigen Grundsatzdebatte über die Deutung des 20. Jahrhunderts aus. Die Genfer Politikwissenschaftlerin Annabelle Littoz-Monnet verortet dabei die Trennlinie zwischen den im Parlament vertretenen Geschichtspolitikern der “alten” EU und denjenigen der neuen Mitgliedsstaaten zwischen zwei Standpunkten, die sie als “Holocaust as Unique” und “Hitler and Stalin as equally Evil” bezeichnet. Die engagierten und teilweise heftigen Diskussionen der Europaparlamentarier resultierten 2009 in einem Kompromiss, den man auf den Nenner “Totalitarismus ist schlecht” bringen könnte. In einer “Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus” wurde eine bereits 2008 von Parlament erhobene Forderung zur Ausrufung des 23. August zum “europaweiten Gedenktag an die Opfer aller totalitären und autoritären Regime” bekräftigt.. Während dieser neue Gedenktag in Polen und den baltische Staaten alljährlich begangen wird und auch in Schweden, Irland und Malta Aufmerksamkeit findet, wird er nicht nur in Frankreich, Italien und Großbritannien, sondern sogar in Deutschland, dem Signatarstaat des Hitler-Stalin-Pakts, ignoriert.